Wahrheit oder Pflicht: Nachbetrachtung zum grünen Mitgliederentscheid

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Eine Beson­der­heit des grü­nen Bun­des­tags­wahl­kampfs 2013 war der Mit­glie­der­ent­scheid (kurz ). Nach dem Beschluss des Wahl­pro­gramms durch die Bun­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz waren alle Mit­glie­der der Par­tei auf­ge­ru­fen, in einer Mischung aus Online-Debat­te und Off­line-Abstim­mung zu ent­schei­den, wel­che der 58 Schlüs­sel­pro­jek­te aus dem Wahl­pro­gramm zen­tral für den Wahl­kampf sein sol­len (sie­he dazu auch Blen­ded Par­ti­ci­pa­ti­on: Grü­ner Mit­glie­der­ent­scheid gestar­tet, Eini­ge Kenn­zah­len zum grü­nen Mit­glie­der­ent­scheid und Nach dem Mit­glie­der­ent­scheid).

Ich schrieb im Mai 2013, dass es drei Kri­te­ri­en sind, an denen sich der Erfolg des Mit­glie­der­ent­scheids bewer­ten lässt: 1. die Mobi­li­sie­rungs­wir­kung, also die Fra­ge, wie vie­le Mit­glie­der an den Debat­ten teil­neh­men, wie hoch die Betei­li­gung am Ent­scheid ist, und wel­ches Echo die gewähl­ten Pro­jek­te ent­fal­ten; 2. die Sicht­bar­keit, ob es also gelingt, den Mit­glie­der­ent­scheid öffent­lich sicht­bar zu machen, und 3. die par­ti­zi­pa­ti­ve Wir­kung, wie weit die Ergeb­nis­se also tat­säch­lich im Wahl­kampf und danach eine Rol­le spielen.

Jetzt, nach der Wahl, ist der rich­ti­ge Zeit­punkt, um anhand die­ser drei Kri­te­ri­en eine abschlie­ßen­de Bilanz zum Mit­glie­der­ent­scheid zu ziehen. 

Bezo­gen auf die Mobi­li­sie­rungs­wir­kung fällt die Bilanz im Nach­hin­ein gemischt aus. An der Abstim­mung haben sich 26,2 Pro­zent der Mit­glie­der betei­ligt, das ist für eine Urab­stim­mung ordent­lich (bei der Urwahl der Spit­zen­kan­di­da­tIn­nen lag die Betei­li­gung aller­dings deut­lich höher). Zwei Drit­tel aller Kreis­ver­bän­de haben den Mit­glie­der­ent­scheid zu Ver­an­stal­tun­gen genutzt. Deut­lich gerin­ger war dage­gen die Teil­nah­me an der Online-Debat­te (419 Argu­men­te, 954 Kom­men­ta­re, 2819 Votes – bei über 60.000 Mit­glie­dern). Nur spe­ku­lie­ren lässt sich über die Nach­hal­tig­keit der Mobi­li­sie­rungs­wir­kung – ich ver­mu­te, dass es damit nicht zum Bes­ten bestellt ist. An eine Stim­mung des „wir haben ent­schie­den – jetzt rein in den Wahl­kampf“ erin­ne­re ich mich jeden­falls nicht. Und auch die Ergeb­nis­se des Ent­scheids haben sich nicht ins Gedächt­nis der Par­tei ein­ge­schrie­ben – wer kann spon­tan sagen, was die gewähl­ten neun Pro­jek­te waren?

(Im Bereich „Öko­lo­gie“ waren es Ener­gie­wen­de, Mas­sen­tier­hal­tung und die Fra­ge nach den Gren­zen des Wachs­tums; im Bereich „Gerech­tig­keit“ Min­dest­lohn, Bür­ger­ver­si­che­rung und die Regu­lie­rung der Finanz­märk­te sowie im Bereich „Moder­ne Gesell­schaft“ die Kri­tik an Rüs­tungs­expor­te, Kita­plät­ze statt Betreu­ungs­geld sowie der Kampf gegen Rechtsextremismus.)

