Digitalisierung ist einer dieser Begriffe, die nicht gerne lange angeschaut werden. Wer es doch tut, merkt schnell, wie der Begriff davonschwimmt und ausfasert. Diese Qualle ist jedoch der letzte Schrei, politisch gesehen. Was also ist neu? Warum ist Digitalisierung – wörtlich eigentlich ja nur die Umwandlung analoger in diskrete, an den Fingern abzählbare Werte, letztlich Nullen und Einsen – jetzt ein Thema?
Die Basistechnologien der „digitalen Revolution“ sind nicht mehr besonders neu. Seit den 1940er Jahren, spätestens seit den 1970er Jahren, werden Computer gebaut, gibt es integrierte Chips, gibt es Schaltkreise und Progammiersprachen. Neu ist die Vernetzung (mit einer anderen Qualität als dies in den 1980er Jahren möglich war) und neu ist die durch steigende Speicherkapazitäten, steigende Prozessorenstärke und fallende Preise mögliche extreme Miniaturisierung und beginnende Allgegenwart. Hier haben sich rapide ändernde Quantitäten ebenfalls eine Änderung der Qualität hervorgebracht. Sichtbar ist das in den letzten zehn Jahren an der unaufhaltsamen Verbreitung des Smartphones geworden, unsichtbar als Integration von Computern in Maschinen, Autos, Fernsehgeräte, selbst in Kühlschränke, Küchenmaschinen und Toaster. Und im Sinn des „Smart Home“ und der Heimautomatisierung „sprechen“ dann sichtbare und unsichtbare Minicomputer miteinander.
Computer sind nach wie vor Universalmaschinen. Sie sind programmierbar und nicht von vorneherein festgelegt. Das macht Apps möglich, und aus Smartphones Fotoapparate, Reisewecker, Musikboxen und Schreibmaschinen.
Es gibt das Sprichwort, dass die steigende Verarbeitungskapazität und die durch neue Features zunehmenden Anforderungen daran ungefähr Schritt halten, so dass die effektive, für Nutzer*innen sichtbare Geschwindigkeit etwa der Progamme auf dem Bürocomputer mehr oder weniger gleich bleibt. Das hat lange gestimmt.
Es gibt aber Bereiche der Informatik und der Computeranwendungen, in denen die steigende Speicher- und Rechenleistung tatsächlich Neues möglich macht. Das betrifft etwa die Bildverarbeitung, das Rendering von dreidimensionalen, natürlich wirkenden Szenen, und insbesondere den Durchbruch des „Deep Learning“, also der aktuellen Inkarnation der „Künstlichen Intelligenz“ – mit massiven qualitativen Sprüngen in so unterschiedlichen Gebieten wie dem der Bilderkennung, der Verarbeitung natürlicher Sprache oder der Bewertung realer Situationen, und schließlich auch der Robotik. Soweit ich das beurteilen kann, werden hier keine grundlegend neuen Techniken eingesetzt – vielmehr sind Rechner inzwischen schnell genug, und gibt es „Falldatenbanken“, die groß genug sind, um die Ideen der 1970er und 1980er Jahre in ihrer inkrementellen Weiterentwicklung nun erstmals tatsächlich anwendbar zu machen.
Heraus kommen dann Google Translate und Amazons Alexa, Apples Siri und Facebooks Bilderkennung, und was der Anwendungen mehr sind.
