Im Lauf des Tages sind mir einige Fragen und nachforschungswürdige bzw. nachdenkenswürdige Punkte – z.T. auch Gerüchte – gekommen, die mehr oder weniger direkt mit Stuttgart 21 zusammenhängen. Die habe ich hier mal aufgeschrieben. [Eingerückt eingefügt der aktuelle Stand des Wissens aus den Kommentaren und meinem Twitterfeed, 10.10.10]
1. Auf Twitter kursiert ein Schreiben des Eisenbahnbundesamtes, das so verstanden werden kann, dass die Baumfällaktion gestern Nacht illegal war, da einige naturschutzrechtliche Vorbedingungen – u.a. die Sicherung lokaler Populationen des Juchtenkäfers, was auch immer das ist – nicht eingehalten worden sind. Das ganze kann ein Skandal oder ein elaboriertes Fake sein. Zumindest der Briefkopf ist echt: die dort genannte Monika Kaufmann steht mit identischem Briefkopf auch auf anderen Planfeststellungsschreiben. Hat mal jemand direkt beim Eisenbahn-Bundesamt nachgefragt? Und wenn es echt wäre: was ist der tatsächliche rechtliche Gehalt?
Das Schreiben war wohl echt, es gab angeblich vor dem Abholzen auch noch Gespräche zwischen Bahn, Bauleitung und EBA, mit dem Ergebnis, dass dann das Abholzen erlaubt wurde. Genaueres ist unklar, Protokolle dieser Gespräche scheint es nicht zu geben. Allerdings wurde das Schreiben nicht an das Verwaltungsgericht weitergeleitet, dem ein Antrag auf einstweilige Verfügung des BUND vorlag – dies wurde vom Verwaltungsgericht inzwischen gerügt. Und der Einsatzleiter der Polizei musste von sich aus im Ministerium nachfragen, was es mit dem ihm über den BUND zugänglich gemachten Schreiben auf sich hat. Für den restlichen Baumbestand gibt es inzwischen eine strafbewehrte Verfügung des EBA, keine Bäume einzuschlagen, bis die Naturschutzfragen geklärt sind – und der Juchtenkäfer ist zum Volkshelden geworden.
2. Gestern kursierten wilde Gerüchte über Schwerverletzte - und einige Male auch über Tote – über Twitter. Gibt es irgendwo verlässliche und nachgeprüfte Angaben dazu?
Tote gab es definitiv keine, aber zwei Personen mit erheblichen Augenschäden durch den Wasserwerfereinsatz, die derzeit mit dem Erblinden kämpfen (Dietrich Wagner und Daniel Kartmann).
3. Was ist dran an den Aussagen, dass die Abholzfirma aus Rechs Wahlkreis kommt, dass ein Tunnelbohrunternehmer der CDU im letzten Jahr 70.000 € gespendet hat usw. – wie sehen die finanziellen Netzwerke aus, die dieser Partei jede Vernunft rauben? Cui bono?
Beides scheint zu stimmen, ob es hier kausale Bezüge gibt, ist umstritten. Insgesamt kommt in den letzten Tagen immer mehr ans Licht, wie sehr Stuttgart 21 in verschiedene Wirtschaftsinteressen eingebunden ist. Neben den diversen Bauaufträgen geht es dabei vor allem auch um Immobilien und Grundstücke auf der dann frei werdenden Fläche.
4. Welche Strategie verfolgen Innenminister Rech und Ministerpräsident Mappus? „Abholzen“ mitten in der Nacht plus hartes Durchgreifen gibt es auch in vergleichbaren Situationen, etwa bei Castor-Blockaden. Da steht das ganze aber unter Zeitdruck, der hier nicht direkt gegeben ist. Warum also eskalieren und durch Abholzen der ersten Bäume vollendete Tatsachen schaffen?
Ging es darum, die Protestierenden zu denunzieren (die Steinwürfe in der Tagesschau, die unsäglichen Rech-Interviews)? Dann wäre die Strategie erstmal massiv gescheitert – 100.000, die heute abend friedlich in Stuttgart ihre Wut zeigen, zeigen das ebenso wie das Zurückrudern und Zuweisen der Verantwortung an die ausführende Polizei. Oder geht es darum, zu polarisieren und im März als harter Macher dazustehen? Dazu auch dieser NTV-Kommentar. Eine Alternativinterpretation: Technokraten ohne Durchblick, denen die Macht der neuen Medien in die Quere kommt?
