Wenn ich mich richtig erinnere, bin ich im November 1996 bei Bündnis 90/Die Grünen eingetreten. Das ist jetzt zwanzig Jahre her. „Grün-aktiv“ bin ich aber noch länger – 1991 wurde die Grün-Alternative Jugend Baden-Württemberg gegründet, auch da war ich dabei, ebenso bereits 1990 bei einem ersten baden-württembergischen Jugendkongress. Damals, mit 15, 16 musste ich nicht lange darüber nachdenken, ob „grün“ für mich die richtige Farbe ist. Politik interessierte mich immer schon, meine Eltern sind aktive grüne Gründungsmitglieder, ich war auch als Kind schon bei Infoständen oder auf Demos dabei, und natürlich wollte ich die Welt retten. Da lag die Entscheidung für „grün“ ziemlich nahe.
Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass ich in Politik eher hinein gewachsen bin, als dass ich mich bewusst für Politik entschieden habe. Was richtig und was falsch ist, war oft selbstverständlich, und nur im Grad der Radikalität hinterfragbar. Parteipolitik war für mich zuerst sozialer Raum, und erst im zweiten Schritt kam so etwas wie professionelle Distanz dazu; ein Lernprozess, der nicht immer ganz einfach war.
Warum schreibe ich das? Weil mich die Form und die Verortung der Partei – der grünen Partei – seit einigen Wochen doch wieder vermehrt umtreibt.
Da ist einiges zusammengekommen. Die grün-schwarze Regierungsbildung in Baden-Württemberg, bei der sehr viel deutlicher als bei der Koalition mit der SPD die unterschiedlichen Kulturen der beteiligten Parteien zu Tage tritt. Semi-prominente Parteiaustritte und deren jeweiligen Begründungen, die – aus meiner Sicht – vielfach Erwartungen an Partei artikulieren, die ich schlicht unrealistisch und unzeitgemäß finde. Gleichzeitig steht ein Bundestagswahlprogramm 2017 an. Immer wieder gibt es Debatten um den richtigen Umgang mit der AfD und anderen rechtspopulistischen bis rechtsradikalen Bestrebungen, bei denen es eben auch eine Rolle spielt, dass die AfD letztlich die so selbstverständlich und gefestigt erscheinende liberale Demokratie in Frage stellt. Tagungen wie die der Böll-Stiftung heute, die unter dem Motto „Aktualität und Erneuerung: Ein Update der Parteien in Zeiten des Populismus“ stand, und bei der immer wieder – insbesondere auch in dem sehr erfrischend moderierten Workshop zu „Partei? Ohne mich!“ oder „Partei? – Beleben!“ – ganz generell nach der Attraktivität und Aufgabe von Parteien gefragt wurde. Aber auch das in sozialen Medien viel geteiltes und diskutiertes Diagramm der Friedrich-Ebert-Stiftung zu „Strategiedebatten der deutschen Parteien 2016“ ist etwas, zu dem ich noch etwas schreiben wollte.
Splitter 1: Strategische Debatten um die Verortung im Parteiensystem
Fangen wir mit der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) an. Die verortet in ihrem Monitoring die deutschen Parteien in einem Zwei-Achsen-System. Auf der einen Achse – der klassischen Links-Rechts-Achse – geht es um die Spannweite von Verteilungsgerechtigkeit (links) bis Marktfreiheit (rechts), also um wirtschaftspolitische und sozialpolitische Positionierungen. Die andere Achse – vertikal – reicht von autoritär bis libertär. Die SPD sitzt ziemlich genau in der Mitte dieser Karte.
Die CDU ist rechter und autoritärer, die CSU steht wirtschaftspolitisch einen Hauch links von der CDU, ist dafür aber um einiges autoritärer. Die AfD wird auf der Links-Rechts-Achse rechtsaußen positioniert, und als noch autoritärer als die CSU beschrieben. Die FDP ist auf der Links-Rechts-Achse ebenso rechts (also in Bezug auf wirtschafts- und sozialpolitische Positionen), wird dafür aber als mindestens so libertär wie die SPD eingeschätzt.
DIE LINKE steht wirtschafts- und sozialpolitisch ganz links, ist aber nach dieser Darstellung eher autoritär, und Bündnis 90/Die Grünen sind fast ganz oben auf der libertären Achse, deutlich oberhalb von SPD und FDP, und werden auf der Links-Rechts-Achse zwischen SPD und CDU eingeordnet.
