Die SPD-Wahlwoche würde das Problem nicht lösen

Testbild am Abend

WELT und Spie­gel online ist zu ent­neh­men, dass SPD-Gene­ral­se­kre­tä­rin Yas­min Fahi­mi sich eini­ge Gedan­ken dazu gemacht hat, wie die Wahl­be­tei­li­gung gestei­gert wer­den kann. Mit Blick auf den Kern von Demo­kra­tie ist eine hohe Wahl­be­tei­li­gung ein sinn­vol­les Ziel, auch wenn z.B. die PEGI­DA-Mär­sche Men­schen anlo­cken, bei denen ich mir gar nicht so sicher bin, ob ich mich über deren Wahl­recht freu­en soll – und obwohl tak­tisch gese­hen eine gerin­ge­re Wahl­be­tei­li­gung durch­aus auch gut für klei­ne­re Par­tei­en (wie Bünd­nis 90/Die Grü­nen) sein kann. 

Aber gehen wir mal davon aus, dass eine höhe­re Wahl­be­tei­li­gung für eine Demo­kra­tie grund­sätz­lich etwas Gutes ist. Heu­te liegt sie bei Bun­des­tags­wah­len bei rund 70 Pro­zent, bei Land­tags- und Kom­mu­nal­wah­len oft noch ein­mal deut­lich dar­un­ter. Wiki­pe­dia visua­li­siert schön, wie die Wahl­be­tei­li­gung bei Bun­des­tags­wah­len in den ers­ten Jah­ren der jun­gen Bun­des­re­pu­blik ange­klet­tert auf ein Niveau von 86–87 Pro­zent ange­stie­gen ist, dann 1972 einen Spit­zen­wert von über 90 Pro­zent erreicht hat und sich seit­dem – mit eini­gen Schwan­kun­gen – im Rück­gang auf das heu­ti­ge Niveau von rund 70 Pro­zent befin­det. Der ers­te deut­li­che Ein­bruch erfolg­te dabei von 1987 auf 1990 – die ers­te Wahl, in der auch in der ehe­ma­li­gen DDR (die bei der „Volks­kam­mer­wahl“ von 93 Pro­zent Wahl­be­tei­li­gung erreich­te) der Bun­des­tag gewählt wurde.


Wiki­pe­dia bie­tet direkt einen Län­der­ver­gleich an: in Öster­reich ver­läuft die Ent­wick­lung der Wahl­be­tei­li­gung fast iden­tisch wie in der Bun­des­re­pu­blik, eben­falls mit einem Spit­zen­wert in den 1970er Jah­ren und einem Niveau von – immer­hin – 75 Pro­zent bei der letz­ten Wahl. In der mus­ter­de­mo­kra­ti­schen Schweiz sieht es dage­gen ganz anders aus. Bei den Natio­nal­rats­wah­len wähl­ten dort in den 1920er Jah­ren noch rund 70 Pro­zent der Wahl­be­rech­tig­ten, in den 1970er Jah­ren waren es etwa 55 Pro­zent und seit 1979 wer­den die 50 Pro­zent nicht mehr erreicht. Auch in den USA liegt die Wahl­be­tei­li­gung bei rund der Hälf­te der Wahl­be­rech­tig­ten. (Güll­ner 2013, S. 13 (s.u.) weist aller­dings auch dar­auf hin, dass es Län­der wie etwa die skan­di­na­vi­schen gibt, die bis heu­te eine hohe Wahl­be­tei­li­gung bei­be­hal­ten haben).

Apro­pos Wahl­be­rech­tig­te: Kin­der­wahl­recht bzw. eine Sen­kung der Alters­gren­ze sowie ein Wahl­recht für hier leben­de Aus­län­de­rIn­nen wären noch ein­mal zwei ganz ande­re Debat­ten, die aber eben­so wie die Fra­ge nach eine Ent­kopp­lung von geo­gra­fi­schem Ort und poli­ti­schem Wahl­be­zirk hier zu weit füh­ren würden.

Also zurück zur Wahl­be­tei­li­gung in Deutsch­land. Ich erin­ne­re mich gut dar­an, dass es 2011 bei der Land­tags­wahl in Baden-Würt­tem­berg einen deut­li­chen Anstieg der Wahl­be­tei­li­gung gege­ben hat – von 53 auf 66 Prozent. 