Die Strategiefrage scheint mir bis heute nicht geklärt. Einen gewissen Einblick in die Hintergründe in der örtlichen CDU gibt diese FAZ-Reportage, zudem gibt es deutliche Hinweise darauf, dass die Polizeiplanung eher chaotisch war. Hinsichtlich der bundesweiten Akzeptanz zeigen derzeit alle Umfragen eine deutliche Ablehnung des Vorgehens – und entsprechende Umfragewerte für die Parteien. Einen Hinweis auf die Strategie „jetzt Tatsachen schaffen“ sind die im Rahmen der Debatte um die Schlichtungsgespräche gemachten angeblichen Zugeständnisse und auch auf die Bedeutung des Grundwassermanagements, für das die Bäume abgeholzt wurden, für das Gesamtprojekt.
5. Bündnis 90/Die Grünen sind – anders als die SPD – von Anfang an mit dem Protest gegen Stuttgart 21 verbunden. Damit lastet aber auch eine große Verantwortung auf uns – wenn die Wahl im März tatsächlich zu einer Volksabstimmung über die Regierungspolitik wird, dann ist jedes Prozent mehr mit großen Erwartungen verknüpft. Wie können wir dem gerecht werden, ohne nicht erfüllbare Hoffnungen zu schüren? Was kann noch gerettet werden – und was ist, wenn bis März kein Baustopp erreicht ist?
Die Tatsache, dass wir weiterhin klar sagen, dass das Ziel ein Ende von S21 ist, dass aber nicht versprochen werden kann, dass wir das tatsächlich erreichen, sorgte in den letzten Tagen für hitzige Debatten, die im Vorwurf gipfeln, dass Grüne umfallen würden, schwarz-grün vorbereiteten (!) und überhaupt unredlich seien. Mein Kommentar dazu ist eher der, dass es gut ist, dass wir ehrlich bleiben, auch wenn die Umfragen mit inzwischen über 30% (!) Grün für BaWü die eine oder andere Verlockung in die andere Richtung enthalten.
6. In dem sehr guten Text „Ohnmacht, Wut und repräsentative Demokratie“ verknüpft Felix Neumann die Proteste gegen Stuttgart 21 mit der Idee, dass das repräsentativdemokratische System sich in einer tiefen Krise befindet: die parlamentarische Mehrheitsfindung und die „Paketwahl“ gerät unter massiven Rechtfertigungsdruck. Stimmt diese Analyse – und was könnten machbare Alternativen sein?
Einen interessanten Kommentar dazu hat Christian Rath in der Wochenendstaz veröffentlicht. Und auch die 50.000 in München (Anti-Atom-Menschenkette) und 150.000 in Stuttgart (S21) an diesem Wochenende zeigen m.E., dass die Frage nach angemessenen politischen Beteiligungsformen in der Luft liegt.
7. Ein bißchen anders ausgedrückt: die Bevölkerung in Baden-Württemberg ist (mehrheitlich?) viel weiter als die Landesregierung. Es ist ein großer Wunsch da, Dinge nicht mehr einfach hinzunehmen, sondern sich zu beteiligen. Vor Ort geschieht dies – kollidiert aber mit einem Politikstil des Von-oben-Durchregierens.
Ich kann mir vorstellen, dass es letztlich diese „Politikstilunzufriedenheit“ sein könnte, die im März wahlentscheidend wird. Ich weiss nicht, ob diese auch eher aus dem Bauch heraus kommenden Überlegungen stimmen – aber wenn das die Stimmung im Land trifft, dann brauchen wir im Wahlprogramm – und erst Recht in potenziellem Regierungshandeln nach der Wahl – einen ganz starken Schwerpunkt im Bereich partizipativerer, offener und transparenterer Prozesse des politischen Handelns. Dazu gehört das klassische Thema direkte Demokratie, dazu gehört aber auch die Frage, wie beispielsweise eine Planung wie die von S21 ergebnisoffen und partizipativ gestaltet hätte werden können. Oder, um ein anderes Thema zu nennen: wer sind die Stakeholder, und wie werden die einbezogen, wenn es um die Weiterentwicklung der Hochschullandschaft in Baden-Württemberg geht? Mag jetzt erstmal nicht nach Zusammenhang aussehen, ist für mich aber – im Blick auf den Politikstil, das Demokratieverständnis und das Menschenbild – das selbe in grün.
