Günther Grass und Willy Brandt, 1972 – CC‑0, Quelle
Es muss eine Zeit gegeben haben – vielleicht so zwischen 1960 und 1980, mit meinem Geburtsjahrgang 1975 bin ich ein klein wenig zu jung dafür, um das bewusst mitgekriegt zu haben – in der es total wichtig war, die führenden öffentlich-rechtlichen sozial-liberalen Großintellektuellen für SPD-Kampagnen zu gewinnen. Vielleicht ist es nur ein Gerücht, aber möglicherweise hat Willy Brandt damals so seine Wahl gewonnen, mit der breiten Unterstützung durch Vordenker und Leute wie z.B. Günther Grass. So die pfeifenrauchenden Weltdeuter (m.)., die erklärten, wie wichtig Willy wählen wäre.
Vielleicht ist das damals schon vor allem Inszenierung gewesen. Möglicherweise gab es auch einen echten Willen aus dem Wahlvolk heraus, einen Wechsel herbeizuführen. Der sich schon vor der Wahl darin gezeigt hat, den angedachten und gewollten Wechsel mit dem eigenen Namen zu unterstützen. Clicktivism, heißt das heute. Oder dafür sogar, und da kommen wir dem Bewegungsbegriff näher, auf die Straße zu gehen. Mit anderen darüber zu reden. „Überzeugungsarbeit zu leisten“.
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten denken, so scheint es mir, gerne an diese Zeit zurück. Und was damals richtig war, kann heute nicht falsch sein. Das mag einer der Gründe dafür sein, warum schwarz-weiße Fotografien wichtiger Vordenker (m.) auch heute noch gerne verwendet werden, um für den Wechsel zu werben.
Keine Frage: Dieses Land hat dringend einen Wechsel notwendig. Wenn ich mir was aussuchen könnte, dann einen, als dessen Ergebnis eine grün-rote Regierung eine Bundeskanzlerin wählt. Oder sogar einen solchen Wechsel, bei dem eine gewagte Dreierkonstellation an die Macht kommt, um die vage linke Mehrheit in diesem Land in politische Gestaltung umzusetzen. So ein Wechsel wäre prima, und noch wichtiger: so ein Wechsel wäre wichtig. Weil ziemlich viel falsch läuft. Die gelungene grüne Vorwahl-Angriffskampagne macht deutlich, was da alles schief läuft.
Leider scheine ich damit – also mit der Idee, dass Grün-Rot Deutschland voranbringen würde – in einer Minderheit zu sein. Gefühlt geht es mir selbst mit der Idee, dass so ein Wechsel eine tolle Sache wäre, ganz ähnlich. Vor der Wahl 2011 war das spürbar. Da waren Leute mit Ideen, Bürgerinnen und Bürger, die vor Ort auf Wände gestoßen sind. Die neue Schulformen ausprobieren wollten. Die Windräder bauen wollten. Die mit Ehrenamt jenseits der konservativen Matrix nicht wirklich auf Unterstützung stießen. Da lag ein Wunsch nach Neustart in der Luft. (Mappus und Fukushima haben die Realisierung dieses Wunsches möglich gemacht. Aber ohne dieses spürbare Gefühl „hier muss dringend was passieren, sonst passiert was“ – ohne das wäre der Wechsel in Baden-Württemberg nicht möglich gewesen. Und ja: Ich glaube, zum Teil zehren wir immer noch davon – und werden letztlich auch daran gemessen werden, wie erfolgreich wir ausgemistet und durchgelüftet haben.)
Lassen sich soziale Bewegungen künstlich erzeugen? Das ist so ähnlich wie beim viralen Marketing: Es funktioniert nicht, wenn es nicht einen Kern gibt, der echt ist. Der – beim Marketing – wirklich witzig ist und dazu animiert, ein Mem, ein Filmchen, ein Bild weiterzugeben. Der – bei der sozialen Bewegung – in Herzen brennt. Wo es einen solchen Kern gibt, ein hoffnungsfrohes Projekt, eine zutiefst gemeinsam empfundene Ungerechtigkeit, und wo dann noch Leute dazukommen, die mobilisieren und organisieren – da klappt es mit der Bewegung. Aber ohne diesen Glutkern geht es nicht. Glaube ich.