Wie ist es um die Sicht­bar­keit bestellt? Da es auch in ande­ren Par­tei­en ähn­li­che Betei­li­gungs­pro­jek­te gab, war der Mit­glie­der­ent­scheid selbst nicht das Ereig­nis, das sich man­che viel­leicht erhofft hat­ten. Über das Ergeb­nis wur­de durch­aus berich­tet. Hier wur­de aller­dings schon deut­lich, dass – was sich dann am Wahl­abend bestä­tig­te – die­ser Wahl­kampf einer wer­den wür­de, bei dem das Agen­da­set­ting nicht in der Hand der Par­tei liegt. Eini­ge Medi­en mach­ten sich über ein­zel­ne Pro­jek­te lus­tig (exem­pla­risch dafür der „Laub­frosch“ bei Spie­gel Online, auch in der taz gab es ähn­li­che Tex­te), typisch für die Bericht­erstat­tung nach dem Bescheid dann die Schlag­zei­le der Süd­deut­schen Zei­tung: „Grü­ne Basis ver­schmäht Trittins Lieb­lings­the­men“ – schon im Som­mer 2013 war das die Steu­er­po­li­tik, die es eben nicht unter einen der drei Spit­zen­plät­ze in ihrem Bereich geschafft hatte.

Damit sind wir auch schon bei der Rol­le, die die Ergeb­niss­se des Mit­glie­der­ent­scheids im Wahl­kampf gespielt haben – wie war die Par­ti­zi­pa­ti­ons­wir­kung. Inter­es­sant erscheint mir, was Bör­je Wichert hier­zu in einer medi­en- und kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaft­li­chen Per­spek­ti­ve auf den grü­nen Wahl­kampf schreibt:

Eine Erzäh­lung ist das Pro­gramm nicht. Im Nach­hin­ein kri­tisch zu betrach­ten ist vor dem Hin­ter­grund der Not­wen­dig­keit media­ler Ver­mitt­lung auch die Mit­glie­der­be­fra­gung zu den zehn [sic!] wich­tigs­ten Punk­ten, mit denen die Grü­nen in den Wahl­kampf gehen soll­ten. Zwar mag die Abstim­mung ein Aus­bund an Basis­de­mo­kra­tie gewe­sen sein, sie war aber auch eine Ein­la­dung zu noch stär­ke­rer Frag­men­tie­rung der ohne­hin nicht kon­sis­tent zu einer Geschich­te ver­wo­be­nen Inhalte. 

Da hat er recht. Gleich­zei­tig war die Sicht­bar­keit der Ergeb­nis­se des Ent­scheids im Wahl­kampf beschränkt. Eini­ge Pla­ka­te nah­men The­men des Ent­scheids auf (Ener­gie­wen­de, Min­dest­lohn, „Mensch vor Bank“, Kita­plät­ze, ggf. das Kuh­pla­kat in Bezug auf Mas­sen­tier­hal­tung). Wie weit die Pla­ka­te auf die Ergeb­nis­se des Ent­scheids hin ange­passt wur­den oder nicht, dazu gibt es unter­schied­li­che Geschich­ten. Soweit ich mich erin­ne­re, wur­de die Pla­kat­kam­pa­gne nicht expli­zit – als poli­ti­sches Nar­ra­tiv – mit den The­men des Ent­scheids ver­knüpft. Auch das „Und du?“, das im Prin­zip die betei­li­gungs­ori­en­tier­te Hal­tung der Mit­glie­der­ent­scheids-Kam­pa­gne auf­griff, stand iso­liert. Wie Bör­je schreibt: Es fehl­te eine Geschich­te, in die die­se Ele­men­te ein­ge­floch­ten wurden. 

Plakate "Und du?"

Im Nach­hin­ein betrach­tet, kommt es mir so vor, als hät­ten unter­schied­li­che Kräf­te in der Par­tei ver­sucht, unter­schied­li­che Geschich­ten zu erzäh­len. Das eine ist das Nar­ra­tiv der Betei­li­gungs­par­tei – Urwahl, Ent­scheid, der sich dann in der Kam­pa­gne wie­der­fin­det, das „Und du?“. Das ande­re ist das Nar­ra­tiv der finanz­po­li­tisch ehr­li­chen Par­tei, die Steu­er­kam­pa­gne. In Talk­show­auf­trit­ten und Wahl­kampf­re­den spiel­te die zwei­te Geschich­te eine über­ra­gen­de Rol­le – und dele­gi­ti­mier­te damit zugleich das ers­te Nar­ra­tiv. Das ver­stärk­te dann den Ein­druck einer Par­tei mit vie­len The­men ohne „grü­nen Faden“. 