S.o. zu Nr. 6 – ich bin weiterhin überzeugt davon, dass die Frage, wie ein Politikstil aussehen kann, der Menschen mitnimmt und beteiligt, ohne sie zu überfordern (bzw. überzogene Ansprüche hinsichtlich des politischen Engagements stellt), zentral für diesen Wahlkampf werden wird – und hoffe, dass wir Grüne da eine überzeugende Antwort geben können und werden, als klare Alternative zum autoritären Durchregieren der CDU.
Soweit die Fragen, die Stuttgart 21 bei mir grade aufwirft. Antworten?
zu 3) Was ist dran an den Aussagen, dass (…) ein Tunnelbohrunternehmer der CDU im letzten Jahr 70.000 € gespendet hat
Das stimmt offenbar, wenn man hier vergleicht…
… eine Spende ist von Dr.-Ing. E. h. Martin Herrenknecht aus Schwanau (Juli 2009)
http://www.bundestag.de/bundestag/parteienfinanzierung/fundstellen50000/2009/index.html
… und hier das Herrenknecht-Impressum:
Firmensitz in Schwanau
Vorsitzender des Aufsichtsrates: Dr. h.c. Lothar Späth
Vorstand: Dr.-Ing. E. h. Martin Herrenknecht
http://www.herrenknecht.de/meta-navigation/impressum.html
Wobei die alle möglichen Bohranlagen liefern, auch vertikale Anlagen für Öl- und Gasbohrungen (oder auch mal Forschungs- und Geothermiebohrungen).
Frage 1: Ich hab grad mal bei der Pressestelle nachgefragt und hoffe eine Antwort zu kriegen.
Frage 2: Tote war wohl ein Gerücht das etwas zu viel re-tweetet wurde. Die Stuttgarter Zeitung hat einen Augenarzt interviewt, der von einem 22-jährigen berichtet hat, der an einem Auge schwer verletzt ist und möglicherweise sein Augenlicht verliert:
http://stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2651127_0_2204_-nachrichtenticker-demonstrant-mit-schwerer-augenverletzung.html
Auf Freitag, 11:29 zurückklicken.
Frage 3: Baumfällfirma laut verschiedenen Angaben http://www.gredler-soehne.de/ – es gab dazu zumindest kein Dementi.
Es gab auf früheren Demos die Durchsage, dass es wohl schwierg war, eine Firma zu finden, die zu der Sache überhaupt bereit war.
Die Spende kann man hier nachverfolgen:
http://www.bundestag.de/bundestag/parteienfinanzierung/fundstellen50000/2009/index.html
Firma ist Herrenknecht, weitere Infos hier:
http://stuttgart-21-kartell.org/allgemein/lothar-spaeth/attachment/herrenknecht-spende-2009
http://stuttgart-21-kartell.org/allgemein/martin-herrenknecht
Zumindest der „Fall Herrenknecht“ scheint gut nachverfolgbar zu sein. Ob Gredler & Söhne wirklich gefällt hat, dafür hab ich keinen stichfesten Beweis (abgesehen davon dass sie vermutlich lautstark dementiert hätten wenn es nicht so wäre).
Zu Verletzten und zu Frage 1 die Stuttgarter Zeitung; demnach bestreitet Eisenbahnbundesamt die Authentizität des oben verlinkten Schreibens.
Zu 5.)
Das wird wirklich ein Problem. Und darauf könnten Mappus und Co. auch abzielen. Das würde die Grünen langfristig erledigen. Stell dir vor, das Projekt kann nicht mehr abgebrochen werden, obwohl die Grünen den MP stellen. Dann könnten sie gleich Westerwelle zum Landesvorsitzenden wählen. Dann fliegt die Sache der neuen Regierung voll um die Ohren.