Das sieht dann zum Beispiel so aus:
Oder so:
Oder so:
Oder auch so:
Die Idee ist klar geworden, glaube ich. Egal, ob Bildungsstreik, Spontane-Stuttgart-21-Aktivitäten oder der Kampf gegen die Atomkraft: Leute brennen für etwas, oder sind zutiefst empört. Und zeigen das. Bewegung.
Und jetzt kommt der unangenehme Teil, weil ich ja schlecht im Wahlkampf gegen die eigene Partei stänkern kann. Der unangenehme Teil ist mir heute abend auf Twitter und Facebook begegnet. Als Parteibasis (na, als Element der mittleren Funktionärsebene) war das auch die erste Begegnung. Und nein: Liebe auf den ersten Blick sieht anders aus. Die Rede ist von #bewegungjetzt.
Vielleicht muss ich noch eines vornewegschicken. Ich lasse mich ungern von Massen begeistern, und ich halte die Menschen für eigentlich gar nicht so dumm. Etwas gut finden müssen finde ich schrecklich. Und runterzukochen, zu vereinfachen, jede Komplexität aus einem Argument zu entfernen, nur um anzukommen: Das mag ich nicht. Diese Abwehrreaktion ist möglicherweise nicht sonderlich klug von mir. Als Soziologe ist mir die Existenz unterschiedlicher Milieus mit unterschiedlichen Hintergrundwissensräumen durchaus bewusst. Aber sich bewusst, instrumentell daran zu orientieren, statt für das richtige einzutreten, weil es richtig ist – das kann schwierig werden. Oder anders gesagt: Vielleicht bin ich auch einfach nicht die Zielgruppe.
Heute abend jedenfalls erstaunten mich Begeisterungsstürme grüner Bundestagsabgeordneter auf den sozialen Kanälen. Heute mittag gab es noch die eine oder andere leise Nostalgie wegen dieser oder jener letzten Ausschusssitzung, aber dann wurde in die Tröte geblasen. „Es geht looos!“ hieß es da beispielsweise. Das trifft es ganz gut. Was da los ging, war die Inaugurationsfeier – das Wetter spielte wohl nicht so mit – für eine Website.* Im Impressum stehen zwei Abgeordnete (Kerstin Andreae, Freiburger Grüne und Spitzenkandidatin in Baden-Württemberg, und Hubertus Heil, wohl ein Sozialdemokrat) sowie zwei publizistisch aktive parteiliche Nachwuchsintellektuelle (Tobias Dürr, Berliner Republik, rot und Peter Siller, polar, grün). Eingeweiht wurde mit allerlei Prominenz: Steinmeier, Trittin, Göring-Eckardt, … und zu den großen grünen und roten Abgeordneten und MinisterInnen kommt dann in der Manifest-ErstunterstützerInnen-Liste noch der eine oder andere Künstler und Denker.
Ich sagte schon, dass SozialdemokratInnen ein gewisses Faible für die scheinselbstständige WählerInnen-Initiative mit edlen Schwarz-Weiß-Fotos haben, oder?
Auf mich wirkt #bewegungjetzt – ehrlich gesagt – eher steril. Bewegung aus der Retorte, das geht nicht. Es gibt ein Logo, eine Mischung aus dem SPD-Würfel, der Reichstagsschatten und einer rot nach unten führenden Treppe. Es gibt – ach ja – ein Manifest mit (bei allem Spott: wirklich) wichtigen Forderungen. Mit schöner Sillerscher Lyrik, zehn zentralen Forderungen, denn alles wird gut, wenn nur der politische Frühling dem Neuanfang zur Blüte verholfen hat. So in etwa.
Der rot-grüne Aufbruch 2013 ist sowas wie das rot-grüne Projekt 1998 2.0 und besteht aus zehn Teilaufbrüchen. Aufgebrochen werden sollen bzw. soll in die nachhaltige Industriegesellschaft, hin zur Energiewende (natürlich kein Wort zur Kohle), in die Teilhabegesellschaft (was auch immer das ist), in ein solidarisches Land (damit sind unsere steuerlichen Umverteilungsideen gemeint), in ein europäisches Deutschland, in eine lebendig-digital-transparente freiheitliche Demokratie, in die faire Marktwirtschaft mit starken Kommunen, in denen die Gesellschaft a. gleichberechtig und b. offen ist.
