Sieben Fragen zu Stuttgart 21 und anderem (Update)

Im Lauf des Tages sind mir eini­ge Fra­gen und nach­for­schungs­wür­di­ge bzw. nach­den­kens­wür­di­ge Punk­te – z.T. auch Gerüch­te – gekom­men, die mehr oder weni­ger direkt mit Stutt­gart 21 zusam­men­hän­gen. Die habe ich hier mal auf­ge­schrie­ben. [Ein­ge­rückt ein­ge­fügt der aktu­el­le Stand des Wis­sens aus den Kom­men­ta­ren und mei­nem Twit­ter­feed, 10.10.10]

1. Auf Twit­ter kur­siert ein Schrei­ben des Eisen­bahn­bun­des­am­tes, das so ver­stan­den wer­den kann, dass die Baum­fäll­ak­ti­on ges­tern Nacht ille­gal war, da eini­ge natur­schutz­recht­li­che Vor­be­din­gun­gen – u.a. die Siche­rung loka­ler Popu­la­tio­nen des Juch­ten­kä­fers, was auch immer das ist – nicht ein­ge­hal­ten wor­den sind. Das gan­ze kann ein Skan­dal oder ein ela­bo­rier­tes Fake sein. Zumin­dest der Brief­kopf ist echt: die dort genann­te Moni­ka Kauf­mann steht mit iden­ti­schem Brief­kopf auch auf ande­ren Plan­fest­stel­lungs­schrei­ben. Hat mal jemand direkt beim Eisen­bahn-Bun­des­amt nach­ge­fragt? Und wenn es echt wäre: was ist der tat­säch­li­che recht­li­che Gehalt?

Das Schrei­ben war wohl echt, es gab angeb­lich vor dem Abhol­zen auch noch Gesprä­che zwi­schen Bahn, Bau­lei­tung und EBA, mit dem Ergeb­nis, dass dann das Abhol­zen erlaubt wur­de. Genaue­res ist unklar, Pro­to­kol­le die­ser Gesprä­che scheint es nicht zu geben. Aller­dings wur­de das Schrei­ben nicht an das Ver­wal­tungs­ge­richt wei­ter­ge­lei­tet, dem ein Antrag auf einst­wei­li­ge Ver­fü­gung des BUND vor­lag – dies wur­de vom Ver­wal­tungs­ge­richt inzwi­schen gerügt. Und der Ein­satz­lei­ter der Poli­zei muss­te von sich aus im Minis­te­ri­um nach­fra­gen, was es mit dem ihm über den BUND zugäng­lich gemach­ten Schrei­ben auf sich hat. Für den rest­li­chen Baum­be­stand gibt es inzwi­schen eine straf­be­wehr­te Ver­fü­gung des EBA, kei­ne Bäu­me ein­zu­schla­gen, bis die Natur­schutz­fra­gen geklärt sind – und der Juch­ten­kä­fer ist zum Volks­hel­den geworden.

2. Ges­tern kur­sier­ten wil­de Gerüch­te über Schwer­ver­letz­te - und eini­ge Male auch über Tote – über Twit­ter. Gibt es irgend­wo ver­läss­li­che und nach­ge­prüf­te Anga­ben dazu?

Tote gab es defi­ni­tiv kei­ne, aber zwei Per­so­nen mit erheb­li­chen Augen­schä­den durch den Was­ser­wer­fer­ein­satz, die der­zeit mit dem Erblin­den kämp­fen (Diet­rich Wag­ner und Dani­el Kart­mann).

3. Was ist dran an den Aus­sa­gen, dass die Abholz­fir­ma aus Rechs Wahl­kreis kommt, dass ein Tun­nel­bohr­un­ter­neh­mer der CDU im letz­ten Jahr 70.000 € gespen­det hat usw. – wie sehen die finan­zi­el­len Netz­wer­ke aus, die die­ser Par­tei jede Ver­nunft rau­ben? Cui bono?

Bei­des scheint zu stim­men, ob es hier kau­sa­le Bezü­ge gibt, ist umstrit­ten. Ins­ge­samt kommt in den letz­ten Tagen immer mehr ans Licht, wie sehr Stutt­gart 21 in ver­schie­de­ne Wirt­schafts­in­ter­es­sen ein­ge­bun­den ist. Neben den diver­sen Bau­auf­trä­gen geht es dabei vor allem auch um Immo­bi­li­en und Grund­stü­cke auf der dann frei wer­den­den Fläche.

