Draußen wird es allmählich frühlingshaft – Zeit, meine Science-Fiction- und Fantasy-Lektüre dieses Winters mal zusammenzufassen. Wie auch bei den letzten Malen beginne ich mit Funk und Fernsehen.
Neben „Don’t look up“ – gerade in der Überzeichnung und dem Verzicht auf ein Happy End aus meiner Sicht eine gelungene filmische Auseinandersetzung mit den Mechanismen der medialen und gesellschaftlichen Krisenblindheit – und dem großartigen Disney-Film „Encanto“ waren das vor allem die aktuellen SF-Serien. „Foundation“ ist nicht dabei, weil ich bisher zu geizig war, auch noch ein Apple-TV-Abo abzuschließen. Wie überhaupt die Multiplikation der Streamingdienste zu einer ähnlichen Situation führt wie bei den Tageszeitungsabos: Ich bin gerne bereit, für ein oder zwei Dienste zehn, zwanzig Euro im Monat als „Flatrate“ auszugeben – aber eben nicht für eine Vielzahl. Insbesondere bei der vierten Staffel von „Star Trek: Discovery“ nervte mich das anfangs; diese sollte anfangs in Europa ja gar nicht gezeigt werden, um dann irgendwann als Schmuckstück eines Star-Trek-Kanals von Paramount zu dienen. Dann sickerte durch, dass Pluto TV sie zeigen soll (Internet-Live-TV, keine Ahnung, wer so was braucht …), und schließlich gab es dann doch die Möglichkeit, die Staffel zu kaufen und anzugucken. Nichts mit Streaming-Flatrate, aber immerhin.
Und inhaltlich: die große externe Bedrohung (hier eine Art wild durchs All ziehendes künstliches schwarzes Loch) passt zur Weltuntergangsstimmung, für die Serie ST: Discovery fand ich das allerdings etwas dick aufgetragen und hätte mir „kleinere“ Probleme gewünscht. Auch die reichen ja durchaus aus, um einen Handlungsfaden über mehrere Episoden zu spinnen. Gut gefallen hat mir die Entwicklung der verschiedenen Hauptpersonen in ihrer ganzen Konflikthaftigkeit, gut gefallen hat mir auch alles, was mit Politik und Intrige zu tun hat.
Diesbezüglich war allerdings „The Expanse“ deutlich ertragreicher – ich habe jetzt erst mal Staffel 5 nachgeholt, und ja: das war fesselndes Kino. Die letzten sechs Folgen aus Staffel 6 will ich jetzt nicht alle auf einmal anschauen. Etwas nervig, aber das muss wohl so sein, wenn es um Space Opera geht – ein ganzes Sonnensystem, aber zentral für die Handlung und miteinander vielfältig verwoben sind natürlich immer wieder die gleichen ein bis zwei Dutzend Personen. Oder: Superhelden in disguise.
Angeschaut habe ich mir auch „Doctor Who Flux“ – ebenfalls mit dick aufgetragenen universalem Untergangsszenario. Okay, ganz nett, ich mag die zentralen Figuren, aber so richtig großartig war es dann auch wieder nicht, bisher jedenfalls.
Bleibt bei den Serien noch „Cowboy Bebop“. Ich kannte die Comics bzw. die vorherige Animationsverfilmung nicht, und war – minus der übertriebenen Gewalt, teilweise auch minus des Frauenbildes – durchaus angetan von dieser ersten Staffel und dem mal etwas anderen Setting und der damit verbundenen Ästhetik, die cyberpunkiges, dreckige und düstere Raumschiffe mit mid century (siehe dazu auch Relentless Sky unten) und comicbunten Farben mischt. Schade, dass es keine zweite Staffel geben wird.
Damit zu der klassischeren Lektüre auf Papier bzw. überwiegend auf dem Bildschirm des eBook-Readers.