Das führt mich zu mei­ner ers­ten The­se: Die Wahl­be­tei­li­gung hängt stark davon ab, ob es „um etwas geht“. Auch die hohen Pro­zent­zah­len aus den 1970er Jah­ren deu­ten dar­auf hin, dass umkämpf­te poli­ti­sche The­men, ein gesell­schaft­li­cher Ver­än­de­rungs­wil­le, der sich par­la­men­ta­risch so (noch) nicht abbil­det, und die rea­le Chan­ce, dass die eige­ne Stim­me etwas ändert, Wäh­le­rIn­nen dazu moti­vie­ren, an einer Wahl teil­zu­neh­men. Ist auch logisch – wenn auf der ande­ren Sei­te der amtie­ren­de Bür­ger­meis­ter zum xten Mal wie­der antritt, und höchs­tens Spaß­kan­di­da­tIn­nen dage­gen auf­tre­ten, wun­dert eine extrem nied­ri­ge Wahl­be­tei­li­gung über­haupt nicht. 

Anders gesagt: Es erscheint mir plau­si­bel, dass unter­scheid­ba­re Par­tei­en, die für unter­schied­li­che, strit­ti­ge Pro­jek­te ste­hen, und die sich auf eine ent­spre­chen­de Stim­mun­gen in der Bevöl­ke­rung und in den Medi­en stüt­zen kön­nen, die Wahl­be­tei­li­gung stei­gern. Plötz­lich geht es dann nicht mehr um das „klei­ne­re Übel“ oder dar­um, dass „die“ eh alle das glei­che machen, tun und wol­len, son­dern um eine ech­te Wahl. Das erhöht den (gefühl­ten) Wert der eige­nen Stimme.

Es sei dazu gesagt, dass dies auch anders inter­pre­tiert wer­den kann. So weist Vio­la Neu (2012, S. 36 f. s.u.) in einer Stu­die der Kon­rad-Ade­nau­er-Stif­tung dar­auf hin, dass die zurück­ge­hen­de Wahl­be­tei­li­gung damit erklärt wer­den kann, dass die Bin­de­kraft der „ver­in­ner­lich­ten Wahl­norm“ auf­grund des post­ma­te­ri­el­len Wer­te­wan­dels nachlässt. 

Glass study III

Die zwei­te Fra­ge ist die nach der Stim­mungs­la­ge der Nicht­wäh­le­rIn­nen. Nicht an einer Wahl teil­zu­neh­men, kann ja durch­aus eine poli­ti­sche Hand­lung sein, eine Stimm­ab­ga­be im Sin­ne eines „none of the abo­ve“. Hohe Zufrie­den­heit wie hohe Unzu­frie­den­heit, die aber kein kon­struk­ti­ves Ven­til fin­det, könn­te glei­cher­ma­ßen die Nicht­teil­nah­me erklären.

Mei­ne Time­line war so nett, mich hier­zu auf drei aktu­el­le Stu­di­en hin­zu­wei­sen. (Den Anspruch, die poli­tik­wis­sen­schaft­li­che Lite­ra­tur zu die­sem The­ma auf­zu­ar­bei­ten, haben ich nicht …)

Jen­drik Scholz ver­wies auf eine Stu­die von MPIfG und Ber­tels­mann-Stif­tung (Armin Schä­fer, Robert Vehr­kamp, Jéré­mie Felix Gag­né), die zu dem pla­ka­ti­ven Schluss kommt: „Bun­des­tags­wahl 2013: Wahl­er­geb­nis ist sozi­al nicht reprä­sen­ta­tiv“.

