Vor ein paar Tagen wurden die Finalisten für den diesjährigen Hugo-Award von der Worldcon Glasgow veröffentlicht. Vier der sechs für den besten Roman nominierten Werke habe ich gelesen (und finde sie dort sehr zu recht platziert), in den anderen Kategorien sind es jeweils nur ein oder zwei Einträge, die ich kenne. Was mich zu der Frage bringt: war jemand schon mal auf einer Worldcon? Bei Riesenveranstaltungen bin ich immer so ein bisschen skeptisch, ist nicht wirklich meine bevorzugte Umwelt – gleichzeitig liegt Glasgow halt tatsächlich in einer – in den hiesigen Sommerferien – erreichbaren Entfernung. Will ich da hin?
Damit zu dem, was ich im März angeguckt und gelesen habe – im Rückblick einiges, Pendelstrecken zahlen sich aus …
Angeguckt habe ich mit meinen inzwischen schon sehr jugendlichen Kindern die Netflix-Serie „The Last Airbender“ (die Realverfilmung von 2024), die solide gemacht ist, auch wenn ich an der einen oder anderen Stelle die Greenscreens bzw. die digitale Trickkiste nicht ganz perfekt eingesetzt finde. Die Geschichte selbst ist aus der Zeichentrickserie bekannt, hier aber nochmal verdichtet. Im Hintergrund ziemlich viel Trauma, im Vordergrund hübsche Landschaften, fantastische Orte, fliegende Tiere und nachvollziehbare Zauberkräfte.
Angeschaut habe ich mir weiter „Cloud Atlas“ (2012) – zum zweiten Mal, das Buch von David Mitchell habe ich ebenfalls schon ein- oder zweimal gelesen. Und es lohnt sich, diesen sehr langen Film zweimal zu sehen – die (mit der Rahmenhandlung) sieben Zeitebenen sind sonst doch etwas verwirrend. Und das eine oder andere Detail in der Verknüpfung zwischen den Zeitebenen wird auch erst beim zweiten Hinsehen sichtbar. Was ich nicht wusste, und erst im Nachhinein gelernt habe: die Schauspieler*innen in den Zeitebenen sind zu großen Teilen identisch, wechseln allerdings wild Alter, z.T. auch ethnische Herkunft und Geschlecht. Das ist dann doch ziemlich eindrucksvoll.
Ähnlich unverfilmbar und ähnlich lang (und vermutlich ebenfalls besser, wenn er ein zweites Mal angeschaut wird): der zweite Teil von „Dune“ (2024) von Denis Villeneuve läuft jetzt im Kino. Das erste Dune-Buch ist in der Verfilmung damit in Teil 1 und 2 rund fünf Stunden lang, das ist einiges – und die Dune-Serie hätte ja auch noch einige Nachfolgebände zu bieten, dazu gleich. Während Teil 1 viel Exposition bot, und mir vor allem in seiner Ästhetik (samt brutalistischer Raumschiffe) in Erinnerung geblieben ist, ist Teil 2 sehr viel handlungsreicher. Paul Atreides schließt sich den Fremen an, wird als deren Messias anerkannt, reitet auf Sandwürmern und greift schließlich das Imperium an. Das hat epischen Charakter, und zeigt, was Kino kann. Einige Details fand ich bemerkenswert, etwa die Entscheidung, Pauls Schwester Alia – aufgrund einer Zeitraffung gegenüber dem Buch – größtenteils nur als voll bewussten Embryo zu zeigen, oder auch die in Infrarotschwarzweiß gefilmten Szenen auf Giedi Prime, die eine ganz eigene Fremdartigkeit zum Ausdruck bringen.
