Gestern hat sich der 20. Deutsche Bundestag konstituiert, begleitet von vielen Selfies und Gruppenfotos. Und selbst auf diesen lässt sich erahnen, dass hier etwas neues beginnt. Insbesondere ist der Bundestag deutlich jünger und bunter geworden. Durch die nun größeren quotierten Fraktionen ist er auch etwas weiblicher. Es gibt eine Bundestagspräsidentin, und auch vier der fünf Vizepräsident:innen sind Frauen.
Noch ist keine neue Regierung gewählt; die Regierung Merkel ist weiter geschäftsführend im Amt. Trotzdem fühlt sich das jetzt sehr nach Aufbruch und Neubeginn an. Mit etwas Glück und Verhandlungsgeschick kommen die laufenden Koalitionsverhandlungen zwischen den Ampelfraktionen tatsächlich noch vor Weihnachten zu einem erfolgreichen Abschluss. Und dann würde nach 16 Jahren erstmals wieder eine Regierung ohne Union das Land lenken. Aufgaben und Wünsche gibt es viele.
Das Sondierungspapier, das als Grundlage der Koalitionsverhandlungen dient, hat Licht- und Schattenseiten. Neben einem doch recht deutlichen Bekenntnis zum 1,5‑Grad-Pfad (das jetzt allerdings konkret unterlegt werden muss), neben vielen gesellschaftspolitisch progressiven Elementen und neben einem klaren Bekenntnis zu Europa stehen in diesem Papier leider auch Absagen: an das Tempolimit, an die Bürgerversicherung, an gerechtere Steuern.
Überhaupt ist es auffällig, wie sehr die konservativeren Parteien – hier die FDP, im Wahlkampf war es aber bei der CDU/CSU noch um einiges deutlicher zu spüren – inzwischen weitgehend auf eine eigenständige Programmatik verzichten und ihre Identität vor allem aus Ablehnung und Abwehrkämpfen bilden. Das mag in einer Zeit funktioniert haben, in der alles so bleiben konnte, wie es ist. In den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts, mit massivem Veränderungsdruck – Klimakrise, fortschreitende Digitalisierung, eine nicht vorhersehbare geopolitische Dynamik – ist ein vor allem aus Nein-Sagen bestehendes Programm nicht hinreichend. Es wird so oder so zu Veränderung kommen. Die Aufgabe besteht darin, Orientierung und Stabilität im Wandel zu bieten. Und neben durch den Spitzenkandidaten gut ausgetretenen Fettnäpfchen scheint mir das Fehlen konkreter Angebote hierfür der Grund zu sein, warum CDU und CSU in dieser Wahl massiv verloren haben.
Anders sieht die Sache bei der FDP aus. Etwas bösartig gesagt: auch da gab es wenig Angebote, aber zumindest die Suggestion eines Plans, verkörpert vor allem im Auftreten und neuen Image des FDP-Spitzenkandidaten, Christian Lindner. Die selbe Optik auf den Plakaten, aber eine andere Botschaft, zu der dann eben auch „es muss sich etwas ändern“ gehörte. Wenn es gut läuft, wird sich genau dieses von allen drei Ampelparteien geteilte Motiv der nach vorne gerichteten Veränderung im Koalitionsvertrag wiederfinden. Dann reicht es allerdings nicht, Nein zu sagen und plattencovergeeignete Bilder zu produzieren.
Es gibt also Hürden, die noch zu überwinden sind. Inhaltlich gehört dazu sicherlich die Frage, wie die für die Eindämmung der Klimakrise notwendigen Maßnahmen finanziert werden können – und, übergreifend, die Frage, wie ein gesellschaftspolitischer Aufbruch so konkretisiert werden kann, dass er zum gemeinsamen Projekt von SPD, Grünen und FDP wird. Neben den Hürden steht Hoffnung. Ein respektvoller Umgang, Augenhöhe zwischen den Koalitionspartnerinnen – das trägt diese Hoffnung.
Es bricht etwas auf, eine Ära geht zu Ende. Aufbruch hat ja zwei Wortbedeutungen: eine eher vulkanische, bei der beispielsweise der Boden aufbricht, oder, um ein etwas schöneres Bild zu finden, ein Samenkorn, aus dem ein Keim hervorstrebt. Aber eben auch der Aufbruch zu einer Reise, zu einer Wanderung, zu einer Unternehmung – mit dem noch zu schreibenden Koalitionsvertrag als Reiseführer.
Beide Wortbedeutungen passen zu dem, was in Deutschland gerade passiert. Das ist wichtig und notwendig und längst an der Zeit – das 21. Jahrhundert ist schon zu einem Fünftel vorbei, es ist viel Zeit verstrichen, die genutzt hätte werden können, um etwas zu tun, egal, ob es um die Klimakrise, um die lange aufgeschobenen Modernisierungen und Innovationen oder um einen neuen Impuls des Zusammenhalts geht. Hier hat die große Koalition sich in den letzten Jahren selbst blockiert, hier hat Angela Merkel zu lange gezögert, zu lange moderiert statt modernisiert (und doch ihre Partei damit fast überfordert).