Dahin­ter steht die hier empi­risch unter­leg­te Erkennt­nis, dass es seit den 1970er Jah­ren eine zuneh­men­de Sprei­zung der Wahl­be­tei­li­gung gege­ben hat. Es gibt Stimm­be­zir­ke mit hoher und es gibt Stimm­be­zir­ke mit nied­ri­ger Wahl­be­tei­li­gung. Sowohl die Arbeits­lo­sen­quo­te als auch der Anteil des „pre­kä­ren Milieus“ kor­re­lie­ren (bezo­gen auf Wahl­be­zir­ke) mit einer nied­ri­gen Wahl­be­tei­li­gung. Ein hoher Anteil des „libe­ral-intel­lek­tu­el­len Milieus“ fällt dage­gen sta­tis­tisch mit einer hohen Wahl­be­tei­li­gung zusam­men. Gleich­zei­tig (da das hier ver­wen­de­te Milie­u­mo­dell unter ande­rem auf den Bil­dungs­grad zurück­greift, um sozia­len Sta­tus zu bestim­men, ver­wun­dert das nicht), kor­re­liert eine hohe for­ma­le Bil­dung (hier: Anteil Abitur) mit einer hohen Wahlbeteiligung.

Pla­ka­tiv aus­ge­drückt: Men­schen mit gerin­gem Ein­kom­men und/oder gerin­ger for­ma­ler Bil­dung gehen deut­lich sel­te­ner zur Wahl als Men­schen mit hohem Ein­kom­men und/oder hoher for­ma­ler Bil­dung. Dies ist eine neue Erschei­nung, die es in den – ins­ge­samt ega­li­tä­re­ren, stär­ker sozi­al­staat­lich gepräg­ten? – 1970er Jah­ren so noch nicht gab. 

Die­se auf amt­li­che Sta­tis­ti­ken bzw. geo­gra­phi­sche Milie­u­mo­del­le zurück­grei­fen­de Ana­ly­se zeigt ein­drucks­voll, dass sich hin­ter der zurück­ge­hen­den Wahl­be­tei­li­gung ein sozi­al­staat­li­ches Pro­blem ver­birgt. Aller­dings kön­nen Schä­fer et al. kei­ne Aus­sa­gen dazu tref­fen, war­um Men­schen nicht zur Wahl gehen. Hier lässt sich auf die­ser Daten­ba­sis nur spekulieren.

(Ach­tung: Die Aus­sa­ge ist nicht, dass alle Nicht­wäh­le­rIn­nen arm oder unge­bil­det sind. Sie ist nur, dass die Wahr­schein­lich­keit, zur Wahl zu gehen, höher ist, wenn jemand in einem Wahl­be­zirk wohnt, in dem der Anteil von Men­schen mit for­ma­ler höhe­rer Bil­dung bzw. höhe­rem sozia­len Sta­tus grö­ßer ist.)

Auf Twit­ter hat Chris­ti­an Rein­bo­th mich auf die bei­den Stu­di­en der SPD-nahen Fried­rich-Ebert-Stif­tung (Man­fred Güllner/Foras, Nicht­wäh­ler in Deutsch­land, 2013) bzw. der CDU-nahen Kon­rad-Ade­nau­er-Stif­tung (Vio­la Neu, „Dann bleib ich mal weg“. Der Mythos der „Par­tei“ der Nicht­wäh­ler, 2012) hingewiesen. 

Güll­ners Unter­su­chung für die FES basiert auf einer com­pu­ter­ge­stütz­te Tele­fon­be­fra­gung im Jahr 2012, bei der 3501 Wahl­be­rech­tig­te, die in vor­he­ri­gen Befra­gun­gen ange­ge­ben haben, 2009 nicht an der Bun­des­tags­wahl teil­ge­nom­men zu haben, nach ihren Moti­ven etc. befragt wur­den. Die Ergeb­nis­se sind durch­aus inter­es­sant. So stellt Güll­ner fest, dass etwa die Hälf­te (46 %) „spo­ra­di­sche Nicht­wäh­ler“ sind, die nach eige­nen Anga­ben nur 2009 nicht zu Wahl gegan­gen sind, bei den Wah­len davor jedoch schon. Auf der ande­ren Sei­te sind „Dau­er-Nicht­wäh­ler“ (14 %) zu fin­den, die bis­her an kei­ner Bun­des­tags­wahl teil­ge­nom­men haben. Sozi­al­struk­tu­rell fin­den sich im Ver­gleich zu den Wäh­le­rIn­nen v.a. drei Unter­schie­de (Güll­ner 2013, S. 19):

  • Ost­deut­sche sind überrepräsentiert,
  • Haupt­schul- bzw. Real­schul­ab­schluss kommt häu­fi­ger als bei den Wäh­le­rIn­nen vor,
  • der Anteil Erwerbs­tä­ti­ger ist ähn­lich wie bei Wäh­le­rIn­nen, Nicht­wäh­le­rIn­nen sind jedoch häu­fi­ger als Wäh­le­rIn­nen Arbeiter. 