Angeblich plant Villeneuve einen dritten Teil, der dann vermutlich Dune Messiah als Ausgangspunkt haben würde. Das ist insofern spannend, als dieses Buch noch viel expliziter als der erste Band Religionskritik und die unausweichlichen, teilweise sogar notwendigen Verführungen von Macht thematisiert. Ich habe den Film zum Anlass genommen, sowohl Dune Messiah (1969) als auch Children of Dune (1976) zu lesen. Ich meine, erneut zu lesen, mindestens den ersten Band, aber meiner Erinnerung nach auch diese beiden Bände habe ich als Teenager gelesen, der nahen öffentlichen Bibliothek sei Dank. In Erinnerung geblieben war mit aber nur der vage arabisch-orientalistisch angehauchte Mystizismus und die Ökologie des Wüstenplaneten (die hier auch handlungsrelevant wird). Beide Bände lassen sich auch heute noch erstaunlich gut lesen; zwei Punkte, an denen SF aus den 1960ern und 1970ern sonst gerne schwierig wird, sind hier weniger problematisch: da zur Vorgeschichte von Dune der „Butler’sche Jihad“ gehört, in dem jegliche Form von Computern und denkenden Maschinen verboten wurde (und wohl auch die meisten Formen der Gentechnik, künstlicher Befruchtung usw.) gibt es kein technologischen Stolpersteine. Das alle Gebäude etc. aus „Plastel“ sind – na gut, warum nicht. Und auch bezüglich der Geschlechterverhältnisse sind die beiden Büchern über weite Strecken ihren Zeitgenossen voraus, etwa mit Blick auf Fremen-Kriegerinnen oder auf den Bechdel-Test. Sehr dem damaligen Zeitgeist verhaftet bleibt aber die spirituelle Grundtönung. Selbst wenn berücksichtigt wird, dass es eben auch darum geht, Religion als Machtinstrument zu dekonstruieren, so ist der Kern des Buchs eben eine bewusstseinserweiternde Droge, es gibt Wunder, Visionen und Verwandlungen und das, was damals „Psi-Kräfte“ hieß, taucht auch auf. Dennoch sind Dune Messiah und Children of Dune – als kritische Auseinandersetzung mit freiem Willen, mit Propaganda, Macht und Herrschaftstechniken gelesen – durchaus weiterhin aktuell.
Einige dieser philosophischen Fragen tauchen auch in Athos 2643 von Nils Westerboer (2022) auf. Das Buch hat wohl den Deutschen Science-Fiction-Preis 2023 bekommen, und das zu Recht. Ein bisschen erinnerte mich Westerboers Stil und Thema an Stanislaw Lem. Athos 2643 ist jedenfalls mit viel Liebe zum Detail geschrieben, von der Sprache und dem Nichterklären von zukünftigen Selbstverständlichkeiten bis hin zu Einzelheiten des teilweise absurd anmutenden Settings, das aber im Buch dann doch wieder passt. Worum geht es? Oberflächlich darum, dass ein Inquisitor in einer Zukunft, in der die Erde nicht mehr bewohnbar ist, und die Menschheit ins Sonnensystem gezogen ist, auf einen Neptunmond reist, um dort ein Verbrechen aufzuklären/zu registrieren und insbesondere die Rolle der den Mond Athos steuernden KI zu klären, diese ggf. zu resetten. Begleitet wird er von einem Hologram, aus deren Perspektive dann große Teil des Buches geschrieben sind. Nach und nach wird deutlich, dass die auf diesem Mond dahinvegetierenden Mönche nicht sind, was sie vorgeben – und dass „Para-Rüd“, unsere Hauptfigur, ebenfalls verborgene Tiefen besitzt. Nebenbei streift Westerboer große Fragen. Ich hatte, bevor ich dieses Buch gelesen habe, mal auf Mastodon gefragt, ob es Literatur gibt, die sich mit unzuverlässigen KIs a la ChatGPT befasst. In gewisser Weise macht Athos 2643 das – jedenfalls sind die großen künstlichen Intelligenzen, die Monde und Raumschiffe steuern, nicht unbedingt verlässlich, und nur sehr indirekt zu programmieren. Insgesamt ein sehr eigenständiges Buch weit weg von Weltraumschlachten und Glitzerwelten.
