20 Jahre nach dem ersten virtuellen Parteitag und ein halbes Jahr nach der großen Schaltkonferenz, dem digitalen Länderrat, tagte an diesem Wochenende die grüne Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) digital. Hashtag #dbdk20. Corona macht’s möglich – und gleichzeitig lässt sich feststellen: so eine digitale BDK ist fast genauso anstrengend wie zweieinhalb Tage in irgendeiner Messehalle zu sitzen, dort Reden zu lauschen, konzentriert abzustimmen und nebenbei noch den einen oder anderen Plausch zu halten. Die Hin- und Rückfahrt entfällt, aber das macht das fehlende Wochenende auch nicht wett.
In eigener Sache: Was wäre wenn, …
Der grüne Kreisverband Freiburg hat sein Mitgliedermagazin Grün in Freiburg von Print auf online umgestellt und mich gebeten, für die zukünftig regelmäßig geplante Rubrik „Sag’s den Grünen“ den Auftakt zu machen. Geschrieben habe ich – noch im August, vor der Aufregung um eine unhygienische Großdemo in Berlin – etwas dazu, wie wir Grüne uns verhalten hätten, wenn die Corona-Pandemie vor 30 Jahren stattgefunden hätte? (Ja, es geht um die Frage der Orientierung an Wissenschaftlichkeit und Fakten …). Aber auch jenseits davon ist die erste Online-Ausgabe von Grün in Freiburg recht interessant geworden.
Die große Schaltkonferenz
Vor ziemlich genau 20 Jahren fand der „Virtuelle Parteitag“ der baden-württembergischen Grünen statt. Diese Pionierleistung habe ich damals in meiner Magisterarbeit (eine Zusammenfassung findet sich hier und – ganz knapp – hier) genauer angeschaut. Was macht einen Parteitag aus? Neben der parteiengesetzlich festgeschriebenen Aufgabe der innerparteilichen Meinungsbildung (und Wahlen und Abstimmungen) gehört dazu nach innen auch etwas, was ich als „innerparteiliche Sozialisation“ beschreiben würde: das „Familientreffen“, Kontakte knüpfen, Netzwerke bilden. Und nach außen ist ein Parteitag immer auch mediales Event, eine Möglichkeit, Themen zu setzen, in der öffentlichen Wahrnehmung vorzukommen. Beides verknüpft sich, wenn Journalist*innen, die eine Partei beobachten, auf dem Parteitag direkt mit Delegierten sprechen und ein Gefühl für die Stimmung in der Mitgliedschaft entwickeln. Für Redner*innen auf der Bühne ist die Parteitagshalle Echoraum – es wird schnell klar, wo der Beifall tost und was eher auf müde Gesichter stößt. Die Partei erfährt sich selbst.
Ein Parteitag ist also eine vielschichtige Angelegenheit. Einen solchen vor 20 Jahren ins Netz zu verlegen, hieß damals in Baden-Württemberg: über mehrere Tage lang in verschiedenen Diskussionsforen inhaltlich argumentieren, um dann zu festen Zeitpunkten mit einem gesicherten Verfahren Abstimmungen unter den Delegierten durchzuführen und so am Schluss zu einer Positionierung zu kommen, damals zu Ladenöffnungszeiten. Als einer der ersten Gehversuche der Parteien im Netz war der Virtuelle Parteitag ein überregionales Medienereignis. Die Meinungsbildung erfolgte schriftlich, kein Platz für große Reden. Damit zumindest ein bisschen vom Kennenlernen der anderen Delegierten und Mitglieder übrig blieb, gab es eine „Kaffeeecke“, ein nicht thematisch festgelegtes Diskussionsforum. Das alles, wie gesagt, über einen längeren Zeitraum gestreckt, also eher asynchron, und definitiv textbasiert.
Ein paar Jahre später landete der Virtuelle Parteitag zwar in der baden-württembergischen Satzung, ein paar andere Landesverbände machten ähnliches, aber insgesamt blieb es beim einmaligen Versuch. Die Differenz zu dem, wozu Parteitage in einer Partei dienen, war dann doch zu groß. Zudem gibt es rechtliche Hürden (Wahlen sind nur in Versammlungen möglich), geheime Abstimmungen sind kaum sicher umzusetzen, die Kosten waren ähnlich hoch wie für die Anmietung einer Halle, und die Idee, dass sich jetzt plötzlich große Teile der Mitgliederschaft beteiligen, erfüllte sich auch nicht – ein großer Anteil der Beiträge kam von wenigen „Powerusern“. Über das Geschlechterverhältnis will ich jetzt gar nicht reden.