Dies ent­spricht der Aus­sa­ge der Stu­die von Schä­fer et al. – auch Güll­ner (2013, S. 83) fasst zusammen: 

„Die vor­lie­gen­de Nicht­wäh­ler­stu­die bestä­tigt vor­lie­gen­de Hin­wei­se und Ver­mu­tun­gen, dass eher die unter­pri­vi­le­gier­ten Wäh­ler­schich­ten zur Wahl­ent­hal­tung ten­die­ren als die Wähler/innen aus mitt­le­ren und obe­ren Schich­ten der Gesell­schaft. Bedenkt man zusätz­lich, dass Bür­ger mit hoher Bil­dung, gesi­cher­tem Ein­kom­men und beruf­li­chen Netz­wer­ken ohne­hin bes­se­re Mög­lich­kei­ten zur eige­nen Inter­es­sen­ver­tre­tung haben, ver­schärft die sozi­al unter­schied­li­che Wahl­be­tei­li­gung die Schief­la­ge in der poli­ti­schen Reprä­sen­tanz wei­ter. Eine nied­ri­ge Wahl­be­tei­li­gung führt somit auch zu mehr sozia­ler Ungerechtigkeit.“ 

In der FES-Stu­die wer­den zudem in umfang­rei­cher Wei­se poli­ti­sche Ein­stel­lun­gen und das Inter­es­se an Poli­tik bei den ver­schie­de­nen Nicht­wäh­le­rIn­nen-Grup­pen dar­ge­stellt (jeweils die Selbst­ein­schät­zung anhand von Fra­ge­bo­gen-Items). Dem­nach sehen die meis­ten Nicht­wäh­le­rIn­nen sich als „Wäh­ler im War­te­stand“ (S. 83). Sie geben an, an Poli­tik inter­es­siert zu sein (61 %) und sich zu infor­mie­ren – hier feh­len lei­der Ver­gleichs­wer­te zu den Wäh­le­rIn­nen, inso­fern ist es rela­tiv schwer ein­zu­schät­zen, wie Aus­sa­gen wie die, dass 32 Pro­zent der Nicht­wäh­le­rIn­nen glau­ben, dass Wah­len nichts ändern (S. 31) oder dass Poli­tik für das eige­ne Leben egal ist (57 % der „Dau­er-Nicht­wäh­ler“, S. 32), zu bewer­ten sind. 

Deut­lich Unter­schie­de zwi­schen Wäh­le­rIn­nen und Nicht­wäh­le­rIn­nen gibt es hin­sicht­lich der Zufrie­den­heit mit der Demo­kra­tie. So kate­go­ri­siert Güll­ner 9 Pro­zent der Nicht­wäh­le­rIn­nen als „Anti-Demo­kra­ten“ ein (und sogar 19 % der „Dau­er-Nicht­wäh­ler“), wäh­rend dies nur für 4 Pro­zent der Wahl­be­rech­tig­ten ins­ge­samt zutrifft. Ent­spre­chend wer­den 43 Pro­zent aller Wahl­be­rech­tig­ten als „zufrie­de­ne Demo­kra­ten“ klas­si­fi­ziert, wäh­rend nur 21 Pro­zent der Nicht­wäh­le­rIn­nen ange­ben, mit der Demo­kra­tie ganz zufrie­den zu sein (S. 24). In die­se Rich­tung deu­tet auch ein gerin­ge­res Ver­trau­en der Nicht­wäh­le­rIn­nen in poli­ti­sche Insti­tu­tio­nen, als dies für die Bevöl­ke­rung ins­ge­samt zutrifft (S. 37). 