Viel­leicht ist es etwas zu zuge­spitzt, aber unterm Strich gewin­ne ich den Ein­druck, dass wir als Par­tei die Ergeb­nis­se des Ent­scheids zwar im Wahl­kampf auf­ge­nom­men haben (neben den Pla­ka­ten sind hier ins­be­son­de­re auch die 9‑Punk­te-Mini­fly­er zu erwäh­nen, die als Mate­ri­al ver­teilt wur­den), dass wir uns aber letzt­lich nicht getraut haben, aus der Betei­li­gung die gro­ße, über­grei­fen­de Geschich­te zu machen, son­dern uns ande­re Geschich­ten haben auf­drän­gen las­sen. Damit ent­steht das Bild eines halb­her­zi­gen Umgangs mit den Ergeb­nis­sen des Ent­scheids. Man­che (die Ener­gie­wen­de, die gegen Ende des Wahl­kampfs betont wur­de) wur­den stark betont, ande­re (Wachs­tums­kri­tik, Kampf gegen Rechts) spiel­ten kei­ne gro­ße Rol­le. Das aber ist dann eher Belie­big­keit als Beteiligung.

Nach der Wahl mit dem bekann­ten Ergeb­nis erleb­ten die neun Schlüs­sel­pro­jek­te dann noch ein zwei­tes Leben: Sie wur­den her­an­ge­zo­gen, um die Son­die­rungs­ge­sprä­che mit der CDU abzu­bre­chen. Ob das der ange­dach­te Ver­wen­dungs­zweck war, als die Mit­glie­der im Mai ihr Kreuz­chen für die aus ihrer Sicht wich­tigs­ten Schlüs­sel­pro­jek­te mach­ten? (Das betrifft übri­gens auch all die­je­ni­gen, die jetzt behaup­ten, die neun Pro­jek­te sei­en unser Leit­stern für die nächs­ten vier Jahre.)

In der Gesamt­be­trach­tung chan­giert der Mit­glie­der­ent­scheid zwi­schen modi­schem Betei­li­gungs­spiel und dem Ver­such, eine kla­re Kurs­be­stim­mung durch die Basis her­bei­zu­füh­ren. Neben metho­di­scher Kri­tik (z.B. die Auf­tei­lung der Pro­jek­te auf drei Groß­be­rei­che, die Fra­ge, was aus dem Wahl­pro­gramm über­haupt den Sta­tus eines poten­zi­el­len Schlüs­sel­pro­jekts bekommt) ist es die­se Unent­schlos­sen­heit, die den Mit­glie­der­ent­scheid zu einer wei­te­ren Stim­me in einem viel­stim­mi­gen Wahl­kampf­cho­rus mach­te, dem die dar­un­ter­lie­gen­de Melo­die fehl­te. Aber gera­de in die­ser Halb­her­zig­keit, böse gesagt: in einer Instru­men­ta­li­sie­rung von Betei­li­gung, ver­fehl­te der Mit­glie­der­ent­scheid die mög­li­che Wir­kung. Damit will ich nicht sagen, dass ein Wahl­kampf, der sich geschlos­sen und mit grü­ner Stär­ke – in allen Are­nen, nicht nur in aus­ge­wähl­ten Spiel­plät­zen – auf die neun gewähl­ten Schlüs­sel­pro­jek­te kon­zen­triert hät­te, erfolg­rei­cher gewe­sen wäre. Aber er wäre ehr­li­cher gewe­sen als der For­mel­kom­pro­miss aus Betei­li­gung und Agen­tur­wahl­kampf, den wir jetzt erlebt haben, und der letzt­lich doch einen scha­len Geschmack hinterlässt.

War­um blog­ge ich das? Um offe­ne Fäden zuzuknoten.

2 Antworten auf „Wahrheit oder Pflicht: Nachbetrachtung zum grünen Mitgliederentscheid“

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