Zu Gredler & Söhne:
Es gibt Pressefotos, auf denen deren Maschinen im Einsatz bei der Baumfällung zu sehen sind:
http://www.spiegel.de/fotostrecke/fotostrecke-60024–13.html
Haben sie eine? Oder wird angesichts sinkender Umfragewerte schlicht panisch und kopflos gehandelt? Stuttgart 21 ist ja nur einer von vielen Aspekten, bei denen eine innere Zerissenheit und Unsicherheit innerhalb der CDU – wer sind wir und wofür stehen wir – zutage tritt.
Ein anderes augenfälliges Beispiel ist etwa die Nominierung des Landtagskandidaten im WK Tübingen: Im Sommer wurde ein konservativer Beamter nominiert, nach einer Wahlanfechtung wurde nun die 180 Grad Wende vollzogen und die für das moderne CDU-Spektrum stehende Kandidatin Lisa Federle aufgestellt. Das Problem: Nun fühlten sich die Konservativen in der Partei düpiert, wollten ihrerseits die Wahl anfechten und mussten durch eine Intervention von Mappus himself gestoppt werden. Die Stimmung im Kreisverband könnte schlechter nicht sein, das Schwäbische Tagblatt konstatiert eine Selbstzerfleischung innerhalb der CDU.
Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Ereignisse in Stuttgart, dann scheint es mir auch vorstellbar, dass hier einfach mal getestet wurde, was bei härterem Durchgreifen passiert, ohne dass man einen Plan hat, falls die Sache schief läuft. Vielleicht will Mappus aber auch einfach gewaltsam mit dem Kopf durch die Wand, da ein diplomatischer Ausweg aus der verworrenen Gemengelage kaum möglich scheint. Dazu passt ja auch, wie nun die Eskalation den Grünen in die Schuhe geschoben werden soll. Am liebsten soll wieder alles wie früher sein: Klare Verhältnisse, wir gegen die, Law&Order gegen linke Chaoten. Die FTD bezeichnet die Union dafür als „vorgestern“.
Ein Aspekt, der von fxneumann leider gar nicht betrachtet wird:
In Foren- und Blogkommentaren wird immer wieder Stuttgart 21 mit den diversen aus Steuergeldern finanzierten Bailouts, der damit verbundene Umverteilung von unten nach oben und den dadurch notwendigen fiskalischen Einschnitten verquickt. Mein Eindruck ist, dass Stuttgart 21 vor allem als Ventil benutzt wird, um den Unmut über die Bailouts und Sparmaßnahmen auszudrücken. Rein rational ist das Ausmaß des Protests in meinen Augen nicht zu erklären, sondern nur tiefenpsychologisch.
Rein rational betrachtet: Die Stuttgarter hatten ja 2004 die Wahl, sie haben sich für Schuster entschieden und den Boris mit rund 20% nach Hause geschickt. In Tübingen wurde er mit Kusshand genommen. Ich gehe mal davon aus, dass sich damals alle Stuttgarter gut informiert haben, wie die Kandidaten zu Stuttgart 21 positioniert sind. War ein riesen Thema im Wahlkampf.
Nach
http://de.wikipedia.org/wiki/Juchtenk%C3%A4fer
gibt es jedenfalls den Juchtenkäfer. Nach den dortigen Beschreibungen könnte alles passen. Für ein Fake sieht das wirklich sehr professionell aus. Allein schon der unnachahmliche Verwaltungssprech. Die exakte Bennennung von Ziffern im Planfeststellungsbeschluss, Geschäftszeichen etc. müsste eigentlich dazu führen, dass die Unechtheit des Schreibens von Verwaltungsmenschen sehr leicht nachgewiesen werden können müsste. Da bin ich mal gespannt.
Viele Grüße
So wie das in der Presse zu lesen ist, hat die Politik die grösste Schuld an dem Polizeieinsatz. Irgendwie verstehe ich die CDU nicht. Die schreien wirklich laut, wählt mich ab. Sei es bei den Atomkraftwerken oder besonders bei Stuttgart 21. Eine Regierung die gegen das Volk regiert wird bei der nächsten Wahl dafür abgewählt.
Der SWR berichtet jetzt auch über das Eisenbahn-Bundesamt-Schreiben: hier
Oder doch nicht? Klingt jedenfalls nach Gemauschel – und danach, dass das Schreiben des Eisenbahnbundesamtes echt ist, sich aber – wer auch immer – schnell und in mündlicher Absprache drüber hinweg gesetzt hat.