Etwas schwergetan habe ich mit Anarchie Déco von Judith und Christian Vogt (2021). Vielleicht liegt’s auch daran, dass ich inzwischen nur noch wenig auf Deutsch lese. Das Setting klingt zunächst reizvoll: Berlin der 1920er Jahre mit all den bekannten Konflikten und Moden; im Unterschied zu der uns bekannten Vergangenheit sind diese 1920er Jahre nicht nur durch große physikalische Entdeckungen gekennzeichnet, sondern auch durch Magie. Da fangen die Schwierigkeiten allerdings schon an – das Magiesystem arbeitet irgendwie im Zusammenspiel aus Physik und Kunst, anfangs scheint auch eine – im Lauf des Buchs erfreulicherweise in queere Fluidität schwappende – Geschlechterdualität in das erfolgreiche Hervorbringen von Magie hineinzuspielen. So ganz klar ist aber weder den Leser*innen noch den handelnden Figuren klar, wann Magie erfolgreich ist und wann nicht. Nike Wehner, eine der beiden Hauptpersonen, ist nicht nur Doktorandin der Physik, sondern wird dann auch die erste Magie-Ermittlerin der Berliner Polizei. Sie arbeitet dabei mit dem aus Prag dazu gekommenen Sandor Černý zusammen, Bildhauer mit anarchistischem Hintergrund. Magie weckt Begehrlichkeiten auf allen Seiten – und darum geht es dann in dem Buch. Es passiert sehr viel, die Figuren sind durchaus interessant gezeichnet, aber wie gesagt – irgendwie hat mich das Buch nicht gepackt.
Das zweite Buch (bzw. die zwei zweiten Bücher), bei denen ich immer noch nicht weiß, was ich davon halten soll, sind der dritte und vierte Band von Ada Palmers „Terra-Ignota“-Serie. Aufschlussreich dazu fand ich diesen Wired-Artikel, der vor ein paar Tagen erschienen ist, und der nochmal ein Schlaglicht wirft auf die Hintergründe der Autorin zwischen Nerdtum und Renaissance-Forschung. The Will to Battle (2017) und Perhaps the Stars (2021) schließen die einerseits faszinierend fremdartige, andererseits in ihrer Konsequenz verstörende Serie ab. Ein Teil beider Bücher wird nicht wie die ersten zwei Bände aus der Perspektive von Mycroft Canner erzählt, sondern aus der des/der Ninth Anonymous – und damit fallen dann die barocken Schnörkel, Anrufungen der Leser*in und so weiter weg, das trägt zu Spannung und Lesbarkeit bei. Einige Ideen – Hives als transnationale Regierungsform, Bash’es als Wahlfamilien, utopianische Technik, der Wiederaufbau einer auf Kommunikation und Verbindung basierenden Welt, wenn diese Instrumente wegfallen – dieser Zukunftsvision finde ich großartig, andere – prä- und postdemokratische Denkweisen, mythisch-religiöse (oder vielleicht doch nur Aliens in Voltaires Tradition?) Wunder, teilweise auch die anspielungsreiche und mit Ebenen der Bedeutung durchsetzte Sprache – eher irritierend. Aber vielleicht genau wegen dieser Ambivalenz: eine Empfehlung.
Im Vergleich dazu deutlich mehr Unterhaltung und weniger Kopfzerbrechen die anderen Bücher, die ich gelesen habe.
Von K.J. Parker war das A Practical Guide to Conquering the World (2021), der dritte Teil seiner Belagerungsreihe. Fand ich etwas durchwachsen. Locker geschrieben, amüsant und spannend – aber doch in der einen oder anderen Volte eher Wiederholung, das eine oder andere Stereotyp dann doch nur dünn hinter anderen Namen und Bräuchen versteckt. Jo Walton hat das Buch ebenfalls gelesen – ihre Leseliste finde ich immer sehr hilfreich – und sie stellt eine relevante Frage nach dem Weltaufbau (ich glaube ja, dass diese Inkonsistenzen eher was mit unzuverlässigen Erzähler*innen und pseudohistoriografischen Fehlern zu tun haben):
But it did make me wonder about whether all Parker’s books are set in the same universe, because if so it’s not in any usual way books are—you couldn’t make a chronology and technology doesn’t change. But maybe they are all set in the same universe and it’s a universe where tech doesn’t change and people fight sieges and there are all these places and names are the same and… if so that could be an interesting thing to do, but despite the fact people quote Salonius in all his books and he has stories about Salonius that doesn’t seem to be what he’s actually doing. I’m not sure if he’s actually writing in genre at all or just playing with toy soldiers. Is this a world with a history? Or is he reusing names to save time? What’s going on? Has anyone thought about this, and if so, could you please clarify?