(Das andere, was technologisch neu ist, ist die Idee der Blockchain-Algorithmen. Aber das ist noch einmal ein anderes Thema)
Google und Amazon, Facebook und Apple, Tencent und Alibaba: das ist der andere Punkt, der qualitativ neu ist. Es sind riesige globale Firmen entstanden, die in bestimmten Feldern quasi ein Monopol haben. Das ist teilweise das Ergebnis von Netzwerkeffekten (wenn alle bei Facebook sind, um zu kommunizieren, lohnt es sich nicht, zu einem anderen Anbieter zu wechseln), teilweise geht es schlicht darum, wer eine bestimmte Idee zuerst umgesetzt hat. Wer möchte, kann noch Uber und AirBnB hinzu packen und das Plattformkapitalismus nennen. Das Grundprinzip ist jeweils identisch: es gibt eine zentrale Instanz, die für eine bestimmte Handlungsweise „zuständig“ ist und diese vermittelt: Suche nach Informationen, Handel, Kommunikation, Mobilität, Wohnen, Luxus, … – wie sehr in den einzelnen Feldern derartige Firmen global oder zumindest für bestimmte transnationale Räume bestimmend geworden sind, unterscheidet sich. Das Grundprinzip lässt sich aber überall beobachten. Und entsprechend liegt das Wissen über diese Handlungsfelder, die Wünsche und Sehnsüchte ebenfalls vor allem innerhalb dieser Firmen, als umfangreicher Datenspeicherung und möglicherweise eigentliche Währung des Informationszeitalters, wie es Manuel Castells schon Ende der 1990er Jahre nannte.
Smartphones – auch hier der Fokus auf wenige dominierende Systeme – sind über mobile Websites, vor allem aber über Apps das zunehmend dominante Fenster zu dieser Welt. Heute verfügen etwa drei MilliardenMenschen über ein Smartphone, in den nächsten paar Jahren soll dies auf über sechs Milliarden Menschen anwachsen. Und wenn es nach der zeitgenössischen Ikonografie von Science-Fiction-Filmen geht, wird es auch dabei bleiben. Das kleine bis mittelgroße Stück Glas, auf dem Informationen angezeigt und betatscht werden, ist – gerne glühend und durchsichtig – Standardausstattungsstück filmisch gezeigter Zukünfte. Uhren und Brillen mit Head-up-Display als andere Optionen für diese Schnittstellen haben sich dagegen bisher nicht durchgesetzt, auch das direkte Neuralimplantat oder die smarte Kontaktlinse sind bisher erst Spekulation.
DIe Struktur aber ist klar: der Zugang zu den Dienstleistungen und Medien des Netzes ist allgegenwärtig möglich, über schnelle Mobilfunknetze, über das je nach lokaler Gesetzgebung mehr oder weniger überall verfügbare WLAN, oder in Büros und auf Wohnzimmerbildschirmen über Glasfaserkabel und aufgebohrte Telefonverbindungen mit Bandbreiten, die vor einigen Jahren noch undenkbar schienen. Angeboten werden die Dienstleistungen und Medien von einer Reihe zentraler Knotenpunkte (wie auch immer diese technisch organisiert sind) in einem Meer des Unbedeutenden. Das Netzwerk entpuppt sich als Hierarchie, entsprechend ist die Macht verteilt.
Interessant wird das nun, wenn nach der Rolle des Staates in diesem Netzwerk gefragt wird. Aber dazu später.
Das Stichwort Dienstleistungen ist bereits gefallen. Nach den ersten Automatisierungswellen, die manuelle Fabrikarbeit zumindest teilweise durch Maschinen ersetzt haben, spukt jetzt die Vision einer Digitalisierung der Dienstleistungen durch die Gegend. Das geht zum einen um Dienstleistungen, die direkt mit „Symbolverarbeitung“ (Robert Reich) zu tun haben – Kalkulationen, Verbuchungen, Übersetzungen, Texterfassungen und Steuererklärungen bis hin zu kreativen Fragestellungen. Routinen sind hier inzwischen an Programme abgebbar. Ob dann noch ein Rest menschlicher Arbeit notwendig bleibt – und wenn ja: in welcher Organisationsform -, ist noch nicht entschieden.