Edit: Um das nochmal deutlich zu machen: die S21-Sprecherin bestätigt hier gerade die Echtheit des Schreibens (hab’s oben fett hevorgehoben). Interessant – und definitiv ein Arbeitsauftrag für unsere ParlamentarierInnen – wäre es jetzt, herauszufinden, was denn da genau zwischen 18 Uhr (wohl Zugang des Schreibens) und dem Abholzen um 1 Uhr stattgefunden hat und in welcher Form (mündlich? schriftlich?) die Bedenken des EBA ausgeräumt worden sind.
hier auch noch mal ein portrait des „tunnelbohrers“ aus der letzten FaS (nur mit abonennten-login).
darin heißt es zum spendenverhalten:
„Richtig, Herrenknecht ist Mitglied der CDU, er unterstützt die Partei finanziell (wie auch die SPD, wenngleich knapper).“
Habe aus plausibler Quelle gehört, dass Herrenknecht CDU-Fan und S21-Fan ist, aber das nicht unbedingt zusammenhängen muss – und dass es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass hinter seinen Spenden der Wunsch nach Aufträgen steht.
In der FTD ist nun ein Artikel erschienen, in dem die Abläufe ein wenig aus Polizeisicht beleuchtet werden. Demnach scheint die Aktion nicht unmittelbar von der Landesregierung ausgegangen zu sein, sondern die Vorgehensweise der Polizei lief aus dem Ruder, weil sich die Demonstration völlig anders als erwartet entwickelte. Die Polizeiplanungen wurden durch Twitter, SMS & co permanent durchkreuzt:
„Die neuen Medien zerstören in Sekundenschnelle, was wir vorhaben“, zitiert die dpa, ohne Namen zu nennen.
Oooooch.
Zu den Demokratiefragen hier noch ein guter Kommentar von H. Prantl, SZ.
Und zum Eisenbahnbundesamt noch die Stuttgarter Zeitung.
Die Einflussnahme des Tunnelbohrunternehmers finde ich an sich nicht überraschend. Schön ist allerdings, dass auch mal eine breitere Öffentlichkeit von solchen Zusammenhängen erfährt. Das ist auch ein Grund, weswegen die oft erwähnte „Legitimität“ des Vorhabens eine rein formale ist. (Und selbst die ist nur dann gegeben, wenn man unterstellt, dass alle, die da früher mal mit Ja gestimmt haben, auch die Kostensteigerungen absegnen würden).
Vielleicht ist die Aktivität des Tunnelbauers aber auch Neid auf die Verhältnisse in der Schweiz. Da wird bekanntlich ausgiebig Regionalpolitik mit Infrastrukturgeschenken betrieben. Die Tunnelbauer haben sich darauf so eingestellt, dass da zwei aufeinanderfolgende Projekte nahtlos ineinander übergehen können. Der Charakter der Branche bringt es mit sich, dass der Maschinenpark sich nur amortisiert, wenn er nicht untätig herumsteht, weswegen Überkapazitäten und Leerlauf kaum zu verkraften sind. Da schmiert man lieber mal ein paar Parteien, die finanziell gerne über ihre Verhältnisse leben.
zu Frage 5:
Stuttgart 21 darf kein zweites Moorburg werden. Das wäre für die Glaubwürdigkeit der Grünen katastrophal. Ist das Projekt rechtlich noch zu stoppen? Wenn ja, zu welchen Kosten? Sind die Umfragewerte für die Grünen in BW so hoch, weil die Menschen sich von den Grünen einen Projektstopp versprechen?
zu 1) Die FR berichtet: „Bundesamt hatte Zweifel wegen Rodung“
Zu Frage 5:
Was die Grünen tun sollten, wäre, sofort die rechtlichen Möglichkeiten dafür zu schaffen, dass über solche Projekte grundsätzlich (und auch zu jedem Zeitpunkt) abgestimmt werden kann.
Weiterhin sollte man alle Fakten zum Projekt transparent machen, außerdem endlich ein Informationsfreiheitsgesetz in Baden-Württemberg beschließen (ist eines der wenigen Bundesländer das noch keins hat) – am besten ein besseres als das Bundesweite, das besteht leider vor allem aus Ausnahmen.
Anschließend eine realistische Kostenberechnung Wieviel kostet der Ausstieg, wieviel kostet der Weiterbau?