Von Charlie Jane Anders habe ich ihre Kurzgeschichtensammlung Even greater mistakes (2021) gelesen. Sehr unterschiedliche Geschichten, größtenteils Science Fiction, teilweise sehr gegenwartsnah, teilweise ganz woanders angesiedelt. Das Buch beginnt mit der Frage, wie eine Apokalypse aufzuhalten wäre, wenn man drei Wünsche frei hätte und endet mit einem Buchladen auf der Grenze zwischen zwei Nachfolgestaaten der USA – einer progressiv und einer typisch Südstaaten – und noch einmal mit der Frage der Wunscherfüllung. Einige der Geschichten kannte ich schon, insgesamt zeigt die Sammlung die ganze Bandbreite von C.J. Anders Werk.
Der zweite Kurzgeschichtenband, der ich in diesem Winter gelesen habe, ist von S.B. Divya, Contingency Plans for the Apocalypse and Other Possible Situations (2019) (zudem ihre Novelle Runtime, 2016, die ebenfalls in der Sammlung enthalten ist). Im Vergleich zu Even greater mistakes ist Contingency Plans sehr viel düsterer, etwa mit Blick auf ökologische Katastrophen. Divya ist eine als Kind in die USA eingewanderte indischstämmige Ingenieurin – das erwähne ich deswegen, weil dieser biografische Hintergrund auch ihre Kurzgeschichten einfärbt. Auch hier kannte ich die eine oder andere Geschichte schon vorher, bzw. bin so überhaupt auf diese Sammlung aufmerksam geworden, habe mich jedoch gefreut, die ganze Sammlung in der Hand zu halten.
Nebenbei: meistens komme ich vor dem Schlafengehen zum SF-Lesen – dafür sind Kurzgeschichten manchmal besser geeignet als Romane, weil es nicht diesen Cliffhanger-Impuls gibt, noch ein Kapitel und noch ein Kapitel zu lesen, sondern jede Geschichte für sich steht und „closure“ mit sich bringt. Dennoch habe ich natürlich einige Romane verschlungen, manchmal auch mit schwierigen Abwägungen darüber, ob ich jetzt noch weiterlese, obwohl mir die Augen zufallen, und es klug wäre, am nächsten Morgen ausgeschlafen zu sein, oder ob ich trotz Spannung und Seitenblätterimpuls das Buch bzw. den Reader zur Seite lege.
Definitiv stark zum Weiterlesen trotz Müdigkeit führte The Relentless Moon (2020) von Mary Robinette Kowal, der dritte Band aus ihrer „Lady-Astronaut“-Serie. In den 1950er Jahren ändert sich der Lauf der Geschichte: ein Meteoriteneinschlag zerstört den Nordosten der USA und beschleunigt die Klimakatastrophe. In der Folge beschleunigt sich das Weltraumprogramm enorm, insbesondere wird auch auf die – in der realen Welt nur als B‑Team mittrainierten, aber nicht ins All geschickten – Astronautinnen zurückgegriffen. In The Relentless Moon befinden wir uns in den 1960er Jahren. Auf dem Mond ist eine Basis der Internationalen Raumfahrtorganisation installiert, ein Raumschiff zum Mars ist unterwegs. Auf der Erde eskalieren die Konflikte zwischen denjenigen, die in der Kolonisierung des Sonnensystems die Lösung sehen, und denjenigen, die sich heftig dagegen wehren und im Weltraumprogramm – international, mit Frauen und Männern, Schwarzen und Weißen, und sehr sehr teuer – einen Affront sehen. Hauptperson des Buchs ist Nicole Wargin, Astronautin und Ehefrau des Gouverneurs von Kansas, der überlegt, für das Präsidentenamt zu kandidieren. Plötzlich häufen sich bei Routinestarts des Raketenprogramms technische Probleme – Sabotage? Wargin soll dazu beitragen, das aufzuklären – und strandet auf dem Mond, in einem Kriminalfall, der schnell politische Dimensionen entwickelt. Kowal schreibt mit genauem Blick auf die technischen Details und Machbarkeiten; ebenso nimmt sie die soziale Lage genau in den Blick – wir schreiben die 1960er Jahre! – und zimmert daraus eine dichte Atmosphäre und eine packende Geschichte.
