Aufwärmübung


Gün­ther Grass und Wil­ly Brandt, 1972 – CC‑0, Quel­le

Es muss eine Zeit gege­ben haben – viel­leicht so zwi­schen 1960 und 1980, mit mei­nem Geburts­jahr­gang 1975 bin ich ein klein wenig zu jung dafür, um das bewusst mit­ge­kriegt zu haben – in der es total wich­tig war, die füh­ren­den öffent­lich-recht­li­chen sozi­al-libe­ra­len Groß­in­tel­lek­tu­el­len für SPD-Kam­pa­gnen zu gewin­nen. Viel­leicht ist es nur ein Gerücht, aber mög­li­cher­wei­se hat Wil­ly Brandt damals so sei­ne Wahl gewon­nen, mit der brei­ten Unter­stüt­zung durch Vor­den­ker und Leu­te wie z.B. Gün­ther Grass. So die pfei­fen­rau­chen­den Welt­deu­ter (m.)., die erklär­ten, wie wich­tig Wil­ly wäh­len wäre.

Viel­leicht ist das damals schon vor allem Insze­nie­rung gewe­sen. Mög­li­cher­wei­se gab es auch einen ech­ten Wil­len aus dem Wahl­volk her­aus, einen Wech­sel her­bei­zu­füh­ren. Der sich schon vor der Wahl dar­in gezeigt hat, den ange­dach­ten und gewoll­ten Wech­sel mit dem eige­nen Namen zu unter­stüt­zen. Click­ti­vism, heißt das heu­te. Oder dafür sogar, und da kom­men wir dem Bewe­gungs­be­griff näher, auf die Stra­ße zu gehen. Mit ande­ren dar­über zu reden. „Über­zeu­gungs­ar­beit zu leisten“. 

Sozi­al­de­mo­kra­tin­nen und Sozi­al­de­mo­kra­ten den­ken, so scheint es mir, ger­ne an die­se Zeit zurück. Und was damals rich­tig war, kann heu­te nicht falsch sein. Das mag einer der Grün­de dafür sein, war­um schwarz-wei­ße Foto­gra­fien wich­ti­ger Vor­den­ker (m.) auch heu­te noch ger­ne ver­wen­det wer­den, um für den Wech­sel zu werben.

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You can’t have the pie and eat it, too

Introduction I
Timo­thy Simms
Reinhold Pix
Rein­hold Pix

Ges­tern war ja die Nomi­nie­rungs­ver­samm­lung für den Wahl­kreis Frei­burg-Ost für die Land­tags­wahl. Als Ko-Ver­samm­lungs­lei­ter muss­te ich ges­tern abend ja neu­tral sein (und den­ke, dass mir das auch eini­ger­ma­ßen gelun­gen ist). Als Kreis­vor­stands­mit­glied des KV Breis­gau-Hoch­schwarz­wald freue ich mich sehr, dass unser Abge­ord­ne­ter Rein­hold Pix wie­der nomi­niert wur­de. Trotz – oder viel­leicht auch wegen – all sei­ner Ecken und Kan­ten ist er genau der rich­ti­ge für den oft zitier­ten „länd­li­chen Raum“. Er hat uns im Schwarz­wald in der Tat Türen geöff­net, die vor­her ver­na­gelt und bar­ri­ka­diert waren. Er steht für ein boden­stän­di­ges, manch­mal etwas rup­pi­ges Grün jen­seits der Groß­städ­te. Und genau das brau­chen wir auch in der Landtagsfraktion.

Inso­fern bin froh, dass Rein­hold mit 42 Stim­men der 53 Wahl­be­rech­tig­ten wie­der nomi­niert wur­de. Wenn ich mich im Saal umge­schaut habe, habe ich vie­le Leu­te aus Gun­del­fin­gen, vor allem aber aus dem Dreis­amt­al und aus dem Hoch­schwarz­wald gese­hen. Ich den­ke, dass (fast) alle davon Rein­hold gewählt haben.