Zum anderen geht es um verkörperte Dienstleistungen: Logistik, Transport, aber auch beispielsweise Pflegeberufe. Auch hier wird nun zunehmend darüber nachgedacht (und zunehmend eben auch konkret gebaut), was Drohnen, autonome Fahrzeuge und Roboter an Arbeit erledigen können. Und wiederum stellt sich die Frage, welcher Rest an menschlichen Tätigkeiten – auf was für einem Qualifizierungsniveau – dann noch übrig bleibt. Gleichzeitig haben wir es gerade hier ja oft mit typischen Ausbeutungsjobs zu tun: eintönig, schlecht bezahlt, körperlich schwer. Diese inhaltlich aufzuwerten und weniger belastend zu machen, muss nun durchaus nicht Dystopie sein, sondern wäre gut als positive Vision geeignet.
Auch hier stellt sich dann die oben schon angerissene Frage, wer diese Dienstleistungen bzw. die dafür notwendigen Softwaredienste oder die neue Hardware eigentlich anbietet, wem diese „Produktionsmittel“ gehören, und wer sie steuert.
Zugleich stellt sich die Frage, was eine zunehmend auf Computern aufbauende Wirtschaftswelt eigentlich für Anforderungen mit sich bringt. Was ist nötig, um hier kontrollierend und steuernd oder gar kreativ tätig zu werden? Wie müsste dafür „Digitalisierung“ in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen verankert werden? Und wer entwickelt eigentlich die Software und Hardware – und wird das in Forschungseinrichtungen und an Hochschulen geschehen, in Garagen oder unter dem Schirm bestehender Großkonzerne?
Stichwort Bildung, Stichwort Teilhabe, Stichwort gesellschaftlicher Zusammenhalt – Macht im hierarchisch organisierten Netzwerk bedeutet auch, dass Konzerne wie Facebook plötzlich eine politische Verantwortung bekommen. Und ob der Medienwechsel von der Handschrift zum Buch zum Kino zum Fernseher Erschütterung hervorgerufen hat, die größer oder kleiner sind als die, die mit dem Schritt zum Smartphone, zum Netflixvideo und zum Game verbunde sind, und ab wann Kinder in digital vermittelte Welten eintreten dürfen – das sind Fragen, die ebenfalls im Raum stehen.
Ach ja: und irgendwer muss auch die Rohstoffe aus der Erde oder dem Müllberg holen, Platinen zusammenlöten und Bauteile zusammenstecken. Also, irgendwo im Süden. Ohne das geht es genau so wenig wie ohne Strom – der Energieverbrauch für das Internet entspricht etwa dem für den globalen Flugverkehr, Presseberichten zufolge sollen einzelne Bitcoin-Transaktionen inzwischen Energiekosten in Höhe üblicher Monatsrechnungen von Haushalten erreicht haben, weil ganze Bänke von Grafikkarten rechnen müssen, um die damit verbundenen kryptografischen Rätsel zu lösen.
Entkopplung von wirtschaftlichem Wachstum und Naturverbrauch durch Digitalisierung und Virtualisierung? Der digitale Weg in die Postwachstumsgesellschaft? Ganz so einfach ist es Telekonferenzen, ultraeffizienten Produktionsanlagen und digital modellierter und gedruckter Leichtbaumaterialien zum Trotz nicht, soviel ist jedenfalls klar.
Aus all dem ergeben sich politische Herausforderungen. Und auch damit stellt sich noch einmal die Frage nach der Rolle von Nationalstaaten (und anderen politischen Einheiten). Digitalisierung kann und muss gestaltet werden – sonst machen das andere. Aber wo liegen überhaupt Ansatzpunkte dafür?
Was für Rollen hat der Staat, hat die Politik in dieser Situation (einmal außen vor gelassen, dass auch der Staat selbst beispielsweise als Nachfrager auf einem Softwaremarkt auftritt, und im Sinne einer transparenten Regierung Informationen und Diskussionen im Netz veranstaltet)?