Um diese programmatischen Positionierungen (über die auch gestritten werden könnte), ordnet die FES jeweils lebensweltliche Wolken an, die darstellen sollen, wie weit das Milieu der jeweiligen Anhänger*innen reicht. Rechts-unten wird’s ziemlich eng, die SPD ist programmatisch deutlich weiter rechts verortet als ihr bis ganz nach links gehende Milieu, und Bündnis 90/Die Grünen werden ebenfalls als Eigelb in einem großen Spiegelei dargestellt, das von links-progressiv bis fast an die FDP heranreicht, aber nie in den autoritären Bereich wandert. Dabei gibt es gewisse lebensweltliche Überschneidungen mit dem Milieu der SPD, aber die ist eben deutlich autoritärer positioniert, erst recht in ihrer Lebenswelt.
Schließlich versucht die FES noch – es lohnt sich, das Diagramm anzuschauen – programmatische Richtungsstreits im Diagramm abzubilden. Bei uns geht’s da um Vermögenssteuer (aus FES-Sicht ein großer Schritt nach links) oder den Fokus auf „grünes Wachstum“ (ein Schritt nach rechts), um neue Familienpolitik und eine Politik für sexuelle Vielfalt (libertär), oder um staatliche, ordnungspolitische Vorschriften, etwa zur Ernährung (das sieht die FES als Ausdehnung in Richtung autoritär an). In den Worten der FES – das mit der Ökodiktatur und den Tugendwächtern hat aus meiner Sicht mit unseren real stattfindenden Debatten wenig zu tun – klingt das dann so:
Der lange Marsch durch die Institutionen spiegelt sich in der Wanderung der Grünen vom links-libertären ins bürgerliche Lager. Treibende Kräfte sind hier einerseits die wirtschaftsfreundlichen Kräfte, die das „Grüne Wachstum“ propagieren, andererseits die „Tugendwächter“, denen vorgeworfen wird, mit Veggie Tagen, Rauchverboten und Tempolimits eine „Ökodiktatur“ errichten zu wollen. Libertäre Kräfte verstehen die Grünen als die Verkörperung der gesellschaftlichen Modernisierung, deren Rolle es ist, Homo-Ehe, Patchwork-Familienbild und Gleichstellung gegen die autoritäre Anfeindungen zu verteidigen. Auf mittlere Sicht scheint die innerparteiliche Auseinandersetzung vor allem entlang der materiellen Achse zwischen „Green Growth“ und „Degrowth“ zu verlaufen. In der Frage einer Vermögensabgabe stehe sich unterschiedliche Positionen gegenüber. Unklar ist auch, ob die Grünen noch für eine rot-rot-grüne Koalition zu begeistern sind, oder eher auf ein schwarz-grünes Projekt auf Bundesebene zielen.
(Und aus Sicht von 1980 ist das alles eine Wanderung in die Mitte – die 1980er-Grünen verortet die FES nämlich ganz oben in der wirtschafts- und sozialpolitisch linken und kulturell libertären Ecke. Gerade in Bezug aufs Libertäre hätte ich da so meine Zweifel, aber lassen wir das mal so stehen).
Vier Beobachtungen dazu:
1. Eine wichtige Information, die nicht im Diagramm der FES eingezeichnet ist, ist die Verteilung der Haltungen in der Bevölkerung. Jetzt lässt sich natürlich darüber streiten, welche Auswirkungen die jeweils eigenen Werte (links-rechts, autoritär-libertär) auf das Wahlverhalten bzw. die Parteiaffinität haben. Jedenfalls glaube ich erstens nicht, dass die Haltungen in der Wählerschaft über das Diagramm gleich verteilt sind, und halte es zweitens für sehr wahrscheinlich, dass die Gesellschaft insgesamt sowohl nach rechts gerückt ist (also, was wirtschafts- und sozialpolitische Haltungen anbelangt), als auch nach oben (also auf der kulturellen Achse libertärer geworden ist). Ganz grob skizziert könnte da so aussehen:
Diese Information wäre wichtig, wenn derartige Diagramme herangezogen werden sollten, um darüber nachzudenken, wo und wie eine Partei sich strategisch positioniert.