Kurzum: bis vor kurzen hätte ich gesagt, dass es sich nicht lohnt, das Format Parteitag im Netz nachzubauen.
Kurz: Mobilfunk, Menschen und Menschenbilder
Der konkrete Anlass für diesen Blogbeitrag ist die heutige grüne Regionalkonferenz zum grünen Grundsatzprogramm in Mannheim. Rund 400 Parteimitglieder aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen waren da, Annalena Baerbock und Micha Kellner auch. Inspirierende Reden, grüne Werte in neuen Zeiten, auch ein Vortrag zu Foresight und sozio-technischen Gestaltungsfragen. Soweit alles nett – im zweiten Teil gab es dann sechs oder sieben etwas kleinere Runden zu einzelnen Themenkomplexen. „Den technologischen Wandel gestalten“, leider methodisch nur eine Aneinanderreihung von Meinungsbeiträgen. Viel Digitalisierung und Datenschutz, die einen mehr für Fortschritt und Technologieoffenheit, andere warnen vor Fallen der Großkonzerne und wollen Äcker gegen Gentechnik verteidigen. So weit, so grün.
Ein Beitrag ist mir im Gedächtnis geblieben, weil er mich etwas ins Grübeln gebracht hat. Thema … 5G, also der neue Mobilfunkstandard. Aber eigentlich ging es in der emotionalen Wortmeldung nicht darum, sondern um die Angst, fast schon Verzweiflung, dass wir uns nicht wehren gegen eine Entwicklung – nämlich den neuen Mobilfunkstandard – die dazu führen wird, dass unsere Kinder Gesundheitsschäden davontragen, dass der Klimawandel sich beschleunigt, und was der Übel mehr sind. Das müsse doch unabhängig untersucht werden, bitte nicht durch das Bundesamt für Strahlenschutz. Egal, wie irrational diese Annahmen sind – die Angst wirkte echt, ebenso die Erwartung, dass Grüne das doch bitte zum Thema machen sollen.
Mein Eindruck: derartige Haltungen nehmen zu. Nicht unbedingt innerhalb der grünen Partei, aber in der Gesellschaft. Ich vermute, dass schnell „recherchierbare“ Youtube-Filmchen und Kindergarteneltern-Whatsapp-Gruppen dazu beitragen; vielleicht erfolgt die memetische Verbreitung auch weitgehend analog. Im Einzelfall mag das ignorierbar sein; ob Menschen für derartige Theorien empfänglich sind oder nicht, mag auch eine individuelle, also letztlich psychologische Frage sein. Was in der Summe aber hart auf den Prüfstand gestellt wird, ist ein zentraler Bestandteil des grünen Wertekanons: dass Menschen nämlich vernunftbegabt sind, und dass sie im Grunde befähigt und willens sind, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Solche Wertorientierungen und Menschenbilder sind selbstverständlich idealtypisch zu denken; eine daran orientierte Politik sollte robust genug sein, auch dann zu funktionieren, wenn dieses Bild in Gänze nur auf wenige zutrifft. Trotzdem bringen mich Vorfälle wie dieser Diskussionsbeitrag ins Grübeln darüber, ob wir unseren Mitmenschen zuviel zutrauen.
P.S.: Währenddessen fordert die grüne Bundestagsfraktion ein Grundrecht auf Mobilfunk.
Photo of the week: Mauerpark graffiti II
Am Wochenende war ich in Berlin – unter anderem, um den 40. Geburtstag von Bündnis 90/Die Grünen (genauer gesagt: den 40. Geburtstag der Grünen und den 30. von Bündnis 90) zu feiern, mit 1500 anderen, in einer alten, etwas schlauchartigen Fabrikhalle, mit einer Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Talkrunden u.a. mit Luisa Neubauer und Hans-Christian Ströbele (der da eher altväterlich rüberkam) und mit Aminata Touré, der Vizepräsidentin des Landtags Schleswig-Holstein mit Joschka Fischer. Die Handyfotos davon sind aber nicht wirklich was geworden. Deswegen lieber ein anderes Foto von dem Berlinbesuch. Wie es war – dazu stand in einigen Zeitungen etwas. Ich habe viele Leute getroffen, mich über die Akustik geärgert und über das Buffet (und den Auftritt von einer u.a. aus AnnenMayKannetereit gebildeten Band) gefreut. Die Steinmeier-Rede war gut, insgesamt war die Geburtstagsfeier angemessen gestaltet, die am Schluss verteilte Chronik gefällt mir und zeigt, wie 40 Jahre deutsche Geschichte und 40 Jahre Parteigeschichte doch recht eng ineinandergreifen – und wie weit vieles, was doch erst vorgestern war, schon Jahre zurückliegt.