Dann habe ich gleich drei Bücher von Cory Doctorow gelesen. Vor der Klammer: der eine oder andere Infodump hätte in allen drei – sehr unterschiedlichen – Büchern ruhig weggelassen werden können; an der einen oder anderen Stelle klangen die sehr unterschiedlichen Protagonisten alle wie der netzpolitische Aktivist Doctorow. Unabhängig davon kann ich alle drei Bücher als packende Lektüre mit Vision durchaus empfehlen. In The Bezzle (2024) erzählt Martin Hench, als „forensic accountant“ Hauptfigur von Red Team Blues eine wilde Geschichte aus der Zeit der Dot-Com-Millionäre, in der – in dieser Reihenfolge – kalifornische Inseln, Pyramidenschema, Gefängnisse, Drogen, Rollenspielgruppen und Mafiamethoden vorkommen. Wie auch schon der Vorgängerband lässt sich diese Geschichte, eher Novelle als Roman, schnell weglesen (und ruft geradezu nach einer Verfilmung).
Sehr viel umfangreicher ist Doctorows Buch Attack Surface (2020), eine Quasi-Fortsetzung seiner Little-Brother-Reihe, die ein paar Jahre in der Zukunft spielt. Während die Hauptfigur dieser Serie der Gamer Marcus Yallow ist, ist die Protagonistin von Attack Surface, Masha Maximow, dort nur eine Nebenfigur. Masha arbeitet für die Überwachungsbehörde DHS bzw. deren privatisierte Zulieferer. Sie ist extrem intelligent, schreibt Software, um Netzwerke politischer Gruppen auszuhorchen – und extrem gut darin, ihre eigenen Widersprüche zu kompartmentalisieren. Zu Beginn des Buchs arbeitet sie in einer osteuropäischen/post-sowjetischen Diktatur – beruflich, um Dissident*innen auszuspionieren, privat tut sie ihr bestes, diesen Tipps zu geben und sie vor ihren eigenen Überwachungs- und Kontrolltechniken zu warnen. Dass geht nicht lange gut, und es ist nicht das erste Mal, dass Masha zwischen Arbeit und Überzeugung zerrissen wird. Nur: einfach so aufhören kann sie in ihrer Branche auch nicht … Neben Überwachungstechnologie, Netzwerkanalyse und Hintertüren etwa in autonomen Autos geht es in diesem Buch auch um Aktivismus. Insgesamt fühlt sich das Buch sehr gegenwärtig an. Und den real möglichen utopischen Überschuss großer Protestbewegungen hat Doctorow mit „But every now and again, you get the kind of protest that feels like something vast and unsuspected, waking from slumber. It’s something about how the people look at each other […] They’re people who thought they were heading to the first kind of protest, the dutiful exercise, only to discover that they were part of a vast movement.“ sehr gut wiedergegeben.