4. Wel­che Stra­te­gie ver­fol­gen Innen­mi­nis­ter Rech und Minis­ter­prä­si­dent Map­pus? „Abhol­zen“ mit­ten in der Nacht plus har­tes Durch­grei­fen gibt es auch in ver­gleich­ba­ren Situa­tio­nen, etwa bei Cas­tor-Blo­cka­den. Da steht das gan­ze aber unter Zeit­druck, der hier nicht direkt gege­ben ist. War­um also eska­lie­ren und durch Abhol­zen der ers­ten Bäu­me voll­ende­te Tat­sa­chen schaffen? 

Ging es dar­um, die Pro­tes­tie­ren­den zu denun­zie­ren (die Stein­wür­fe in der Tages­schau, die unsäg­li­chen Rech-Inter­views)? Dann wäre die Stra­te­gie erst­mal mas­siv geschei­tert – 100.000, die heu­te abend fried­lich in Stutt­gart ihre Wut zei­gen, zei­gen das eben­so wie das Zurück­ru­dern und Zuwei­sen der Ver­ant­wor­tung an die aus­füh­ren­de Poli­zei. Oder geht es dar­um, zu pola­ri­sie­ren und im März als har­ter Macher dazu­ste­hen? Dazu auch die­ser NTV-Kom­men­tar. Eine Alter­na­tiv­in­ter­pre­ta­ti­on: Tech­no­kra­ten ohne Durch­blick, denen die Macht der neu­en Medi­en in die Que­re kommt?

Die Stra­te­gie­fra­ge scheint mir bis heu­te nicht geklärt. Einen gewis­sen Ein­blick in die Hin­ter­grün­de in der ört­li­chen CDU gibt die­se FAZ-Repor­ta­ge, zudem gibt es deut­li­che Hin­wei­se dar­auf, dass die Poli­zei­pla­nung eher chao­tisch war. Hin­sicht­lich der bun­des­wei­ten Akzep­tanz zei­gen der­zeit alle Umfra­gen eine deut­li­che Ableh­nung des Vor­ge­hens – und ent­spre­chen­de Umfra­ge­wer­te für die Par­tei­en. Einen Hin­weis auf die Stra­te­gie „jetzt Tat­sa­chen schaf­fen“ sind die im Rah­men der Debat­te um die Schlich­tungs­ge­sprä­che gemach­ten angeb­li­chen Zuge­ständ­nis­se und auch auf die Bedeu­tung des Grund­was­ser­ma­nage­ments, für das die Bäu­me abge­holzt wur­den, für das Gesamtprojekt.

5. Bünd­nis 90/Die Grü­nen sind – anders als die SPD – von Anfang an mit dem Pro­test gegen Stutt­gart 21 ver­bun­den. Damit las­tet aber auch eine gro­ße Ver­ant­wor­tung auf uns – wenn die Wahl im März tat­säch­lich zu einer Volks­ab­stim­mung über die Regie­rungs­po­li­tik wird, dann ist jedes Pro­zent mehr mit gro­ßen Erwar­tun­gen ver­knüpft. Wie kön­nen wir dem gerecht wer­den, ohne nicht erfüll­ba­re Hoff­nun­gen zu schü­ren? Was kann noch geret­tet wer­den – und was ist, wenn bis März kein Bau­stopp erreicht ist?

Die Tat­sa­che, dass wir wei­ter­hin klar sagen, dass das Ziel ein Ende von S21 ist, dass aber nicht ver­spro­chen wer­den kann, dass wir das tat­säch­lich errei­chen, sorg­te in den letz­ten Tagen für hit­zi­ge Debat­ten, die im Vor­wurf gip­feln, dass Grü­ne umfal­len wür­den, schwarz-grün vor­be­rei­te­ten (!) und über­haupt unred­lich sei­en. Mein Kom­men­tar dazu ist eher der, dass es gut ist, dass wir ehr­lich blei­ben, auch wenn die Umfra­gen mit inzwi­schen über 30% (!) Grün für BaWü die eine oder ande­re Ver­lo­ckung in die ande­re Rich­tung enthalten.