Rund 100 Jahre später, in den 2060er Jahren, spielt Ken MacLeods neues Buch Beyond the Hallowed Sky (2021), Auftakt zu einer Space Opera. Und anders als bei Kowal wird die Technik futuristischer. Auch die politische Hintergründe haben sich deutlich von der heutigen Situation wegentwickelt – zwischen Schottland und England liegt eine Blockgrenze, auf der einen Seite eine das Bündnis aus USA und England, auf der anderen die Nachfolge der europäischen Union, MacLeod-typisch mit kommunistischen Untertönen, so gibt es Kollektive und eine Kaderpartei. Bisher ist das Sonnensystem besiedelt, es gibt eine Station im Venusorbit … und eine junge Physikerin entdeckt zu Beginn des Buchs eine Möglichkeit, schneller als Licht zu reisen. Was sie nicht weiß: sie ist nicht die erste. Und die ersten außersolaren Kolonisationsversuche – einer autokratischen Allianz ebenso wie des USA-UK-Bündnis – bergen durchaus Geheimnisse. Interessantes Szenario, nimmt positive Elemente der ersten MacLeod-Bücher wieder auf, ohne ganz so idiosynkratisch auszufallen.
Bleiben wir in Großbritannien. Von Charles Stross ist mit A Quantum of Nightmares (2022) der zweite Band seines Ablegers der Horror-Satire-Pastiche-Serie Laundry Files – New Management – erschienen. Literarisches Vorbild ist nach Peter Pan diesmal Mary Poppins – wir lernen einiges über den Alltag in einer von Lovecraft-Monstern übernommenen britischen Demokratie, über geheime Kulte, fiktive Kanalinseln, die Nöte jugendlicher Superschurken und abscheuliche Strategien zur bestmöglichen Verwertung von Humankapital. Sehr lesbar.
Last but not least: L.X. Beckett hat nach Gamechanger mit Dealbreaker (2021) den zweiten Band ihrer „Bounceback“-Serie veröffentlicht. Kann eine polyamore queere Wahlfamilie aus Menschen und künstlichen Intelligenzen (Dachbegriff: Solakinder) den Ausverkauf des Sonnensystems an außerirdische Hivemind-Bankiers verhindern? Das alles vor dem Hintergrund einer Welt, die nach der Klimakatastrophe gerade wieder auf die Beine kommt, in der virtuelle Realität längst im Alltag angekommen ist, und in der gerade das sechste und siebte Portal für das „Wurmloch-Karussell“ aufgespannt werden sollen. Beckett lädt dazu ein, mit eher ungewöhnlichen Held*innen mitzufiebern – ein Vergnügen!
danke, für die Besreibungen,
Ich hab letztes Jahr nur die 2 Ostopus Bände von Dirk Rossmann gelesen. Waren Spannend und haben mich gefesselt.
Beide schöpfen aus einem Arsenal von Hintergrundinformanden, besonders über Klimafragen, die immer wieder in die Handlung eingestreut sind. Besonders hat mir Verwendung von unwahrscheinlichen Jedermann-Helden gefallen.
Ich mach überall dafür Werbung bei allen Krimmifreunden.
Bei Rossmann war ich aufgrund des enormen Selbstmarketings (hat halt nicht jeder eine Drogeriekette zur Hand …) bisher skeptisch.