Dann den Bürger entscheiden lassen.
@Hanno: Wenn ich das auf der grünen Fraktionsseite richtig gesehen habe, liegt ein entsprechender Antrag zur Erleichterung von Volksinitiativen etc. vor. Zur Kostenberechnung und auch zu entsprechenden parlamentarischen Anträgen ist auf gruene-gegen-stuttgart21-de einiges zu finden – recht informative Sonderseite der grünen Landtagsfraktion.
Sieht man der Realität mal ins Gesicht, wird der Umbau nach der Landtagswahl vermutlich nicht mehr umkehrbar sein, wenn bis zum März kein Baustopp stattfindet (auch wenn im Winter sicher eher wenig gebaut wird). Da dürften im März sämtliche Messen gesungen sein, mal abgesehen davon dass die SPD als prinzipiell einzig möglicher Koalitionspartner der Grünen jahrelang für Stuttgart 21 gestritten hat. Soviel Planungssicherheit dürfte sich die Bahn im Zweifelsfall auch einklagen können, denn einen laufenden Tiefbauprozess umzukehren ist doch noch etwas gänzlich anderes als der Stopp eines Bauvorhabens vor dem eigentlichen Baubeginn.
So gesehen müssen sich grüne Wähler vermutlich darauf einstellen, dass es nach einem Wahlsieg keinen „Ausstieg“ aus S21 geben wird, so wie auch ein „Ausstieg aus dem Atomausstieg“ unmöglich gewesen wäre, wenn die AKWs bereits abgerissen worden wären… Baumaßnahmen schaffen Fakten.
@Christian: Das ist sowas wie das Worst-Case-Szenario. Soweit ich das sehe, ist – trotz aller Mappus-Hektik – das Bauvorhaben noch nicht so weit fortgeschritten, dass dieses Szenario zutrifft. Gleichzeitig heißt das ja: wenn die Aussage der Kanzlerin, dass die Landtagswahl im März ein Volksentscheid über Stuttgart 21 sein, in irgendeiner Weise mit Sinn gefüllt werden sollte, müsste auch Frau Merkel für ein Moratorium eintreten – ein Volksentscheid über baulich geschaffene Fakten ist unsinnig.
@Till: Wäre das Worst-Case-Szenario nicht eher, dass man den Bau zwar noch stoppen könnte, der Bahn in dem Fall aber die Rückerstattung aller bisherigen Planungs- und Bauausgaben (inklusive der kaum fassbaren 480 Millionen, die im Vorfeld schon für die Planung ausgegeben worden sind) zusteht? Was machen die Grünen denn dann? S21 selbst durchziehen oder die Milliarden anderswo (wo?) einsparen?
@Christian: Kommt vermutlich drauf an, auf wen sich das „worst“ bezieht. Inhaltlich kann ich mich hier aber der Argumentation meiner Landespartei anschließen (knapp gesagt: 500 Mio ausgeben, um eine Ausgabe von 4,5+ Mrd (für ein unsinniges Projekt) zu verhindern, ist besser, als 5+ Mrd für ein unsinniges Projekt auszugeben). Hinter dem Link steht das etwas ausführlicher begründet.
Die politische Frage ist einfach: Wird der Punkt, an dem der Ausstieg teurer ist als der Weiterbau, vor oder nach der Landtagswahl liegen? Und wie kann er so weit wie möglich nach hinten geschoben werden, um damit eine echte Abstimmung über Alternativen bei der Landtagswahl zu ermöglichen?
(Auch die SPD-Idee eines Volksentscheids ist zu so blöd nicht – nur m.E. vor der LTW nicht durchsetzbar)
ad 4) vermutlich die Hoffnung durch das Schaffen von Fakten das Thema S21 bis zur Weihnachtszeit beerdigt zu haben. Lieber ein Ende mit Schrecken als der Schrecken ohne Ende, wenn sich das Thema länger hinzöge. Ob die Rechnung aufgeht, kann man jetzt noch nicht beurteilen.
ad 5) Die Landespartei dämpft ja schon jetzt die Erwartungen – zu Recht. Die Landespartei sollte auch den Wahlkampf entsprechend führen. D.h. keine plakativen Aussagen zu Stuttgart 21. Das ist durchaus wörtlich gemeint: Wahlplakate verkürzen Aussagen und wecken Hoffnungen, die kaum erfüllbar sind. Also bitte kein S21 – Mit uns nicht o.ä. Plakat. Dass wir dagegen sind, weiß eh jeder.