Wie gesagt. Alles richtig. Vieles davon steht länger oder kürzer, besser oder schlechter formuliert auch in den (demokratisch beschlossenen) Wahlprogrammen der beteiligten Parteien.
Aber zündet dieses Sammelsurium? Und sieht so eine Bewegung aus, die Steinbrück zum Wahlsieg tragen kann? Was ist der Leitgedanke, was der eine, zentrale, heiße Kern – außer der Arbeitsplatzbeschaffung für MdBs?
#bewegungjetzt will die vielen Menschen motivieren, mobilisieren und vernetzen, die meinen, dass unser Land dringend einen politischen Frühling braucht. […] Für Gestalten statt Verwalten, für Kooperation statt Ellenbogen, für Kreativität statt Mehltau.
Leute, es ist Sommer, auch wenn’s draußen nach Herbst aussieht. Wir brauchen jetzt keinen politischen Frühling! (Nebenbei: Ist nicht etwas dick aufgetragen, hier an den arabischen Frühling zu assozieren? Oder ist der gar nicht gemeint, sondern der Prager Frühling? Bzw. die gleichnamige Zeitung eines Flügels der LINKEN?) Es sind noch 90 Tage oder so bis zur Bundestagswahl. Da kann sich noch etwas tun. Da sollten wir für kämpfen. Aber ist dafür sinnvoll, Menschen zu vernetzen, die Kreativität statt Mehltau wollen? Sollten wir die nicht lieber davon überzeugen, uns – Grüne! – zu wählen?
Mir ist das zu viel Wunschtraum, zu viel ich möchte Teilhaber einer Jugendbewegung sein, und zahlt mir bitte eine ordentliche Dividende. Zu viel Inszenierung, zu viel schöne Worte, und zu wenig Herz.
Bewegung könnte dieses Land brauchen. Aber nur, weil irgendwo Bewegung, Mobilisierung, Aktion und Kampagne drauf steht, ist es noch lange keine. Oder sieht das etwa nach Bewegung – also ich meine jetzt: echter, lebendiger, wirksamer Bewegung – aus?
Foto aus dem Facebook-Album #bewegungjetzt von Ekin Deligöz MdB geklaut
Vielleicht bin ich ja hoffnungslos romantisch und naiv. Vielleicht wirkt es, vielleicht braucht gerade das SPD-Milieu seine Denkerstirnsammlung, um zur Wahl zu gehen und die Familie mitzunehmen. Vielleicht bin ich einfach nicht die Zielgruppe. Vielleicht ist ein grünes Zugpferd das, was jetzt den roten Karren aus dem Dreck zieht. So hundertprozentig überzeugt bin ich davon nicht.
Wie dem auch sei: den Wunsch nach einem Wechsel habe ich auch. Zumindest darin bin ich mir mit dem Sportverein Rot-Grün 2013 einig. Insofern sollte mein Spott auch niemand davon abhalten, beschwingt für den Wechsel wahlzukämpfen. So, oder eben anders.
Warum blogge ich das? Eigentlich wollte ich ja nicht. Weil Wahlkampf ist. Weil ich überzeugt bin, dass Leute Kraft und Arbeit in das Projekt gesteckt haben. Aber manches muss eben gesagt werden. Auch wenn’s manchmal böse, ungerecht und gemein ist, und der Zeitpunkt eigentlich nicht passt.
* Ich dachte ja erst, ich hätte was übersehen: Aber #bewegungjetzt ist tatsächlich ein Text mit Forderungen, eine Reihe von ErstunterzeichnerInnen, die Möglichkeit, das auch zu unterstützen, und die Möglichkeit, sich das Bauklotzlogo ins Gesicht zu pappen. 2013.
Hab bei #bewegungjetzt erstmal an Trimm-Dich Pfade gedacht. Und an Walter Ulbricht: „Jedermann an jedem Ort – einmal in der Woche Sport“.
Tschuldigung aber als Slogan taucht #bewegungjetzt einfach mal gar nicht.
Sagen wir mal, mit einem etwas weniger statischen Logo, Aktivitätsangeboten jenseits einer Unterstützerliste und etwas mehr Power hinter alldem wär’s vielleicht ein schöner Slogan.