Unterscheiden würde ich hier zwischen dem Schaffen von Voraussetzungen, dem Setzen und Durchsetzen von allgemein gültigen Regeln und dem Versuch, mit Folgen klarzukommen. Dabei orientiert sich das Handeln jeweils an Zielen, an einem bestimmten Wertekompass, die erreicht werden sollen.
Stichwortartig bedeutet dies bezüglich der Voraussetzungen etwa Teilhabe über Infrastruktur (Breitbandausbau) und Bildung zu schaffen, mit Blick auf wirtschaftliche Ziele Standortförderung zu betreiben (zum Beispiel, indem Kleine und Mittlere Unternehmen bei der Einführung digitaler Prozesse zu unterstützen) und es Hochschulen und Forschungseinrichtungen (über eine gute Grundfinanzierung genauso wie über strategische Forschungsprogamme) zu ermöglichen, innovativ tätig zu werden.
Dass „das Internet“ nicht grundlegend anderen Regeln unterworfen sein soll als der Rest der Welt, wird inzwischer eher anerkannt als noch vor einigen Jahren, als wilde Ideen einer nicht regulierten, autonomen Zone durch das Netz geisterten. In Deutschland hat insbesondere die Netznutzung der AfD und die damit verbundene Plattform für Hetze und Radikalisierung ziemlich deutlich gemacht, dass „freie Rede“ alleine nicht sein kann. Aber auch beispielsweise in steuerlicher Hinsicht sollten Transaktionen „im Netz“ nicht anders behandelt werden als andere Transaktionen. Das ganze Datenschutzthema fällt ebenfalls in diese Kategorie.
Hier kommen dann recht schnell auch transnationale Regelsetzungen ins Spiel – schlichte Erfordernis einer globalen Infrastruktur.
Mein etwas flapsiges „mit Folgen klarkommen“ meint schließlich, oben angerissene Themen wie etwa die ökologischen Auswirkungen oder Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaftsstruktur – aber auch Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und des Strukturwandels – frühzeitig zu erkennen und hier aktiv zu werden.
Dabei wird dann schnell deutlich, dass „Digitalisierung“ ein Stück weit auch als Brennglas wirkt für Prozesse, die bereits stattfinden, und vielleicht noch einmal beschleunigt werden: die soziale Spaltung, kapitalistische Konzentrationsprozesse, Verschiebungen in der Weltwirtschaft, populistische Tendenzen, aber auch wenig nachhaltige Produktionsweisen – all das wird durch den digitalen Strukturwandel beschleunigt und hervorgehoben. Die Antwort hier kann dann aber nicht Digitalisierung sein, sondern ruft andere Politikfelder auf – insofern ist es auch kein Wunder, dass Debatten, die mit „Digitalisierung“ beginnen, schnell beim bedingungslosen Grundeinkommen, bei einer mehr oder weniger reflektierten Kapitalismuskritik oder bei der Frage, wie eine humane Bildung in Schulen heute eigentlich aussehen soll, landet.
Oder, in eine These gepackt: Um Digitalisierung zu gestalten, ist es nicht nur wichtig, eine gute Digitalpolitik zu machen, sondern erst recht notwendig, für die Ziele einer liberalen und progressiven Gesellschaft zu kämpfen und auch die soziale Frage zu stellen.
Warum blogge ich das? Ausgangspunkt für diesen Text war mein Vortrag „Die Digitalisierung kann und muss gestaltet werden“ bei der Kreismitgliederversammlung von Bündnis 90/Die Grünen Breisgau-Hochschwarzwald am 8.11.2017. Weggelassen habe ich hier die Digitalisierungsstrategie des Landes Baden-Württemberg – die im Rahmen der Gestaltungsspielräume, die ein Land hat, gar nicht schlecht ist – und hinzugefügt habe ich einiges, das sich erst durch die Diskussion auf der KMV bei mir als Gedanke ergeben hat. Und selbstverständlich ist der Denkprozess nicht abgeschlossen.