Zu den nicht erfüllbaren Hoffnungen: Die allgemeine Neigung nervöser Akteure, bestimmte Vorhaben so zu konstruieren, dass sie an einem Punkt formal „unumkehrbar“ werden, an dem sie noch nicht im Detail diskutiert wurden, zeigt sich bei S21 ja nicht zum ersten Mal. Ein anderes ärgerliches Beispiel ist Moorburg und in beiden Fällen wie auch in zahlreichen kleineren Skandälchen auf kommunaler Ebene geschieht das Festzurren der „Unumkehrbarkeit“ oft kurz VOR einer Wahl. Besonders große Angst hat man stets vor Einfluss der Grünen, vermutlich weil man uns (im Gegensatz zur SPD) wirklich zutraut, Großprojekte auch mal NICHT abzunicken.
Das Wahlversprechen muss daher also lauten, das gesamte Verfahren transparent zu machen und Nacht-und-Nebel-Aktionen, die irgendwas „unumkehrbar“ machen, auszuschließen. Für alle öffentlich geförderten Projekte.
Ausstiegskosten würde ich in Kauf nehmen, da der Ausstieg die immensen verkehrlichen Nachteile des Bahnhofsrückbaus (aus 17 mach 8) verhindern kann. Das wäre politisch auch vermittelbar.
Ein weiteres Versprechen muss die Herstellung von Kostenwahrheit und Kostentransparenz sein, mit der Klarstellung, dass ein Beschluss automatisch nicht mehr gültig ist, wenn der ihm zugrunde liegende Kostenrahmen oberhalb des Bagatellbereichs überschritten wird. In kommunalen Parlamenten gibts das auch (auch wenn es da ebenfalls allzu gerne übergangen wird).
Der Ruf nach Volksentscheiden allein greift zu kurz. Bei komplexen Großvorhaben ist manchmal gar nicht klar, wie denn die Frage eigentlich lauten soll. Ein Plebiszit über das Gesamtprojekt ist oft auch nicht das, was weiterhilft, um Kosten zu sparen. Was ist, wenn ich dem Ziel grundsätzlich zustimme, aber mit geplanter Ausführung, Details und gewählter Variante nicht einverstanden bin? Ein gutes Beispiel hierfür sind die Planungen für die NBS Wendlingen – Ulm. Da wird die vorangetriebene ungünstige und teure Variante letztlich dazu führen, dass am Ende gar nichts kommt, nicht einmal eine sinnvolle Beschleunigung durch kleinere Maßnahmen an der Bestandsstrecke. Hier müssen also auch Verfahren entwicklelt werden, die Beteiligung der BürgerInnen schon im Verfahren wirksam werden zu lassen. Ausführlich dargestellt hab ich das auch .
Hier noch was zu Grendler & Söhne.
dpa-Meldung zu Stuttgart 21:
„Der Spitzenkandidat der baden-württembergischen Grünen, Winfried Kretschmann, ist sich nicht sicher, ob seine Partei den umstrittenen Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs im Falle eines Siegs bei den Landtagswahlen am 27. März noch verhindern kann. „Wir können nicht garantieren, dass das in acht Monaten noch möglich ist“, sagte Kretschmann am Dienstag […] Trotz des Streits um „Stuttgart 21“ hält Kretschmann aber auch eine Koalition mit der CDU nach dem 27. März theoretisch für möglich.“
http://nachrichten.t‑online.de/stuttgart-21-gruenen-kaempfen-vor-landtagswahlen-fuer-baustopp-/id_43045762/index
@Christian – Auch wenn es etwas subtil ist (und v.a. ein Hinweis darauf ist, wie wichtig Kretschmann die politische Ehrlichkeit ist): die Begriffe, auf die es hier ankommt, sind „nicht sicher“ und „theoretisch“.
Im Klartext: wir machen keine Versprechen, wenn nicht klar ist, dass wir sie halten können (geben uns aber auch nicht voreilig geschlagen) – und wir gehen mit Eigenständigkeit und klaren Positionen in den Wahlkampf, nicht mit Koalitionen.