Wie schon in den Little-Brother-Büchern und in Walkaway spielt Aktivismus auch in seiner – hm – ambivalenten Dystopie The Lost Cause (2023) eine große Rolle. Doctorows Erzähler ist hier ein 19-jähriger Teenager, Brooks Palazzo, der in einer kalifornischen Stadt der 2060er Jahre oder so lebt. Der Klimawandel ist weiter fortgeschritten, diverse Städte sind versunken, Waldbrände, Seuchen, Dürren usw. gehören zur Normalität, ebenso jedoch zeigen der Green New Deal und die weltweite Blauhelm-Bewegung aus freiwilligen Katastrophen- und Klimaanpassungshelfer*innen erste Erfolge. Unsere Gegenwart hat jedoch ihre Spuren hinterlassen – sei es die libertäre „Flottila“, seien es die Veteran*innen der MAGA-Bewegung, die den Kampf für eine bessere Welt immer noch als Angriff auf ihre Werte verstehen, und hier zum Terrorismus greifen. Die Zukunft, die Doctorow hier aufmacht, ist eine, in der letztlich alle Flüchtlinge sind und fast jede*r eine tragische Geschichte hat. Doctorow-typisch (abgesehen von dem einen oder anderen Infodump) packend geschrieben, der optimistische und etwas naive Blick der Hauptperson ist gut getroffen. Auf der Mikroebene ist das Buch hoffnungsvoll, auch wenn die reale Lage diese Hoffnung immer wieder einreißt. Warum also „ambivalente Dystopie“? Le Guins Dispossessed wird gerne als ambivalente Utopie beschrieben: ein Buch, in dem eine (anarcho-syndikalistische) Utopie ausgebreitet wird, das aber gerade deswegen bis heute interessant ist, weil auch diese Utopie ihre Tücken hat. Doctorow schreibt in The Lost Cause über eine Generation, die anpackt, um die Folgen des Klimawandels abzumildern, hier geht es insbesondere darum, wie zehntausende Binnenflüchtlinge in kürzester Zeit untergebracht und Städte gleichzeitig resilienter werden können. Diese sehr konkrete Aktivismus ist das utopische Element dieses Buchs – gleichzeitig ist The Lost Cause aber doch eine Dystopie mit Millionen Toten im Hintergrund, mit Traumata, mit Terrorismus, mit Menschen, die weiterhin nicht einsehen wollen, dass die Klimakrise auch sie betrifft. Resignieren oder trotzdem (mit jugendlichem Überschwang) etwas tun, auch wenn die nächste Katastrophe schon um die Ecke lauert? Puh.
Noch etwas ganz anderes (wobei es auch hier um Optimismus im Zeichen der Katastrophe geht): die drei Bände der Orconomics-Reihe von J. Zachary Pike (Orconomics [2014], Son of a Liche [2018] und Dragonfired [2023]). Auf den ersten Blick die übliche Fantasy-Sage: ein paar wild zusammengewürfelte Held*innen – ein Zwerg, eine Zauberin, ein Barde usw. – gehen auf einen Quest in der Welt von Arth, und nach und nach wird es komplizierter. Zum Glück sind diese drei Bände gleich auf mehreren Ebenen anders. Zum einen erinnern sie sprachlich und in der Nähe zu den Schwächen und Stärken der einzelnen Figuren – und insbesondere der Underdogs – an den meist feinen und manchmal groben Humor von Terry Pratchett, zum anderen wird schnell klar, dass die Trennlinie zwischen gut und böse gar nicht so einfach zu ziehen ist, und mehrfach umgeworfen werden muss, und zum dritten lassen sich die drei Bände sowohl als spannende Geschichte als auch als Satire auf kapitalistische Verhältnisse, Diskriminierung, Bürokratien und Verschwörungen lesen.
Last but not least: kein Science-Fiction-Buch, aber trotzdem empfehlenswert: Harry Cliffs How to Make an Apple Pie from Scratch (2021) ist eine sehr locker geschriebene kleine Geschichte des Universums. Cliff arbeitet am LHCb-Experiment des LHC, ist fachlich an den hier dargestellten Themen also sehr nah dran, und er kann erzählen – wie nach und nach aus Naturgeschichte eine Theorie chemischer Elemente, dann eine physikalische Theorie von Elektronen, Protonen und Neutronen, dann von Quarks und Photonen und schließlich eine von Quantenfeldern wurde, aus denen unser Universum besteht. Aha-Erlebnis dabei: in wie kurzer Zeit zwischen Bohr, Einstein und den Entdeckungen der 1970er, 1980er und 1990er Jahre das physikalische Verständnis komplett auf den Kopf gestellt wurde. Das Buch vermittelt mir zumindest das Gefühl, jetzt mal halbwegs verstanden zu haben, was wir wissen – und was wir noch nicht wissen, und vielleicht nie wissen werden. Und weil es von 2021 ist und immer wieder laufende Experimente erwähnt werden, weckt es die Neugier, nachzugucken, ob LHC & Co. inzwischen mehr rausgekriegt haben. Faszinierend!