Hi Till,
ich finde, Dein Text klingt, als ob Du so grundsätzlich gerade keine Lust hast auf Wahlkampf hättest, man könnte Dir die Red Hot Chili Peppers mit George Clooney hinstellen und Du hättest keinen Bock. Warum ist das so? Wo ist denn Dein Kern, der in Deinem Herzen brennt?
Ne Jrooß
@Pausanias
Kurz: Wahlkampf sieht für mich anders aus. Zum einen will ich – wenn ich drüber nachdenke – tatsächlich lieber Wahlkampf für grün als für ein rot-grünes „Projekt“ machen. Ich finde das überzeugender. Und zum anderen glaube ich, dass Wahlkampf viel damit zu tun hat, sich – von mir aus auch online – mit Leuten auseinanderzusetzen. Zu argumentieren. Und nicht zu sagen: Schaut mal, wir Großkopferten haben noch ein paar Großkopferte gefunden, mit denen wir jetzt zusammen aufbrechen, und ihr dürft mit eurer Unterschrift an der Bewegungssimulation mitmachen. Geht dir anders?
Ich finde, was da in diesem Manifest steht, bietet doch genau das, was wir im Wahlkampf brauchen, das ist doch die Grundlage für die inhaltlichen Auseinandersetzungen der nächsten Wochen. Das ist Futter, an dem wir uns stärken können.
Was die „Großkopferten“ angeht: Ich freue mich über jeden, der mit uns in diese Richtung geht und je „Großkopferter“ jemand ist, desto sichtbarer wird die Bewegung. Um aus der „Bewegungssimulation“ eine Bewegung zu machen, müssen wir, die Nichtgroßkopferten, einfach mal mitmachen, denn ich denke, dass wir uns in der Richtung ja einig sind.
Ich kann durchaus nachvollziehen, dass Du als Grüner keine Lust hast, Deinen Kopf für Peer Steinbrück hinzuhalten, schließlich seid Ihr ja eine eigenständige Partei. Aber vor dem 22.09. wird kein Willy Brandt und kein Joschka Fischer oder eine sonst wie geartete andere Integrationsfigur mehr auftauchen und weder wir Sozis noch Ihr Grünen können warten, bis alles von ganz allein läuft – wir müssen schon selbst laufen.
Ich habe das Manifest auch unterschrieben, das heißt doch nicht, dass ich mich jetzt in den Sessel setzen kann und sagen „So, Wahlkampf ist erledigt, mal gucken, wie’s jetzt ausgeht.“
Ich finde, es wird Zeit, dass wir, die wir die schwarz-gelbe Lähmung loswerden wollen, mal ein wenig Optimismus verbreiten, denn unsere programmatischen Ansätze (sowohl die roten wie die grünen) sind so gut wie seit Jahren nicht mehr, der Kandidat Peer Steinbrück ist genau der, der Merkel an ihrer wichtigsten Stelle treffen kann: europäischer Zusammenhalt und Bändigung der Finanzmärkte.
Ich finde, es wird Zeit, dass das linke Lager die selektive Wahrnehmung mal vom Pinot Grigio zu den politischen Zielen verschiebt. Das müssen wir machen.
Unterschiedliche Angebote für unterschiedliche Menschen. ;-)
Es gab Leute, die hat überzeugt, dass Willy Brandt eine gute Politik versprochen hat. Es gab Leute, die hat beeindruckt, dass der junge Günther Grass für ihn spricht und es gab Leute, die am Infostand überzeugt wurden. Und für die meisten wird es eine Mischung aus allem gewesen sein.
#bewegungjetzt ist nicht die Bewegung, sondern höchsten Teil der Bewegung.
Zu Brandt und Grass muss ich jetzt noch diesen Link auf die ZEIT online von grade eben nachschieben.
Je länger das Ganze in der Welt ist, desto mehr zeigt sich, dass die Aktion nicht so richtig zündet. Wer mit Sozialdemokrat_innen zusammen so etwas ins Leben ruft, muss eben auch damit rechnen, dass es ein wenig sozialdemokratisch daherkommt. Für mich hat das immerhin nochmal deutlich gemacht, weswegen ich nicht in der SPD selbst Politik machen könnte, sondern nur in einer Koalition mit ihr.