Eigent­lich also aller Grund, zufrie­den zu sein. Ganz zufrie­den bin ich nicht, und das hat damit zu tun, dass der Frei­bur­ger Gemein­de­rat Timo­thy Simms nur 11 Stim­men erhal­ten hat. Tim, den ich seit Jah­ren – u.a. aus dem Sozio­lo­gie­stu­di­um und der Hoch­schul­ar­beit – ken­ne und per­sön­lich sehr schät­ze, hat­te sich rela­tiv kurz­fris­tig für die Kan­di­da­tur bewor­ben. Er hat das mit einer sehr urba­nen Bewer­bung getan, mit einem Schwer­punkt auf weit ver­stan­de­ne Kul­tur­po­li­tik und – als Deutsch-Ame­ri­ka­ner – auf Migra­ti­on und Inte­gra­ti­on. Auch das sind The­men, die ich ger­ne in der Frak­ti­on ver­tre­ten gese­hen hät­te. Eben­so wie Rein­hold ist Tim ein unab­hän­gi­ger Geist; eben­falls ein Vorteil. 

Mein liebs­tes Ergeb­nis des Abends wäre also gewe­sen, dass bei­de nomi­niert wor­den wären. Das ist nun aber tat­säch­lich unmög­lich. Ich hät­te also mit bei­den mög­li­chen Ent­schei­dun­gen leben kön­nen – als Kreis­vor­stands­mit­glied des „länd­li­chen“ KVs dann doch mit einer Prä­fe­renz für Rein­hold. Inso­fern bin ich, wie gesagt, froh über das Ergebnis. 

Vor der Ver­samm­lung bin ich davon aus­ge­gan­gen, dass es knap­per wer­den wür­de. Ich bin auch des­we­gen davon aus­ge­gan­gen, weil die Nomie­rungs­ver­samm­lung vor fünf Jah­ren heiß umkämpft war. So unschön das klingt: eine Nomi­nie­rungs­ver­samm­lung ist nur zu gewin­nen, wenn der Kan­di­dat oder die Kan­di­da­tin vor­her par­tei­in­ter­nen „Wahl­kampf“ macht, wenn für die Per­son gewor­ben wird, wenn, kurz gesagt, Leu­te mobi­li­siert wer­den. Ich weiss, dass Rein­hold hier in den Tagen vor der Wahl­ver­samm­lung noch ein­mal gro­ße Anstren­gun­gen unter­nom­men hat, was sich letzt­lich auch aus­ge­zahlt hat. Um nicht falsch ver­stan­den zu wer­den: es geht hier nicht dar­um, Leu­te zu über­re­den, für den einen oder den ande­ren zu stim­men, sich Stim­men in irgend­ei­ner Form zu erkau­fen. Viel­mehr mei­ne ich damit, dass der Kan­di­dat bei den­je­ni­gen Wahl­be­rech­tig­ten, die von ihm und sei­ner Poli­tik über­zeugt sind, dafür wirbt, die Ver­samm­lung zu besu­chen und so die poten­zi­el­le in eine tat­säch­li­che Stim­me umzuwandeln.

Ich bin davon aus­ge­gan­gen, dass auch Tim in die­sem Sin­ne mobi­li­sie­ren wür­de. Er hat das – wohl bewusst – nicht gemacht, son­dern sich mit sei­ner Bewer­bung der Ver­samm­lung gestellt. Demo­kra­tie­theo­re­tisch ist das vor­bild­haft – fak­tisch hat Poli­tik doch zu viel mit Macht zu tun, als dass die Annah­me, dass die Mehr­zahl der Teil­neh­me­rIn­nen einer Nomi­nie­rungs­ver­samm­lung dort hin­fährt, ohne nicht vor­her schon zum einen oder zum ande­ren zu ten­die­ren. In einem rela­tiv wei­ten Rah­men ist es dann auch egal, wie die Reden aus­fal­len, wel­che Fra­gen gestellt und wel­che Unter­stüt­zungs­state­ments geäu­ßert wer­den. Viel­leicht las­sen sich damit die Mit­glie­der, die ein­fach als Wahl­be­rech­tig­te gekom­men sind, ohne sich vor­her fest­ge­legt zu haben, in die eine oder in die ande­re Rich­tung bewe­gen. Wah­len und Abstim­mun­gen auf Par­tei­ta­gen schei­nen mir aber nur dann zu gewin­nen zu sein, wenn im Vor­feld, schon vor der eigent­li­chen Ver­hand­lung, vie­le von einer Sache oder einer Per­son über­zeugt wor­den sind, sich ihre Mei­nung also schon gebil­det haben – und dann auch teilnehmen. 

