Jetzt, genau in diesem Moment, erreicht mein Tweet-Zähler bei Twitter die magisch anmutenden 20.000. Ganz schön viel Gerede; und auch wenn „RTs“ – also Wiederholungen der Tweets anderer Leute – und das kurze Hin und Her von Unterhaltungen im Pseudo-Chat-Stil dabei sind, bleibt das ziemlich viel, was ich in den letzten Jahren geschrieben habe, bei Twitter.
Angeblich soll es ja demnächst die Möglichkeit geben, sich das alles runterzuladen. Also das persönliche Archiv. Ich bin da skeptisch. Zum einen, weil Twitter für mich nach wie vor eher ein orales Medium ist. Was geschrieben wurde, vergisst sich relativ schnell. Die Halbwertszeit der Aufmerksamkeit liegt vielleicht bei zwei Stunden, wenn nicht massiv retweetet wird. Und nach einigen Tagen hat selbst das Netz vergessen, dass es diesen oder jenen Tweet gab – die Suche verliert sich in den dunklen Datenbanken. Insofern ist Twitter ein Medium des Moments, kein Archiv – und das macht seinen Reiz aus.
Der andere Grund, warum ich skeptisch bin, wie sinnvoll ein Komplettdownload ist, liegt darin, dass Twitter ein hochgradig kontextabhängiges Medium ist. Das betrifft nicht nur Links auf Seiten und Bilder, die vielleicht gar nicht mehr existieren, sondern ebenso die Tatsache des Gesprächscharakters. Und das sind nicht nur die offensichtlichen, inzwischen auch technisch unterstützten Konversationen per @-Reply, sondern es sind eben auch die Themenwellen und memetischen Hypes, die in den Clusterungsbereichen der Netzwerke überschwappen. Ich bin mir nicht sicher, wie der Archivdownload von Twitter mit dieser Kontextabhängigkeit umgeht, ich bezweifle aber, dass das Problem der hermetischen Unverständlichkeit von Tweets sich technisch lösen lässt.
20.000 Tweets sind, um zum Ausgangspunkt zurückzukommen, etwa 2.000.000 Zeichen. Ganz grob gesagt: 500 Manuskriptseiten, ein dickes Buch. Da stellt sich natürlich schon die zweifelnde Frage, wo diese Textergüsse gelandet wären, wenn es das zeit- und zeichenfressende Twitter nicht geben würde. In 200 weiteren langen Blogeinträgen? In einem echten, richtigen Buch, auf Papier und so?
(20.000 Tweets a 20 Sekunden sind immerhin 400.000 Sekunden, das sind 6.666 Minuten oder 111 Stunden, und manchmal lese ich ja auch noch welche …)
Aber das ist nur die eine Sicht der Dinge. Wenn es stimmt, dass Twitter ein Gespräch ist, dann wären der Vergleichsmaßstab nicht geschriebene Seiten, sondern sich ergebende Gespräche mit einigen der 700 Menschen, denen ich folge, und der über 2000 Menschen (und Bots), die meine Tweets abonniert haben. Diese rauschenden Kommunikationen würden ohne Twitter oder ein funktionales Äquivalent davon nicht stattgefunden haben. Ob ich mehr mit den paar dutzend Menschen geredet hätte, die mir dann und wann begegnen, ohne Twitter? Ich bin mir auch da nicht sicher.
Twitter ist eine schöne Erfindung für eher introvertierte Menschen (eine Idee, die in „The highest frontier“ von Joan Slonczewski insofern eine Rolle spielt, als die schüchterne Hauptfigur Unbekannte lieber zutextet als mit ihnen zu reden). Twitter schafft lose Bekanntschaften, spinnt Netzwerke und schafft es manchmal, Vertrauen zwischen Unbekannten herzustellen.
Wenn es stimmt, dass Twitter einige Merkmale mit mündlicher Kommunikation teilt, dass es bei allen PR-Potenzialen ein relativ authentisches Medium des Moments ist, dann verwundert es nicht, dass – ja, die Interaktion nicht vergessen! – nach einigen hundert Tweets ein recht klares Bild vieler Personen entsteht. Klar kann das auch gespielte persona sein, aber die kleinen Praktiken des Stichelns und der ungeheuchelten Freude, die semiprivaten Momente in halber Öffentlichkeit … all das braucht schon ein gehöriges Maß an Schauspielerei, wenn es nur gespielt sein soll. Wer als Person twittert, verrät auch ungewollt einiges über sich – und schafft gerade so eine Basis für Vertrauen.
Meine Timeline kann eine Soap sein. Auf Twitter zeigen Menschen sich nicht von ihrer besten Seite. Sie sind kindisch. Sie nerven. Sie reagieren über. Sie blocken einander. Sie mischen sich naseweis ein in Gespräche, die sie nichts angehen. Sie vertreten vereinfachte Stammtischpositionen. Sie spielen. Sie verhalten sich, mit einem Wort, wie richtige Menschen in sozialer Beziehung, weil Twitter nichts anderes sein kann als ein kommunikativer Ausschnitt der richtigen Welt.
Als ich mit diesem Text liebäugelte, hatte ich zuerst die Idee, ihn mit einem Experiment enden zu lassen. Kein Twitter bis Neujahr, oder so. Urlaub von der allgegenwärtigen Lautheit der lautlosen Kommunikation.
Auch wenn das sicher interessant wäre, werde ich es nicht machen. Beim Schreiben dieser Zeilen ist mir deutlich geworden, wie wichtig mir Twitter als Spinnennetz belangloser Kommunikation geworden ist. Das mag Soap sein, das mag parasoziale Interaktion sein – aber täglich in einem Querschnitt aus hundert Meinungen, Haltungen und Alltäglichkeiten – nebst kuratierten Links und Werbung in eigener Sache – mitzuschwimmen, das möchte ich nicht missen. (Und gerade weil Twitter so ein alltagsintegriertes Medium ist, wird auch wie jedes Jahr in den nächsten Tagen die Tweetfrequenz von ganz alleine zurückgehen, weil die kommunikative Aufmerksamkeit sich nahräumig fokussiert – und erst ein paar Stunden oder Tage nach Weihnachten wieder zu einem Sturm der Sarkasmen, Geschenkbeschwerden und anderer Dinge anschwellen wird).
Die Nähe, die Twitter suggeriert, mag eine künstliche Nähe sein. Aber solange sie dieselben sozialen Effekte hervorbringt, spielt dies keine Rolle. Und darum freue ich mich auf meinen 20.001 Tweet.
Warum blogge ich das? Nachdenken darüber, was ich in diesem Netz eigentlich mache.
Ich versteh nicht, warum zu bei der Downloadmöglichkeit skeptisch bist – es sollte ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dass man seine Daten aus der Cloud und von diversen Anbietern auch wieder zurück bekommt. Der aktuelle Zustand bei Twitter ist ja schlimm, man twittert, die speichern alles, aber man selbst kommt nicht mehr an alle Daten.
Dass es diese Möglichkeit geben soll, ist nicht das Problem. Meine Skepsis bezieht sich darauf, was mit diesen Daten angefangen werden kann – weil Twitter a. ein vernetztes Medium ist (nur eine Seite des Telefongesprächs …) und b. eines, das eher im Moment als zeitlos funktioniert. Was nutzen mir 20.000 Tweets als Archiv, wenn der Kontext fehlt und die Diskussionsgegenstände längst vergessen sind?