Eini­ge Fra­gen von Güll­ner gehen auch auf das Wahl­ver­fah­ren selbst ein. So wird nach der ver­mu­te­ten Dau­er des Weges ins Wahl­lo­kal und nach der Ver­än­de­rung des Wahl­ver­fah­rens in den letz­ten zehn Jah­ren gefragt. Soweit sich dies ohne Ver­gleichs­grup­pe bewer­ten lässt, wir­ken die­se Anga­ben nicht besorg­nis­er­re­gend. So sagen 49 Pro­zent der Nicht­wäh­le­rIn­nen, dass ihr Wahl­lo­kal fünf Minu­ten oder weni­ger ent­fernt ist (S. 59). 

Schließ­lich fragt Güll­ner eine gan­ze Rei­he von mög­li­chen Grün­den für Wahl­abs­ti­nenz ab (S. 72 ff.). 

„Bün­delt man die ver­schie­de­nen genann­ten Moti­ve mit Hil­fe einer Fak­to­ren­ana­ly­se erge­ben sich vier Motiv-Dimen­sio­nen: Unmut über Poli­ti­ker, eine gene­rel­le Poli­tik­ver­dros­sen­heit, Unzu­frie­den­heit mit den Ange­bo­ten der Par­tei­en und per­sön­li­che Motive.

Auch bei die­ser Bün­de­lung bestä­tigt sich, dass – vor allem für die Grup­pe der Dau­er-Nicht­wäh­ler – die Unzu­frie­den­heit mit der prak­ti­zier­ten Poli­tik und eine Distanz zur Poli­tik die ent­schei­den­den Moti­ve für die Ent­schei­dung, nicht zur Wahl zu gehen, sind.“ 

D.h., dass for­ma­le Grün­de (Wahl­ver­fah­ren, Wahl­tag) oder per­sön­li­che Grün­de (z.B. Abwe­sen­heit wg. einer Urlaubs­rei­se) kei­ne beson­ders gro­ße Rol­le für das Nicht­wäh­len spie­len – über­wie­gend sind es poli­ti­sche Grün­de: „Die Unzu­frie­den­heit mit der Art und Wei­se, wie vie­le poli­ti­sche Akteu­re heu­te Poli­tik betrei­ben, ist das Haupt­mo­tiv der Nicht­wäh­ler, sich nicht mehr an Wah­len zu betei­li­gen.“ (S. 85). Dem­entspre­chend ist die Nicht­wahl auch nicht gleich­zu­set­zen mit schwei­gen­der Zustim­mung zum Sta­tus quo.

Die Unter­su­chung der KAS (Neu 2012) ist metho­disch ähn­lich ange­legt – auch hier wer­den Per­so­nen, die (um Ver­zer­run­gen zu ver­mei­den: unmit­tel­bar nach der Wahl 2005 bzw. 2009) ange­ge­ben haben, nicht zur Wahl gegan­gen zu sein, erneut befragt (1505 Per­so­nen, tele­fo­ni­sche Befra­gung, 2011, hier Infra­test Dimap). 

Im Unter­schied zu der FES-Befra­gung und zur Lite­ra­tur all­ge­mein kann Neu (2012, S. 45 ff.) sozi­al­struk­tu­rel­le Unter­schie­de nur sehr begrenzt fest­stel­len; die Ten­den­zen zu geringerer/mittlerer statt hoher for­ma­ler Bil­dung fal­len weni­ger deut­lich aus, auch Effek­te der Alters­struk­tur und der Erwerbs­tä­tig­keit sind weni­ger deutlich. 

Bezo­gen auf das poli­ti­sche Inter­es­se kommt Neu zu dem Ergeb­nis, dass das ange­ge­be­ne poli­ti­sche Inter­es­se der Nicht­wäh­le­rIn­nen etwa dem der Gesamt­be­völ­ke­rung ent­spricht (S. 24). Das Bild ändert sich aller­dings, wenn offen nach bestimm­ten poli­ti­schen Ereig­nis­sen gefragt wird – hier geben die befrag­ten Nicht­wäh­le­rIn­nen zu weni­ger als der Hälf­te kor­rek­te Ant­wor­ten etwa zur nach den Wah­len 2005 bzw. 2009 gebil­de­ten Koali­tio­nen. Wäh­rend die Par­tei­prä­fe­ren­zen etwa der Bevöl­ke­rung ent­spre­chen, ist bei den Nicht­wäh­le­rIn­nen 2005 bzw 2009 auch die Bereit­schaft, 2013 zur Bun­des­tags­wahl zu gehen, deut­lich gerin­ger als in der Gesamt­be­völ­ke­rung – von den Nicht­wäh­le­rIn­nen mit Par­tei­prä­fe­renz gibt etwa die Hälf­te an, erneut nicht zur Wahl gehen zu wol­len bzw. ungül­tig wäh­len zu wol­len (S. 30). 

