Lasst euch nicht verhärten

Als ich vor ein paar Wochen erfah­ren habe, dass ich als baden-würt­tem­ber­gi­scher Ersatz­de­le­gier­ter für den Län­der­rat im hes­si­schen Bad Vil­bel ein­sprin­gen soll, bin ich noch davon aus­ge­gan­gen, dass das eine eher mäßig span­nen­de Sache wer­den würde. 

Der Län­der­rat – also der klei­ne Par­tei­tag von Bünd­nis 90/Die Grü­nen mit rund 100 Dele­gier­ten, vie­le davon „Funktionär*innen“ – ist übli­cher­wei­se viel weni­ger dyna­misch als unse­re gro­ßen Par­tei­ta­ge mit rund 800 Dele­gier­ten. Und dies­mal ging es auch mit der The­men­set­zung – Kli­ma­schutz in Ver­bin­dung mit Sicher­heit und Wirt­schaft – und dem Tagungs­ort in der Nähe von Frank­furt ganz offen­sicht­lich dar­um, Tarek Al-Wazir und den hes­si­schen Grü­nen Rücken­wind für die Land­tags­wahl im Herbst zu geben.

Der Län­der­rat, zu dem ich heu­te mor­gen durch­aus mit Sor­ge auf­ge­bro­chen bin, stand dann unter ganz ande­ren Vor­zei­chen. Zum einen, weil die Debat­ten der letz­ten Tage um Hei­zungs­ge­setz und Kli­ma­schutz schwie­rig waren, zum ande­ren aber, weil das eigent­lich wich­ti­ge The­ma unter dem Punkt Ver­schie­de­nes noch auf die Tages­ord­nung gesetzt wor­den war: die Fra­ge, wie wir uns als Par­tei zum euro­päi­schen Asyl­kom­pro­miss des Rats ver­hal­ten wol­len – und wie das dies­be­züg­li­che Han­deln der grü­nen Regie­rungs­mit­glie­der bewer­tet wer­den soll. 

Seit Don­ners­tag letz­ter Woche hat­te die­se Debat­te zu einer mas­si­ven Pola­ri­sie­rung geführt – man­che sahen alte Flü­gel­kämp­fe wie­der auf­le­ben, es gab sich jeweils wider­spre­chen­de State­ments der ent­spre­chen­den Per­so­nen aus dem Bun­des­vor­stand und der Frak­ti­ons­spit­ze, auf Son­der­sit­zun­gen und in Video­kon­fe­ren­zen und Web­i­na­ren wur­de hit­zig dis­ku­tiert. Der ent­spre­chen­de Antrag war letzt­lich mit über 50 Ände­rungs­an­trä­gen bestückt.

Der Län­der­rat heu­te hat­te inso­fern zwei sehr distink­te Hälf­ten. Im ers­ten Teil wur­de ver­sucht, einen Bogen von Kli­ma­schutz (als Schutz der Enkel und der Rentner*innen) zu sozia­ler Sicher­heit und Wirt­schafts­kraft zu zie­hen. Zu die­ser Beschluss­vor­la­ge gab es kei­ne Ände­run­gen, und die Debat­te wirk­te etwas kraft­los und unzu­sam­men­hän­gend (auch wenn ein paar gute Reden gehal­ten wur­den). Immer­hin: Schul­ter­klop­fen für Tarek Al-Wazir und von Her­zen kom­men­de Stan­ding Ova­tions für Robert Habeck.

Teil zwei, die Debat­te um Flucht und Migra­ti­on, war dann deut­lich ange­spann­ter und span­nen­der, mit sehr vie­len Wort­mel­dun­gen, und par­al­lel bis kurz vor Abstim­mung lau­fen­den Ver­hand­lun­gen dar­über, wel­che der Ände­rungs­an­trä­ge über­nom­men wer­den, und wo es am Ende zu Abstim­mun­gen kommt. Omid Nou­ri­pour setz­te als Bun­des­vor­sit­zen­der zu Beginn die Ton­la­ge – mit Blick auf die eige­ne Flucht­er­fah­rung, mit einer Debat­te auf Augen­hö­he und mit Respekt für die jeweils ande­re Posi­ti­on sowie mit einem sehr kla­ren Bekennt­nis dazu, dass Grü­ne sich nach wie vor als Par­tei sehen, der es um den Schutz flüch­ten­der Men­schen geht, und die sich nach wie vor als Part­ner von Pro Asyl und ande­ren Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen sieht.

Erik Mar­quardt aus dem Euro­par­la­ment äußer­te schar­fe inhalt­li­che Kri­tik, beton­te aber eben­falls, dass die Gegner*innen eines huma­ni­tä­ren Kur­ses in der Flucht- und Migra­ti­ons­po­li­tik nicht Grü­ne sind, son­dern ande­re Par­tei­en in Deutsch­land und ande­re Staa­ten in Euro­pa. Dass es Einig­keit in den Zie­len gibt, wur­de nicht zuletzt kör­per­sprach­lich deut­lich – Bun­des­vor­stand, Regie­rungs­mit­glie­der, Frak­ti­ons­vor­stand und Erik Mar­quardt saßen in der ers­ten Rei­he, umarm­ten sich nach den Reden, spra­chen immer wie­der mit­ein­an­der und mach­ten auch so deut­lich, dass es eben nicht um Basis gegen Regie­rung geht, son­dern um das gemein­sa­me Rin­gen um eine Abwägung.