In die­ser Per­spek­ti­ve wird eine Nomi­nie­rungs­ver­samm­lung dann zu einem Ort, an dem es weni­ger dar­um geht, wer am Abend bes­ser auf­tritt, span­nen­der spricht, die wich­ti­ge­ren The­men ver­tritt – son­dern zu einem Ort, an dem sich ent­schei­det, wem es vor­her bes­ser gelun­gen ist, in der Par­tei für sich zu wer­ben. Und natür­lich – das hat­te Tim in sei­ner Bewer­bungs­re­de ange­spro­chen – sind die Vor­aus­set­zun­gen dafür nicht gleich. Gera­de in der Situa­ti­on, dass ein neu­er Kan­di­dat oder eine neue Kan­di­dat gegen den oder die amtierende(n) Abgeordnete(n) antritt, scheint es ohne mas­si­ve Wer­bung im Vor­feld nicht klap­pen zu können.

Es lie­ße sich jetzt noch viel dazu sagen, wie unde­mo­kra­tisch es ist, das letzt­lich die – mehr oder weni­ger zufäl­li­ge – Zusam­men­set­zung der Wahl­ver­samm­lun­gen in den aus­sichts­rei­chen Krei­sen dar­über ent­schei­det, wer mit einer hohen Wahr­schein­lich­keit in den Land­tag gewählt wird; dass Macht zu einer geo­ma­the­ma­ti­schen Ange­le­gen­heit wird. Solan­ge wir in Baden-Würt­tem­berg kein Lis­ten­wahl­recht haben, ist die Situa­ti­on aber so. Und natür­lich ist es eine Illu­si­on, zu glau­ben, dass ein Lan­des­par­tei­tag, der eine Lis­te auf­stellt, nach kom­plett ande­ren Regeln abläuft. Auch dort sind es – neben allen ande­ren Fak­to­ren – eben auch die vor­her mobi­li­sier­ten Netz­wer­ke und Grup­pen, die mit dar­über ent­schei­den, wie aus­sichts­reich eine Kan­di­da­tur ist.

Trotz­dem hät­te die Lis­ten­wahl den Vor­teil, dass die räum­li­che Begren­zung weni­ger strikt aus­fällt. Natür­lich könn­te Tim – als über­zeug­ter Frei­bur­ger ist das aber sehr unwahr­schein­lich – es noch in einem ande­ren Wahl­kreis ver­su­chen, etwa in Tübin­gen oder in Stutt­gart. Aber dass dort jemand „von außer­halb“ nomi­niert wird, ohne dass es dafür sehr gute Grün­de gibt, kommt kaum vor – schon allei­ne des­halb, weil die Fra­ge, wie groß das poten­zi­ell mobi­li­sier­ba­re Netz­werk inner­halb der loka­len Par­tei ist, eben eine ent­schei­den­de Bedeu­tung hat. Die­se loka­le Begren­zung wür­de also bei einer Lis­ten­wahl auf­ge­weicht (durch das Dele­gier­ten­prin­zip und den Wunsch, die eige­ne Regi­on auch im Par­la­ment ver­tre­ten zu sehen, gibt es de fac­to auch bei der Auf­stel­lung von Lis­ten gewis­se „Pro­por­ze“). Dann könn­te ich mei­nen Kuchen haben und ihn essen. 

So muss ich dabei blei­ben, gleich­zei­tig zufrie­den und unzu­frie­den mit dem Wahl­er­geb­nis zu sein. 

