Eine Folge der grünen Neuaufstellung nach der Bundestagswahl ist die intensivierte Suche nach den Wurzeln der zweiten Säule, nach dem emanzipatorischen Freiheitsbegriff. Dieses Suchvorhaben führte jetzt zu einem autorenpapierernen Aufschlag; unter dem Titel „Die Farbe der Freiheit ist Grün“ deuten Kai Gehring, Irene Mihalic, Can Erdal, Lucas Gerrits, Rasmus Andresen, Andreas Bühler, Daniel Mouratidis, Özcan Mutlu, Ulle Schauws, Jan Schnorrenberg, Anne Tiedemann, David Vaulont, Robert Zion Freiheit als einen zentralen grünen Grundwert aus.
Wir denken, dass es an der Zeit ist, das freiheitliche Profil unserer Partei stärker als bisher herauszustellen. Mit unserem Zugang zu diesem Thema haben wir ein Alleinstellungsmerkmal im politischen Wettbewerb, dass wir nicht unter den Scheffel stellen sollten. Unser Papier liefert keine fertigen Programme oder Initiativen. Wir wollen eine lebendige, interdisziplinäre Debatte über die Chancen einer freiheitlichen grünen Politik anstoßen. Ein Anfang ist gemacht, das Ende ist offen. Unsere Vision ist die gleiche Freiheit für alle – nur das ist gerecht und fair. Wir wollen weiter die Verantwortung eines/r Jeden für die Zukunft als positiven Grundwert verstehen und transportieren. Zugleich plädieren wir dafür, unseren Nachhaltigkeitsbegriff so zu vermitteln, dass er die Freiheit in den Mittelpunkt stellt und solidarische und ökologische Politik miteinander verbindet. Mit unserer Freiheitserzählung und unserem Freiheitshandeln wollen und können wir mehr Menschen für Grüne begeistern und u.a. das progressive weltoffene Bürgertum für uns gewinnen.
Ich finde das Ergebnis überzeugend, auch wenn das eine oder andere fehlt – dazu gleich noch mehr – oder vielleicht nicht pointiert genug ist. Insofern unterstütze ich das Papier gerne. Wer das auch möchte, kann dies im Kommentarbereich von gruen-und-frei.de kundtun.
Aber zum Papier selbst. Ist ein grüner Freiheitsbegriff neu? Nicht wirklich. (Wer Spaß an innerparteilicher Historie hat, mag sich mit „Grüne Freiheit“ befassen – die Seite stammt aus dem Jahr 2009, der Anspruch ist ähnlich). Die grüne Freiheit zu suchen, sind zunächst einmal Ausgrabungsarbeiten. Es geht darum, eine grüne Seite wieder sichtbarer zu machen, die medial verschüttet wurde, auch wenn sie Bestand hatte. Entsprecht geht die Kritik, dass das Autorenpapier – über das Geschlechterverhältnis der UnterzeichnerInnen und AutorInnen ließe sich, nebenbei bemerkt, auch noch das eine oder andere sagen … – sich stellenweise wie eine kompakte Zusammenfassung des Bundestagswahlprogramms liest, nicht ganz in die Irre. Das muss so sein, wenn es nicht um eine komplette programmatische Wende gehen soll, sondern um die Aufarbeitung und Stärkung einer grünen Traditionslinie. (Hingewiesen sei an dieser Stelle übrigens auch noch auf Robert Zions Streitschrift „Noch eine Chance für die Grünen“, die einiges noch etwas deutlicher sagt …)
Was ist nun „grüne Freiheit“? Die zentrale Definition am Anfang des Papiers lautet wie folgt:
Jede und jeder soll so leben können wie er oder sie das will – nicht auf dem Rücken anderer, nicht auf Kosten noch ungeborener, künftiger Generationen und nicht als Adressat eines übertriebenen Etatismus. Deshalb ist unser grüner Freiheitsbegriff einer, der die größtmögliche Selbstbestimmung von heute mit der Verantwortung gegenüber der Globalgesellschaft und den kommenden Generationen in Einklang bringt.
Oder anders gesagt: Freiheit ist Selbstbestimmung im Kontext von Nachhaltigkeit. Diese Verknüpfung von emanzipatorischem Freiheitsverständnis und Nachhaltigkeit könnte in dem Papier – vor allem im zweiten und dritten Teil, in dem es um die Ausdifferenzierung des Freiheitsbegriffes geht – noch deutlicher werden. Im Kern ist sie aber genau hier angelegt, und genau hier sehe ich auch die Differenz zum Freiheitsverständnis anderer Parteien, die das Label „liberal“ für sich beanspruchen.