Das fühlt sich noch einmal anders an als 1998. Damals war es ein kompletter Wechsel – CDU/CSU und FDP wurden abgewählt, Helmut Kohl und mit ihm die „geistig-moralische Wende“ der 1980er Jahre waren Geschichte. Diesmal ist es anders, die Fronten sind weniger klar, es wird neben dem Neuen auch Kontinuität geben, vermutlich ein Grund dafür, warum Olaf Scholz im Schlussspurt des Wahlkampfs massiv zulegen konnte. Neben personeller Kontinuität steht – siehe FDP, vielleicht auch: siehe SPD – auch inhaltliche Kontinuität im Raum. Zuviel Veränderung auf einmal wird nicht goutiert, bei allem Neuanfang und aller Dynamik darf das Vertraute nicht zu kurz kommen. (Aber eben auch nicht zum einzigen Programm werden, siehe oben).
Dennoch: Hoffnung auf Aufbruch in einer progressiveren und vielleicht auch handlungsfähigeren Regierung. Ob es tatsächlich so kommt, wird vom Programmatischen abhängen, davon, ob diese Ampelkoalition ein gemeinsames Vorhaben – ja, auch eine gemeinsame Erzählung – findet, aber auch vom Personal. Das steht traditionell und richtigerweise am Ende von Koalitionsverhandlungen, und schon jetzt sind hier die Erwartungen groß und überfrachten die Handlungsspielräume. Ich setze auf Zuversicht und Vertrauen in die Verhandler:innen, und hoffe, zu Nikolaus positiv überrascht zu werden.
Klar ist: Annalena Baerbock wird nicht Bundeskanzlerin. Die grünen Hoffnungen aus dem Frühjahr haben sich nicht erfüllt, mit 14,8 Prozent haben wir zwar das beste Ergebnis, dass diese Partei bei einer Bundestagswahl je hatte, und die neue grüne Bundestagsfraktion ist mit 118 Personen größer als je zuvor, auch dank der Wahlrechtseffekte. Ein großer Teil der 118 Abgeordneten ist neu im Parlament, viele sind jung, viele bringen spannende Perspektiven ein. Trotzdem gibt es eben auch viele, die auf grünen Listen standen und sich Hoffnungen machten, und jetzt nicht in den Bundestag gekommen sind.
Irgendwie scheint ein Fluch (Fischers Soufflé?) auf grünen Umfragewerten zu liegen – die sind gerne deutlich höher als das tatsächliche Wahlergebnis, um dann in den Wochen vor der Wahl einzustürzen. Manches Mal vor allem durch externe Faktoren bestimmt, auch durch regelrechte antigrüne Kampagnen, manches Mal kommen eigene Fehler dazu.
Dass das Wahlergebnis nicht zu den Hoffnungen und Erwartungen passt, gilt dieses Mal in besonderem Maße für Baden-Württemberg. Hier gibt es den direkten Kontrast zur Landtagswahl im März – damals fast 33 Prozent, jetzt etwa die Hälfte davon. Damals flächendeckende Erfolge, jetzt Zugewinne vor allem in den Unistädten, in den Großstädten und im Speckgürtel. (Freiburg ist die einzige Stadt, wo in absoluten Zahlen sogar Stimmen im Vergleich zur Landtagswahl dazugewonnen wurden – überall sonst sind es Verluste, in einigen ländlichen Gemeinden regelrechte Abstürze). In Heidelberg, Karlsruhe, Freiburg und Stuttgart gab es Direktmandate, in Tübingen hätte es fast gereicht – anders als in den ländlichen Wahlkreisen, auch in denen, die mal als mögliche Wahlkreise für Direktmandate galten.
In der Analyse mag das daran liegen, dass dieser Bundestagswahlkampf stark auf Veränderung, auf das Neue, auf ein urbanes Klientel zugeschnitten war. Die ganz in grün getunkten Plakate waren einprägsam, aber nicht unbedingt ansprechend; und auch das Duzen („… wenn Ihr es seid“) erinnerte an das „Und du?“ aus einer früheren, nicht besonders erfolgreichen Kampagne.
Die Tonalität des Landtagswahlkampfs dagegen staatstragend, dunkelgrün. „Er weiß, was wir können“ und „Wachsen wir über uns hinaus“ (der Titel des Wahlprogramms) waren im Kern eine ähnliche Aussage, wie das, was „Bereit, weil Ihr es seid“ sagen sollte: Bündnisse in die Breite des Landes, Zutrauen in die Bürgerinnen und Bürger, ein gemeinsamer Aufbruch. Aber verstanden wurde das im Bundestagswahlkampf nicht, sorgte viel mehr Irritationen.
Im Landtagswahlkampf gab es eine Dialektik aus dem konservativen Grünen Kretschmann, der für Erfahrung und Stabilität stand, mit einem Wahlprogramm und einer Partei, die den Mut und die notwendigen Veränderungen, um sich an die neuen Aufgaben zu wagen, nach vorne stellten. Vielleicht fehlte diese Dialektik, diese Spannung im Bundestagswahlkampf, und vielleicht – aber das ist vergossene Milch – wäre ein Wahlkampf, der noch stärker die zukünftige Kanzlerin als Kanzlerin (und nicht als Grüne) als Fokuspunkt gehabt hätte, erfolgreicher gewesen.
So oder so – jetzt bietet sich die Chance, aus diesem Wahlergebnis heraus eine Koalition zu formen, die das Land voranbringt, die es wagt, Dinge zu verändern, und die gleichzeitig niemand überfordert, sondern Menschen mitnimmt und – Stichwort Bürgerräte im Sondierungspapier – von vorneherein in den politischen Prozess einbezieht. Dann kann das gelingen und etwas Großes werden.
Eine Antwort auf „Etwas bricht auf, oder: das Ende der Ära Merkel“