Auch die Stu­die der KAS unter­sucht Moti­ve für die Nicht­wahl. In einer Fak­to­ren­ana­ly­se wer­den drei Fak­to­ren iden­ti­fi­ziert: 1. „poli­ti­sche Ent­frem­dung“ inkl. feh­len­der Ver­bun­den­heit zu einer Par­tei, 2. „Denk­zet­tel­wah­len“, und 3. „zufrie­de­ne Nicht­wäh­ler“ (S. 38 f.). Ins­be­son­de­re der ers­te und der zwei­te Fak­tor sind dabei quan­ti­ta­tiv rele­vant; Aus­sa­gen, die dem drit­ten Fak­to­ren zuge­rech­net wer­den, betref­fen nur eine klei­ne Grup­pe von NichtwählerInnen. 

Die „poli­ti­sche Ent­frem­dung“ wird plas­tisch, wenn eine qua­li­ta­ti­ve Vor­un­ter­su­chung der KAS hin­zu­ge­zo­gen wird, die zu fol­gen­den Ergeb­nis kommt (Neu 2012, S. 40):

„In Kom­bi­na­ti­on mit einer qua­li­ta­ti­ven Unter­su­chung erge­ben sich zusätz­li­che Aspek­te. In einer qua­li­ta­ti­ven […] Umfra­ge, bei der auch Nicht­wäh­ler im Fokus stan­den, taucht immer wie­der die Aus­sa­ge auf, die Politik/Partei/Politiker wür­den sich nicht mehr um die klei­nen Leu­te küm­mern und die­se hät­ten kei­nen Ein­fluss auf poli­ti­sches Han­deln. Mit dem Begriff die ‚klei­nen Leu­te‘ ist von den Inter­view­ten jedoch nicht eine bestimm­te sozia­le Lage gemeint. ‚Der klei­ne Mann‘ kann durch­aus ein beacht­li­ches Ein­kom­men erzie­len und in einer füh­ren­den Posi­ti­on tätig sein. Dahin­ter ver­ber­gen sich jedoch Ent­frem­dungs- und Ohn­machts­ge­füh­le, beglei­tet von einem erheb­li­chen Des­in­ter­es­se an Politik.“ 

Party glasses

Zusam­men­ge­fasst über die drei Unter­su­chun­gen hin­weg schält sich dabei doch das Bild des Nicht­wäh­lers bzw. der Nicht­wäh­le­rin als „poli­tisch ent­frem­det und ent­täuscht“ her­aus. The­men, aber vor allem die wahr­ge­nom­me­ne Art und Wei­se, wie Poli­tik betrie­ben wird, wer­den kri­ti­siert; eine kla­re Par­tei­b­in­dung fehlt, d.h. auch: kei­ne Par­tei passt zu den gefühl­ten eige­nen Inter­es­sen. Und zumin­dest laut Ber­tels­mann und der FES/­For­sa-Stu­die kommt dazu eine unter­pri­vi­le­gier­te sozi­al­struk­tu­rel­le Lage. 

In die­ser Per­spek­ti­ve ist eine nied­ri­ge Wahl­be­tei­li­gung und eine hohe Zahl an Nicht­wäh­le­rIn­nen ein Hin­weis dar­auf, dass das poli­ti­sche „Ange­bot“ bestimm­te Grup­pen nicht mehr erreicht. Zuge­spitzt: Jede Nicht­wahl ver­grö­ßert den indi­vi­du­el­len Gra­ben zur „Poli­tik“ „da oben“. 