Was mir der Abend aber auch noch­mal gezeigt hat: es ist sehr leicht, und der Zuschnitt des Wahl­krei­ses ver­lei­tet gera­de­zu dazu, Stadt und Land als Bina­ri­tät zu kon­stru­ie­ren; fest­ge­macht an der Zuge­hö­ri­ge­kit zum einen oder zum ande­ren Kreis­ver­band, und dann schnell – ich habe es am Anfang die­ses Tex­tes ja auch getan – pola­ri­sier­bar auf „Land­the­men“ und „Stadt­the­men“. Es ist sehr leicht mög­lich, so zu tun, als wären das sich aus­schlie­ßen­de Gegen­sät­ze; mei­ner Beob­ach­tung nach haben bei­de Kan­di­da­ten sich auch genau so posi­tio­niert. Rein­hold als Agrar- und Tou­ris­mus­po­li­ti­ker, für den selbst Ver­brau­cher­schutz im Boden ver­an­kert ist – und Tim als Groß­stadt­kul­tur­po­li­ti­ker, für den der länd­li­che Raum nur Aus­flugs­ku­lis­se ist. 

Auch des­we­gen bin ich mit dem Ver­lauf der Nomi­nie­rungs­ver­samm­lung nicht ganz zufrie­den: den ich bin fest davon über­zeugt, dass es gera­de wir Grü­ne sind, denen es gelin­gen kann, die­sen schein­ba­ren Gegen­satz zu über­win­den. Kul­tur fin­det auch außer­halb der Stadt­gren­zen statt, und Agrar- und Ver­brau­cher­po­li­tik spielt sich auch im städ­ti­schen Super­markt ab. Dazu kommt die rea­le Unschär­fe der schö­nen Pola­ri­tät. Wer mit der Höl­len­tal­bahn vom Frei­bur­ger Haupt­bahn­hof bis in den Schwarz­wald hoch­fährt, fährt durch ein Kon­ti­nu­um aus Innen­stadt, Grün­der­zeit­stadt­vier­tel, sub­ur­ba­ner Vor­stadt, sub­ur­ba­ner Gemein­de, länd­li­cher Gemein­de. Die Gren­zen sind längst nicht so fest gezurrt, wie man­che das ger­ne hätten.*

Da liegt viel­leicht auch ein The­ma, mit dem ich mich in Zukunft stär­ker beschäf­ti­gen könn­te – nicht nur mit dem poli­ti­schen Hin­ter­grund als Vor­stands­mit­glied des „länd­li­chen“ Kreis­ver­ban­des Breis­gau-Hoch­schwarz­wald, der „urban“ geprägt und in der Stadt Frei­burg wohnt, son­dern auch mit dem, was mir in mei­ner beruf­li­chen Beschäf­ti­gung mit Agrar­so­zio­lo­gie und Forst­po­li­tik so unter die Fin­ger gekom­men ist. Ich wer­de dar­über nachdenken!

War­um blog­ge ich das? Ich bin mir gar nicht so sicher, ob es legi­tim ist, der­ar­ti­ge Gedan­ken – die ja auch ein biß­chen dem Hei­le-Welt-Bild inner­par­tei­li­cher Mit­be­stim­mung wider­spre­chen – öffent­lich zu machen. Trotz­dem sehe ich es als Auf­ga­be an, über die Gren­zen hin­aus zu den­ken, statt sie zu ver­fes­ti­gen. Und das Nach­den­ken über die gest­ri­ge Nomi­nie­rungs­ver­samm­lung mit ihrem für mich nicht ganz ein­fa­chen Ergeb­nis ist dazu ein Anlass.

* Neben­bei gesagt: auch unter dem Aspekt inter­es­sant, dass die Abgren­zung Stadt/Landkreis ein kla­res sozia­les Kon­strukt mit vie­len Kon­tin­gen­zen ist – zum Bei­spiel gehö­ren zur Stadt Frei­burg auch eini­ge rich­tig länd­li­che Gemein­den am Tuni­berg – die viel damit zu tun hat, wel­cher Gemein­de in den 1960er und 1970er Jah­ren ein Hal­len­bad ver­spro­chen wer­den konn­te und wo ein Bür­ger­haus gebaut wur­de. Die natu­ra­le „Bio­re­gi­on“ zieht dage­gen ganz ande­re Gren­zen, die ihre eige­ne Wirk­mäch­tig­keit haben.