Das wur­de auch in der Rede von Anna­le­na Baer­bock deut­lich, die sehe tie­fen Ein­blick in ihren Abwä­gungs­pro­zess, in ihre eige­ne Zer­ris­sen­heit gab – „mei­ne Waa­ge stand bei 51 zu 49“. Auch hier wur­de Respekt für die jeweils ande­re Posi­ti­on deut­lich, und das war eben kei­ne weich­zeich­nen­de Spra­che, son­dern ein kla­res Aus­spre­chen des Dilem­mas und der Tat­sa­che, dass es kei­ne gute Lösung gibt, jeden­falls nicht in einer EU, in der Deutsch­land und Luxem­burg asyl­po­li­tisch weit­ge­hend allei­ne stehen.

Die schles­wig-hol­stei­ni­sche Gesell­schafts- und Inte­gra­ti­ons­mi­nis­te­rin Ami­na­ta Tou­ré hielt eine der emo­tio­nals­ten Reden des Par­tei­tags und mach­te deut­lich, dass sie, dass ihre Fami­lie sehr wahr­schein­lich zu denen gehört hät­te, die nach der Posi­ti­on des Rates wegen gerin­ger Erfolgs­aus­sich­ten an der EU-Gren­ze inhaf­tiert wor­den wäre. Nicht nur hier zeig­te sich, dass die Viel­falt von Erfah­rungs­hin­ter­grün­den inzwi­schen etwas ist, dass Grü­ne aus­zeich­net und Tie­fe in eine Debat­te bringt. 

Im Ergeb­nis rück­te die Par­tei auf die­sem Par­tei­tag zusam­men. Es gab eine ein­zi­ge kon­tro­ver­se Abstim­mung dazu, in wel­cher Wei­se Erwar­tun­gen an den jetzt lau­fen­den Tri­log-Pro­zess for­mu­liert wer­den sol­len, und ob den grü­nen Regie­rungs­mit­glie­der hier Vor­ga­ben gemacht wer­den sol­len. Eine gro­ße Mehr­heit votier­te hier für einen zwi­schen Bun­des­vor­stand, Euro­pa­frak­ti­on und Außen­mi­nis­te­rin aus­ge­han­del­ten Kom­pro­miss, der Feh­ler benennt und kla­re Erwar­tun­gen for­mu­lier. Und deut­lich macht, dass alle Ebe­nen grü­ner Poli­tik sich für Ver­bes­se­run­gen im wei­te­ren Pro­zess ein­set­zen sollen. 

Der Antrag der Grü­nen Jugend, hier rote Lini­en ein­zu­zie­hen, fand kei­ne Mehr­heit – ich kann mir auch schlecht vor­stel­len, wie eine Außen­mi­nis­te­rin ver­han­deln soll, wenn die Bewer­tung des mög­li­chen Ergeb­nis­ses schon vor­weg genom­men wurde.

Aus mei­ner Sicht ein sehr gutes Ergeb­nis für einen Par­tei­tag, der als Zer­reiß­pro­be vor­be­rich­tet wur­de. Das war kei­ne Zer­reiß­pro­be, kein Kurs­wech­sel, kein Auf­ge­ben grü­ner Posi­tio­nen, son­dern ein Abgleich der grü­nen Visi­on, deren Rich­tig­keit klar bestä­tigt wur­de, mit dem, was aktu­ell real­po­li­tisch mach­bar ist. Das zu kön­nen, zeigt für mich, dass wir eine ler­nen­de Par­tei sind, und dass wir kon­tro­vers und kon­struk­tiv kön­nen, ohne auf Kra­wall zu setzen.

Ich bin mit Sor­gen los­ge­fah­ren und fah­re mit dem posi­ti­ven Gefühl zurück, in einer Par­tei zu sein, die inzwi­schen eine her­vor­ra­gen­de Debat­ten­kul­tur ent­wi­ckelt hat und auch in Regie­rungs­zei­ten nicht ver­lernt hat, mit Ver­nunft, Empa­thie und Emo­tio­nen schwie­ri­ge The­men aus­zu­han­deln. Ger­ne mehr davon; ger­ne auch in For­ma­ten, die Regie­rungs­ent­schei­dun­gen vor­ge­la­gert sind. Wir als Par­tei sind bereit dazu. 

Dazu pass­te dann auch das Bier­mann-Zitat, das Robert Habeck als Rah­men sei­ner Rede ver­wen­de­te: Du, lass dich nicht ver­här­ten / in die­ser har­ten Zeit. Das trifft die Her­aus­for­de­rung gut, vor der wir stehen.

P.S.: Die bei­den Beschlüs­se sind – dank papier­lo­sem Par­tei­tag und Antrags­grün – schon im Par­tei­tags­sys­tem abruf­bar. Das geht inzwi­schen eben­so wie die Anzei­ge der Ände­rungs­an­trä­ge und der Ver­fah­rens schnell und komfortabel.

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