6. In dem sehr guten Text „Ohn­macht, Wut und reprä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie“ ver­knüpft Felix Neu­mann die Pro­tes­te gegen Stutt­gart 21 mit der Idee, dass das reprä­sen­ta­tiv­de­mo­kra­ti­sche Sys­tem sich in einer tie­fen Kri­se befin­det: die par­la­men­ta­ri­sche Mehr­heits­fin­dung und die „Paket­wahl“ gerät unter mas­si­ven Recht­fer­ti­gungs­druck. Stimmt die­se Ana­ly­se – und was könn­ten mach­ba­re Alter­na­ti­ven sein?

Einen inter­es­san­ten Kom­men­tar dazu hat Chris­ti­an Rath in der Wochen­end­s­taz ver­öf­fent­licht. Und auch die 50.000 in Mün­chen (Anti-Atom-Men­schen­ket­te) und 150.000 in Stutt­gart (S21) an die­sem Wochen­en­de zei­gen m.E., dass die Fra­ge nach ange­mes­se­nen poli­ti­schen Betei­li­gungs­for­men in der Luft liegt.

7. Ein biß­chen anders aus­ge­drückt: die Bevöl­ke­rung in Baden-Würt­tem­berg ist (mehr­heit­lich?) viel wei­ter als die Lan­des­re­gie­rung. Es ist ein gro­ßer Wunsch da, Din­ge nicht mehr ein­fach hin­zu­neh­men, son­dern sich zu betei­li­gen. Vor Ort geschieht dies – kol­li­diert aber mit einem Poli­tik­stil des Von-oben-Durchregierens. 

Ich kann mir vor­stel­len, dass es letzt­lich die­se „Poli­tik­sti­lun­zu­frie­den­heit“ sein könn­te, die im März wahl­ent­schei­dend wird. Ich weiss nicht, ob die­se auch eher aus dem Bauch her­aus kom­men­den Über­le­gun­gen stim­men – aber wenn das die Stim­mung im Land trifft, dann brau­chen wir im Wahl­pro­gramm – und erst Recht in poten­zi­el­lem Regie­rungs­han­deln nach der Wahl – einen ganz star­ken Schwer­punkt im Bereich par­ti­zi­pa­ti­ve­rer, offe­ner und trans­pa­ren­te­rer Pro­zes­se des poli­ti­schen Han­delns. Dazu gehört das klas­si­sche The­ma direk­te Demo­kra­tie, dazu gehört aber auch die Fra­ge, wie bei­spiels­wei­se eine Pla­nung wie die von S21 ergeb­nis­of­fen und par­ti­zi­pa­tiv gestal­tet hät­te wer­den kön­nen. Oder, um ein ande­res The­ma zu nen­nen: wer sind die Stake­hol­der, und wie wer­den die ein­be­zo­gen, wenn es um die Wei­ter­ent­wick­lung der Hoch­schul­land­schaft in Baden-Würt­tem­berg geht? Mag jetzt erst­mal nicht nach Zusam­men­hang aus­se­hen, ist für mich aber – im Blick auf den Poli­tik­stil, das Demo­kra­tie­ver­ständ­nis und das Men­schen­bild – das sel­be in grün.

S.o. zu Nr. 6 – ich bin wei­ter­hin über­zeugt davon, dass die Fra­ge, wie ein Poli­tik­stil aus­se­hen kann, der Men­schen mit­nimmt und betei­ligt, ohne sie zu über­for­dern (bzw. über­zo­ge­ne Ansprü­che hin­sicht­lich des poli­ti­schen Enga­ge­ments stellt), zen­tral für die­sen Wahl­kampf wer­den wird – und hof­fe, dass wir Grü­ne da eine über­zeu­gen­de Ant­wort geben kön­nen und wer­den, als kla­re Alter­na­ti­ve zum auto­ri­tä­ren Durch­re­gie­ren der CDU.

Soweit die Fra­gen, die Stutt­gart 21 bei mir gra­de auf­wirft. Antworten?

