Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?
Das schrieb Bertolt Brecht 1953, also vor sechzig Jahren. Historisch ist der Vergleich etwas heikel, aber irgendwie kam mir das Gedicht heute in den Sinn.
Und zwar, passend zum trüben November und zur gerade mal wieder erfolglos zu Ende gegangenen Klimakonferenz, aus der pessimistisch machenden Erfahrung heraus, dass die Hürden für tatsächliche Veränderung hoch sind. Oder nehmen wir die vor sich hinverhandelnden Großen Koalition in spe, die Entscheidung in Hessen, dass CDU und Grüne Koalitionsverhandlungen aufnehmen wollen – beides ziemlich genau das Gegenteil ernsthafter progressiver Politik.
Also die alte Frage: Wieso wählt dieses Volk nicht einfach mal eine vernünftige Regierung? Wo kommen die über 40 Prozent für die CDU her, wo die Stimmen für AfD, NPD, usw.? (Noch dramatischer sähe das Bild aus, wenn von den 25 Prozent, die die SPD gewählt haben, diejenigen abgezogen werden, die das aus welchen Motiven auch immer heraus gemacht haben, aber eigentlich keine Veränderung wollen …). Insgesamt kommt dabei, je nach Fall der Würfel, eine deutliche Mehrheit des „Weiter so“ heraus, oder, mit etwas Glück eine ganz knappe Mehrheit nominiell progressiver Parteien. Die sich dann, Starrsinnigkeit der einen Seite und Scheu der anderen Seite, nicht in eine Regierungsmehrheit umsetzen lässt. Und welche, selbst wenn es so wäre, die Frage berechtigt erscheinend ließe, ob der Kurs einer progressiven Mehrheit auch auf gesellschaftliche Mehrheiten stößt.
Und das alles kombiniert damit, dass behördliche Apparate, rechtliche und haushalterische Sachzwänge, Zuständigkeiten und nicht zuletzt der Blick auf die Meinungshoheit es selbst in einem halbwegs progressiven Regierungsbündnis schwer machen, tatsächlich etwas zu verändern. Der Fortschritt ist eine Schnecke, die über dicke Bretter kriecht. Oder so.
Es gibt die kleinen Zonen gefühlter kultureller Hegemonie. Aber auch dort lösen wir die großen Probleme nicht. Wo aber dann? Reicht es aus, nach langem Bretterbohren einen Blumenstrauß an kleineren Verbesserungen durchzusetzen, und das eine oder andere Leuchtturmprojekt? (Selbst in Hessen könnte das ja gelingen …)
Und auf der anderen Seite die Erfahrung: Egal, was eine progressive Regierung macht, egal, um welches Thema es geht – es wird, neben der wohl unvermeidbaren grundsätzlichen Ablehnung mancher Seiten, immer Gruppen geben, denen das ganz und gar nicht ausreicht, und die sich dann auch deutlich vernehmbar zu Wort melden. Spaß macht das nicht.
Um auf Brecht 1953 zurückzukommen: Volk und Regierung passen heute erstaunlich gut zusammen. Jedenfalls dann, wenn die (gefühlte) Mehrheit der WählerInnen irgendetwas über politische Haltungen und Stimmungen aussagt. Der gesellschaftliche Aufbruch kommt dabei unter die Räder. Wenn es ein besseres Verfahren geben würde, würde ich ja anfangen, deswegen an der Demokratie zu zweifeln.
So bleibt die vage Hoffnung auf das Wogen der Meinungsbrandung und den richtigen, glücklichen Moment, der dann, im besten alle Fälle, ergriffen werden kann. Und die Sisyphos-Arbeit, immer wieder dafür zu werben, dass es auch anders sein könnte, und dass das besser wäre. Attraktive Visionen, nicht nur für die Nische, sondern überhaupt. Haben wir eine Strategie dafür?
Warum blogge ich das? Weil es sich lohnt, sich angesichts der vermutlichen Regierungsbildungen in Hessen und im Bund nochmal vor Augen zu halten, dass es aktuell keine klaren progressiven Mehrheiten gibt – und dass die Handlungsmöglichkeiten parlamentarischer Politik begrenzt sind. Gerade im Novembernebel.