Aus dem emanzipatorischen Freiheitsverständnis erwächst zwangsläufig ein bürgergesellschaftliches Staatsverständnis. Ein Staat, der es nicht besser weiß, sondern zuhört, der sich mit der Bürgergesellschaft auf Augenhöhe befindet. Aber eben auch kein Minimalstaat, kein Nachtwächterstaat, sondern einer, der stark genug ist, um Freiheit durchzusetzen, zu schützen und nicht zuletzt erst zu ermöglichen. Freiheit findet hier ihr Gegenstück im grünen Teilhabeversprechen.
Freiheit lässt sich schließlich programmatisch durchdeklinieren. Was bedeutet es, grüne Programmatik mit emanzipatorischem Blick zu betrachten? Was heißt es für grüne Umweltpolitik, für grüne Sozialpolitik, für grüne Bildungspolitik und schließlich für grüne Gesellschaftspolitik, wenn sie an dem oben definierten Freiheitsversprechen gemessen wird. Die Autorinnen und Autoren betonen hier die Übereinstimmungen mit anderen grünen Werten und zentralen politischen Zielen. Um die eigene Freiheit leben zu können, ist eine intakte Umwelt notwendig, muss ein auskömmliches Niveau an Teilhabe gesichert werden, müssen alle – unabhängig von ihrer Herkunft – Bildungschancen erhalten, und müssen alle demokratische Rechte nutzen können, müssen Diskriminierungen jeder Art verhindert werden.
Zusammen betrachtet wird hier ein attraktives Interpretationsangebot eröffnet, das nicht nur plausibel macht, wie Freiheit grün gedeutet werden kann, sondern auch verdeutlicht, dass eine solche Interpretation heute die richtige für grüne Politik ist.
Was dem Papier fehlt, ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Partei selbst, und mit den Zielkonflikten, die sich aus den unterschiedlichen grünen Traditionslinien ergeben. Genau da wird es aber spannend. Wie gehen wir mit Nachhaltigkeit – also dem Freiheitsversprechen für zukünftige Generationen – um, wenn dadurch Einschränkungen für die heute lebenden Menschen erwachsen? Was passiert, wenn manche sich in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen, weil sie – über Steuern und Abgaben – dazu herangezogen werden, Infrastruktur und Teilhabechancen zu finanzieren, die es anderen erst ermöglichen, Freiheit auszuleben? Wieviel Volksbildung, wieviel sorgender Staat in einem sozialdemokratischen Sinne steckt in grüner Programmatik? Auf all solche Fragen geht das – übrigens flügelübergreifende – Papier nicht oder nur am Rande ein. Hier wäre mehr Profil sicherlich nicht schlecht, auch wenn damit der Tatbestand der „Nestbeschmutzung“ erfüllt würde.
Das betrifft, nebenbei gesagt, auch das Feld, mit dem ich mich am besten auskenne. Zu Wissenschaft und Forschung verliert das Autorenpapier kein Wort. Das ist nicht nur erstaunlich, weil die Freiheit von Forschung und Lehre bekanntermaßen ebenso wie die Kunstfreiheit grundgesetzlich garantiert ist, sondern auch deswegen, weil hier einige herausgehobene innerparteiliche Konflikte vergraben sind. Zu den Autoren des Papiers gehört mit Kai Gehring auch der wissenschaftspolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion – umso mehr vermisse ich eine Positionierung zur Forschungsfreiheit. (Als BAG Wissenschaft, Hochschule, Technologiepolitik versuchen wir gerade, einen innerparteilichen Diskussionsprozess zu dem innergrünen Zielkonflikt zwischen Forschungsfreiheit einerseits – also einem positiven Bekenntnis zur Logik der Wissenschaft – und einigen grünen Glaubenssätzen andererseits anzustoßen. Da hätte eine Aussage im Freiheitspapier gut dazugepasst.)
Aber gut: Es soll ja, wie oben zitiert, der Anfang einer Diskussion sein und nicht ihr Ende. Ich persönlich rechne damit, dass die innerparteiliche Debatte um die zukünftige Ausrichtungen und das grundlegende Wertegerüst grüner Politik nach der Europawahl – die ist im Mai 2014 – an Fahrt gewinnen wird. Wir sollten uns dieser Debatte stellen – gerade auch da, wo es wehtut.
Warum blogge ich das? Um auf das Papier hinzuweisen, und als ausführlichere Fassung meines dort abgegebenen Kommentars.