Was lässt sich dar­aus jetzt ler­nen? Mehr „Ein­wurf­stel­len“ für Wahl­zet­tel schei­nen mir nach die­sem Exkurs dann doch vor allem Sym­ptom­be­kämp­fung zu sein. Die Wahl­wo­chen a la McDo­nalds nach schwe­di­schem Vor­bild, die mobi­le Wahl­ur­ne (ana­log zum Alten­heim-Bus der ergrau­ten Volks­par­tei­en) und die Wahl an der Super­markt­kas­se, und was der Bar­rie­re­frei­heits­vor­schlä­ge mehr sind, wür­den zwar sicher­lich die Prä­senz einer Bun­des­tags­wahl im All­tag erhö­hen (wohin­ge­gen mehr Brief­wahl, SMS-Wahl etc. sie noch stär­ker aus dem All­tag neh­men wür­den) – viel­leicht führt das sogar zu einer höhe­ren Wahl­be­tei­li­gung. Das Ent­frem­dungs­pro­blem, die Tat­sa­che, dass es wohl rele­van­te Bevöl­ke­rungs­grup­pen gibt, die kein Par­tei­pro­gramm (so sie es denn – kor­rekt – wahr­neh­men) über­zeu­gend fin­den, wird nicht dadurch gelöst, dass beim Tan­ken oder Bröt­chen­ho­len spon­tan noch eine Gewinn­zahl ange­kreuzt wird. 

Und auch hier spu­cken die AfD und PEGIDA her­um. Durch­aus ein „poli­ti­sches Ange­bot“ für ein sich selbst als Mit­te der Gesell­schaft ver­ste­hen­des, nach rechts rut­schen­des (oder da bereits ste­hen­des) Milieu. Aber auf jeden Fall eines mit Gru­sel­fak­tor. Was letzt­lich zu der Fra­ge führt, wie tat­säch­lich reprä­sen­ta­ti­ve Wahl­er­geb­nis­se aus­se­hen wür­den – oder ob es nicht doch eine „Poli­tik des Küm­merns“ durch die heu­te im Bun­des­tag ver­tre­te­nen Par­tei­en geben könn­te, die dazu führt, nicht mehr wäh­len­de Bevöl­ke­rungs­grup­pen (wie­der) zu errei­chen, ohne stramm nach rechts abzubiegen.

Die Art, wie Poli­tik kom­mu­ni­ziert wird, könn­te hier­zu ver­mut­lich auch eini­ges bei­tra­gen. Und poli­ti­sche Bil­dung – naja, die hilft sicher auch irgendwie.

Und im Rück­griff auf mei­ne ers­te The­se, dass die Wahl­be­tei­li­gung dann steigt, wenn es um etwas geht: auch das wäre eine Auf­ga­be für die Par­tei­en. Dazu gehö­ren doch etwas viso­nä­re­re Pro­jek­te, als dies der­zeit übli­cher­wei­se der Fall ist (oder sagen wir: kla­rer kon­tu­rier­te und poli­tisch zuge­ord­ne­te Pro­jek­te) – und ein ernst­haf­ter poli­ti­scher Streit dar­um (oder, wenn’s denn sein muss, auch über Per­so­ni­fi­ka­tio­nen die­ser Pro­jek­te), der über das Hoch und Run­ter der Talk­shows und Schlag­zei­len hin­aus geht. Das zumin­dest wür­de die Demo­kra­tie auch dann vor­an­brin­gen, wenn es an der Wahl­be­tei­li­gung nichts ändern soll­te, lohnt sich also auf jeden Fall.

War­um blog­ge ich das? Weil mir die SPD-Vor­schlä­ge eher unbe­hol­fen vor­ka­men, aber ich nicht ein­fach nur mit „Mei­nung“ reagie­ren wollte.

Eine Antwort auf „Die SPD-Wahlwoche würde das Problem nicht lösen“

  1. Vie­len Dank für die­sen Bei­trag. Das The­ma geht mir schon lan­ge im Kopf her­um, ich bin aber noch nicht dazu gekom­men ernst­haft nach­zu­for­schen – da hast Du mir ganz viel Arbeit abge­nom­men. Die Zusam­men­fas­sung deckt sich durch­aus mit mei­ner gefühl­ten Einschätzung.

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