Jetzt also doch: Elon Musk kauft – für 44 Mrd. Dollar – Twitter, der Widerstand dagegen wurde, wohl nicht ganz freiwillig, aufgegeben.
Gestern Abend, als sich diese Nachricht verbreitete, explodierte Twitter geradezu – von Spaces zum Ausdenken der besten Beleidigungen, um Musks Einladung auf die Probe zu stellen, dass auch seine härtesten Kritiker*innen doch bitte bleiben sollen, schließlich gehe es ihm um „free speech“ bis hin zu Debatten darüber, ob es Zeit ist, das Medium zu wechseln, oder ob mehr Regulierung im Sinne des „Digital Services Act“ der Europäischen Union helfen könnte. Dazwischen immer wieder Hinweise darauf, wer unter welcher Adresse nun – zunächst einmal, zusätzlich oder temporär – bei Mastodon zu finden ist.
Um die Wucht zu verstehen, die diese Transaktion für viele Menschen, die Twitter nutzen, entfaltet, hilft es, sich die unterschiedlichen Ebenen vor Augen zu halten, auf denen Twitter existiert: die Infrastruktur und Plattform samt der (codierten oder gesetzten) Hausregeln, die von außen gesetzte Regulation und die durch Nutzungspraktiken verfestigte Vorstellung von Twitter als „Ort“.
Oder, um es plastischer zu machen: das empfundene Twitter, der in Nutzungspraxis täglich neu konstruierte Ort, ist für viele Nutzer*innen so etwas wie – um Beispiele aus den gestrigen Debatten zu nehmen – ein Stadtplatz, ein Club, ein öffentlicher Raum, ein Zuhause, vielleicht sogar ein Wohnzimmer. Wenn ich das zusammenführe, wird Twitter als eine Art „öffentliches Wohnzimmer“ empfunden.
Eigentlich müsste ich schreiben: als eine Vielzahl sich teilweise überlappender öffentlicher Wohnzimmer – aber das führt zu weit.
Jetzt kommen die anderen Ebenen ins Spiel, die im „doing“ und Erleben gerne außen vor gelassen werden.
Das eine sind die von außen gesetzten Regeln, also zum Beispiel das Strafrecht, das Netzdurchsetzungsgesetz, der DSA – ob und wie weit diese durchgesetzt werden, ist nicht so klar. Aber prinzipiell gelten sie in diesem öffentlichen Wohnzimmer. Genauso wie ein Haufen anderer Dinge – Brandschutzbestimmungen und ähnliche Bürokratismen, die erst im Ernstfall relevant und sichtbar werden, und ansonsten eher stören. Ach ja: und auch App-Stores wie die von Apple und Google setzen externe Regeln.
Diese von außen gesetzten Regeln, alles, was politisch reguliert wird, gelten für Musk-Twitter genauso wie für das nostalgisch verklärte Twitter von vorgestern. (Für Mastodon übrigens möglicherweise nicht – je nachdem, wie groß die genutzte Instanz ist, und ob sie damit rechtlich als Social-Media-Plattform zählt oder nicht.)
Bleibt die Ebene der Infrastruktur und der Hausregeln, die an der Frage des Eigentums hängen. Was gerne verdrängt wurde und gestern sichtbar wurde: das „öffentliche Wohnzimmer“ gehört jemand. Und zwar einer AG. Es ist, um im Bild zu bleiben, eigentlich eher ein Starbucks, Teil einer großen Kette, als der groß gewordene nette Club von Nebenan. Und es geht drum, Geld zu verdienen – deswegen die Werbeplakate und die komischen Abo-Angebote.
Dieses „Starbucks-Twitter“ – also die öffentlichen Wohnzimmer einer weitgehend anonymen AG – wird jetzt an Musk verkauft. Er kann – im Rahmen der politischen Regulierung – die Hausregeln verändern, umdekorieren, also zum Beispiel Herzen durch Sterne ersetzen, dem ganzen einen neuen Namen geben, Leute rauswerfen und Leute reinlassen, die bisher Hausverbot hatten. Das hat das Potenzial, Twitter deutlich zu verändern.