S21-Proteste jetzt ins Land tragen

Solidaritätskundgebung in Freiburg, 30.09.2010, Foto: Claude KuhnenIch woll­te eigent­lich was ande­res machen, als ich heu­te mit­tag über Twit­ter die ers­ten Berich­te dar­über wahr­ge­nom­men habe, mit wel­cher Bru­ta­li­tät die Poli­zei in Stutt­gart gegen die Stutt­gart-21-Pro­tes­te vor­ge­gan­gen ist. Mein ers­ter Ein­druck war, dass es da so ähn­lich lau­fen wird wie vor 14 Jah­ren, als in Frei­burg der besetz­te Kon­rad-Guen­ther-Park für den Bau der B31 geräumt wur­de. Damals trat die Poli­zei in gro­ßer Zahl auf, und räum­te Baum­be­set­ze­rIn­nen und Soli-Pro­tes­tie­ren­de weg – soweit ich mich erin­ne­re, v.a. durch weg­tra­gen und am Schluss dann durch Spe­zi­al­kräf­te in den Bäu­men. Nicht schön, aber letzt­lich eben die Durch­set­zung von Poli­tik mit Polizeigewalt. 

Die Ereig­nis­se in Stutt­gart heu­te klin­gen nach einer ganz ande­ren Grö­ßen­ord­nung. Spie­gel online spricht vom Bür­ger­krieg im Schloss­gar­ten, die Süd­deut­sche von bür­ger­kriegs­ähn­li­chen Zustän­den.

Wenn Berich­te, die ich gele­sen habe, stim­men, dann wur­de da weit­ge­hend ohne Vor­war­nung Gewalt ein­ge­setzt, wur­de los­ge­prü­gelt und wur­den Reiz­gas und Was­ser­wer­fer ein­ge­setzt. Da wur­de eine Schü­ler­de­mo unter dem her­bei­ge­lo­ge­nen Vor­wand, dass aus die­ser her­aus Stei­ne geflo­gen sei­en, bru­tal been­det, und da wur­den hun­der­te Men­schen mit Was­ser­wer­fern an den Augen und mit Schlag­hand­schu­hen und Stö­cken an Kno­chen und Rip­pen ver­letzt. Das erin­nert dann eher an die Räu­mun­gen der Cas­tor-Blo­cka­den in Gor­le­ben – aber selbst da gab es Dees­ka­la­ti­on, selbst da wur­den Gewalt­mit­tel erst nach und nach ausgesetzt.

Ange­sichts der Ereig­nis­se in Stutt­gart habe ich heu­te dann lie­ber spon­tan eine Pro­test­kund­ge­bung auf die Bei­ne gestellt – Twit­ter und Face­book, aber auch dem Tele­fon und Fud­der sei dank. Trotz nur weni­ger Stun­den Vor­lauf­zeit waren heu­te letzt­lich etwa 40 Men­schen – Grü­ne, Lin­ke, Pira­ten, Unab­hän­gi­ge – vor dem Bas­ler Hof, und haben laut­stark deut­lich gemacht, was sie von dem Vor­ge­hen in Stutt­gart halten.

Am Rand der Kund­ge­bung haben wir beschlos­sen, dass es sinn­voll ist, das sel­be am Sams­tag – um 12 Uhr – noch­mal zu machen. Der Auf­ruf dazu wird erst mor­gen mit­tag aus­ge­ar­bei­tet; wer sei­ne Empö­rung und sei­ne Soli­da­ri­tät zei­gen möch­te, kann sich den Ter­min aber jetzt schon vormerken.

Und wir waren nicht die ein­zi­gen – bun­des­weit wur­de von Soli-Aktio­nen berich­tet. Ich bin mir nicht sicher, ob Map­pus weiss, was er tut (und ob sein Innen­mi­nis­ter Rech weiss, wie sein ZDF-Inter­view drau­ßen im Land ankommt. 

Wer so eska­liert, zün­delt am Zusam­men­halt unse­rer Gesell­schaft – und ver­dient es, wenn Map­pus und Rech jetzt nicht frei­wil­lig gehen, spä­tes­tens im März 2011 abge­wählt zu werden.

War­um blog­ge ich das? Um mei­nen Tag ein biß­chen zu ordnen.