2. Vorbehaltlich der unten Punkt 1 genannten Problematik, dass die Karte keine Information zu Verteilung der Einstellungen in der Bevölkerung enthält, fällt doch auf, dass LINKEN, FDP und AfD jeweils relativ scharf umrissene und von der Ausdehnung begrenzte Lebenswelten zugeordnet sind, während die FES nicht nur den „alten“ Volksparteien SPD und CDU, sondern eben auch uns GRÜNEN eine „volksparteiliche“ Lebenswelt mit einer großen Spannweite zuordnet. Wenn das so stimmt, deutet das nicht nur auf deutlich größere, nicht genutzte Potenziale hin, sondern auch auf eine größere Aufgabe, für Zusammenhalt in der Partei zu sorgen. Wir haben, soweit ich weiß, zwar steigende Mitgliedszahlen, aber eine relativ hohe Fluktuation. Möglicherweise ist das auch ein Hinweis darauf, dass es nicht so ganz einfach ist, „das“ grüne Milieu zusammenzuhalten. Das gilt insbesondere mit Blick auf Baden-Württemberg.
3. Allerdings: Was in dem schönen Zwei-Achsen-System nicht vorkommt, ist eine Haltung zur ökologischen Frage, und sekundär dazu, zu globaler Gerechtigkeit. Meine These wäre ja, dass die verbindende Klammer innerhalb unserer Partei (über zum Beispiel die Auseinandersetzung darüber, ob Degrowth oder grünes Wachstum die richtige Strategie ist, hinweg) eben das Primat der Ökologie, oder etwas breiter gefasst, das Ziel einer nachhaltigen Gesellschaft ist. Über die Ziele sind wir uns da ziemlich schnell einig, über die Wege dahin wurde und wird erbittert gestritten. Ob das wirklich so viel mit autoritär-libertär und links-rechts zu tun hat, weiß ich nicht. Jedenfalls ist das möglicherweise das Zusammenhaltsthema.
4. In der heutigen Böll-Veranstaltung ging’s immer wieder auch um die These, dass die Parteien sich nicht mehr genug voneinander unterscheiden würden, dass sie – abgesehen von der AfD – keine Alternativen und Entscheidungsoptionen anbieten. Wenn ich mir die von der FES vorgenommene Verortung anschaue, dann ist das nicht so. Bis auf die SPD mit ihrer traurigen Mittelposition ist doch recht klar abgegrenzt, wer wo steht, und wer für wen eine Wahlalternative anbietet. Neben der im Diagramm nicht erfassten Ökologie wäre demnach das Einstehen für eine kulturell libertäre Gesellschaft das große grüne Alleinstellungsmerkmal.
wird fortgesetzt
Danke für den interessanten Kommentar und den differenzierten Blick auf die FES-Grafik.
Kurz zu Punkt 4, Unterscheidbarkeit – da ich das Schlagwort ja auch verwendet habe: Ich bin ebenso wie du der Meinung, dass die Parteien heute durchaus unterscheidbar sind. (Wie sich die Annäherung oder Polarisierung der Positionierung der Parteien zueinander im Zeitverlauf verändert hat, wäre eine spannende Untersuchung.) Dennoch ist es eine Dimension, die wir als Faktor für attraktive Parteien im Auge behalten müssen. Es macht ja einen Unterschied, ob man aus einer Verhandlung mit der Haltung rauskommt: „Wir konnten unsere Position nicht zu 100% umsetzen, aber das ist ein Kompromiss, mit dem man arbeiten kann“ oder ob man Kompromissergebnisse mit der eigenen Positionierung verwechselt und keinerlei Abgrenzung mehr zulässt. Als ein Beispiel wie man die Dimension Unterscheidbarkeit mitdenken kann. Weiteres Beispiel: an den grandes lignes, der zeitgemäßen Erzählung arbeiten (und an dieser Stelle höre ich auf).
Viele Grüße
Eva
Gibt es in der Partei wirklich einen Richtungsstreit darüber, ob wir „Homo-Ehe, Patchwork-Familienbild und Gleichstellung“ verteidigen? Nennenswerte inhaltliche Konflikte dazu sind mir nicht in Erinnerung.
Anders ist es bei dem, was du hier als Ordnungspolitik bezeichnest, wobei es aber eben gerade nicht um das Setzen von Rahmenbedingungen geht, sondern um Einzelfallregelungen (Veggie Day). Das sehe ich sehr wohl als (verhältnismäßig) autoritär. Interessant ist das Beispiel, weil es zeigt, dass nicht nur die Spannweite der Partei groß ist, sondern auch die einzelner Mitglieder, die einerseits solche autoritären Forderungen unterstützen, sich gleichzeitig aber in der Selbstwahrnehmung und vermutlich in anderen Themen tatsächlich eher libertärer einschätzen würden.
Den Punkt, dass einzelne Mitglieder (oder auch Wähler*innen) themen- und bereichspezifisch mal dazu und mal dazu tendieren, finde ich wichtig.