Gleichzeitig ist Twitter – da endet die Wohnzimmer-Metapher – eben fast ausschließlich Kommunikation. Es werden keine Heißgetränke verkauft, das änderbare Maß an Dekoration ist begrenzt, weil nirgendwo Sessel stehen. Was sich ändern lässt, wird dagegen umso stärker beachtet. Und alles, was direkt oder indirekt Einfluss auf die bei Twitter stattfindende Kommunikation nimmt, ruft Argwohn hervor. Da wirkt „free speech“ wie eine Drohung. Und auch wenn das ganze bisher eher wie ein Midlife-Crisis-Akt eines beleidigten Milliardärs wirkt – es gibt auch ökonomische Stellschrauben. Tesla lässt grüßen.
Es ist also aktuell unsicher, was mit Twitter weiter geschieht. Und mehr noch: das Wissen über diese Unsicherheit stellt einen Routinebruch dar, macht sichtbar, wie wackelig das Fundament des öffentlichen Wohnzimmers ist, und multipliziert damit Unsicherheit.
Gleichzeitig bleibt Twitter im Wortsinn nutzergeneriert. Ohne die dort stattfindende Kommunikation und ohne das Netzwerk der Nutzer*innen ist es nichts. Jeder kommunikative Akt verändert und gestaltet Twitter, und jedes der abertausend sich überlappenden Wohnzimmer sieht von Tag zu Tag anders aus. Diese dritte Ebene interagiert mit den anderen Ebenen – Hausregeln der Plattform, extern gesetzte Regeln – sie ist nicht unabhängig davon, aber wird such nicht durch diese determiniert. Hier liegt die eigentliche Stärke einer lebendigen sozialen Plattform.
Für einen Moment ist das Räderwerk sichtbar geworden. Ein heller Blitz hat es erleuchtet. Das ist ein Schockmoment, der zu einem Momentum werden kann … oder, wenn die Musk-Neuerungen eher inkrementell umgesetzt werden und sich das gespürte Twitter von Tag zu Tag nur wenig ändert, dann kann dieser Moment auch wieder verebben.
Twitter kann damit drei Pfade einschlagen:
Es kann sich erstens „einpendeln“ und mehr oder weniger weitermachen wie bisher. Vielleicht ändert Musk das eine oder andere, solange es nicht zur großen Disruption kommt, überwiegt die Bequemlichkeit, im bekannten Wohnzimmer zu bleiben, auch wenn die Kette jetzt jemand anderem gehört.
Zweitens kann es zum Exodus kommen. Dass das möglich ist, haben StudiVZ und Livejournal, Tumblr und IRC gezeigt. Auch wenn sie „to big to fail“ wirken mögen, leben soziale Netzwerke nicht ewig. Je älter und etablierter sie sind, desto härter wird ein solcher Exodus. Es bleibt eine Geisterstadt wie Facebook zurück. Der Neuanfang lockt – beispielsweise bei Mastodon, auch wenn das ein bisschen wie das alternative, selbstverwaltete Zentrum wirkt, mit seltsamen Plenumsregeln und Do-it-yourself-Basteleien. Ich bin gespannt, ob die größeren Mastodon-Instanzen einen Ansturm neuer Leute aushalten würden, technisch gesehen wie auch kulturell, oder ob daraus ein „ewiger September“ wird (siehe Usenet-Geschichte).
Zwei A ist also ein Exodus ins „Fediverse“, Option zwei B wäre das findige Start-up oder die superagile Verwaltung, die den Moment nutzt, um eine bessere Plattform auf den Markt zu werfen. Aber eigentlich ist es dafür schon zu spät. Und die von Jan Böhmermann gestern Abend imaginierte pan-europäische öffentliche-rechtliche Mastodon-Instanz sehe ich noch nicht.
Drittens kann der Moment auch katalytisch in dem Sinne sein, dass sich bei den extern gesetzten Regeln nochmal etwas tut. Für DSA kommt der Kauf ein paar Tage zu spät, dennoch führt er vielleicht dazu, dass über Themen wie Rechtsdurchsetzung, Interoperabilität, Transparenz und quasi-öffentliche Dienstleistungen noch einmal neu und vertieft nachgedacht wird.
Insofern mag der Kauf von Twitter durch Musk nicht nur dessen Image als Bond-Bösewicht festigen, sondern so eine Art heilsamer Schockmoment darstellen. Ob er das ist, liegt auch in unserer Hand. Und sonst bleibt eben Gartenarbeit.