Wer kandidiert eigentlich, und warum? Oder warum nicht?
Bei der Urwahl für die Spitzenkandidaturen waren es vier Personen mit Chancen, gewählt zu werden, und ein Fußballteam aus elf Männern, bei denen absehbar war, dass die Ergebnisse unterhalb von drei Prozent liegen würden. Was sich heute bewahrheitet hat.
Interessant ist hier, dass zwar zahlenmäßig sehr viel mehr Männer als Frauen antraten, aber eine echte Konkurrenz in erster Linie zwischen den Frauenplätzen stattfand. Interessant, weil es zwar auch etwas über Absprachen aussagt, und darüber, wie „Niederlagen“ gesehen werden, vor allem aber auch darüber, wer sich was zutraut. Und wer sich wie einschätzt.
Bei der Landeslistenaufstellung zur Bundestagswahl 2013 kandidieren bis dato 41 Personen. Gewählt wird am ersten Dezemberwochenende – ich gehe davon aus, dass diese Liste bis dahin noch wachsen wird. In Baden-Württemberg gibt es 38 Wahlkreise. Das heißt, schon jetzt sind es nicht nur diejenigen, die direkt in einem Wahlkreis von der Basis gewählt worden sind, sondern auch andere, die ihre Bewerbung eingereicht haben.
Soweit ich weiß, werden wir so etwa 35 Listenplätze wählen. Das hat auch was damit zu tun, dass von den beim letzten Mal (2008) gewählten 20 Listenplätzen inzwischen alle bis auf einen „durch“ sind. Auch wenn sowas wie die Besetzung von Ministerien in einer Landesregierung nicht so oft vorkommt, ist doch klar, dass es diesmal mehr Menschen als die jetzigen elf sein könnten, die für Baden-Württemberg für die Grünen in den Bundestag einziehen könnten. Je nachdem, wie das Wahlergebnis und das Wahlrecht konkret ausfallen, könnten es 15 bis 18 Mandate werden. Das sind so die Schätzungen, die ich bisher gehört habe.
Anders gesagt, von den im Dezember vielleicht fünfzig Menschen, die sich für die baden-württembergische Bundestagsliste bewerben, haben weniger als die Hälfte eine reelle Chance, in den Bundestag einzuziehen. Selbst mögliche Direktmandate werden daran wenig ändern.
Das ist einerseits gut, weil wir damit zumindest formal eine Auswahl haben (übrigens auch der Grund, warum ich es begrüße, dass auch für die Plätze 1 und 2 Gegenkandidaturen angekündigt wurden). Andererseits stelle ich mir zunehmend die Frage, was die Motivation dahinter ist, auf Platz 25 ff. auf die Liste gehen zu wollen – erst recht, wenn damit kein Wahlkreis verbunden ist.
Neben dem Bundes- und dem Landesvorsitzenden (Cem Özdemir bzw. Chris Kühn) treten die bisherigen MdBs wieder an, soweit sie nicht im Lauf der letzten Legislaturperiode Verkehrsminister, Agrarminister oder OB von Stuttgart geworden sind. Einige Abgeordnete aus anderen Ebenen, Mitglieder des Parteirats, lange in der Partei engagierte Leute. Und viele, die überregional völlig unbekannt sind. Die Chancen, gewählt zu werden, sind hier definitiv ungleich verteilt. Der innerparteiliche Wahlkampf hat längst begonnen – auf leisen Sohlen, und hier und da lautstark.
Im Frühsommer habe ich eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt, selbst anzutreten. Gefragt wird ja niemand. Wer etwas werden will, muss sich selbst darum kümmern. Wie überall.
Inzwischen habe ich mich definitiv gegen eine Kandidatur bei dieser Bundestagswahl entschieden. Klar: ein politisches Mandat ist reizvoll. Unbestritten. Aber würde ich tatsächlich zwischen Berlin und Freiburg (oder wo auch immer) pendeln wollen, meine Kinder nur noch am Wochenende sehen, meinen Terminkalender von außen bestücken lassen – Wahlkreistermine, inhaltliche Termine, Bundestagstermine, usw.?
Till Seiler aus Konstanz war einer derjenigen, die relativ weit hinten auf der baden-württembergischen Bundestagsliste standen. Er rückte im Zuge der Regierungsübernahme in den Bundestag nach – und gab nach einigen Monaten sein Mandat wieder ab. Ich kann das durchaus nachvollziehen.
Als parlamentarischer Berater der Fraktion im baden-württembergischen Landtag sehe ich, wie voll die Terminkalender der Abgeordneten sind. Wie ihnen von überall die Erwartung entgegengebracht wird, sich fachlich auszukennen, sich allen Problemen anzunehmen, den direkten Draht zum Ministerpräsidenten zu pflegen und dann noch ein Leben neben dem Parlament – inzwischen ist’s offiziell ein Vollzeitparlament – zu haben. Ich kriege mit, wie schlecht oder gut Einzelne damit klarkommen. Und wie wenig Zeit den Abgeordneten bleibt, die tatsächlich in so etwas wie politische Gestaltung fließt. Wo das gelingt, ist das extrem erfreulich. Oft bleibt es dabei, Sprachrohr der Regierung zu sein, und Briefkasten für die Wahlkreissorgen. Das heißt auch: wer Macht gewinnt, gibt Freiheit auf.
Das ist Stuttgart, das ist Baden-Württemberg. Mit dem Bundestag potenziert sich das.
Nicht, dass ich nicht den Reiz nachvollziehen kann, der von politischen Mandaten ausgeht. Auch ein Grund dafür, warum ich inzwischen in der Politik arbeite. So, wie Abgeordnetenmandate derzeit zugeschnitten sind, passen sie definitiv nicht jedem, nicht jeder, der/die ordentlich Politik betreiben will. In meiner aktuellen Lebenssituation wäre das nicht meines. Das mag sich ändern. Für heute sehe ich es so.
Ich werde das Risiko eines Wahlkampfs und den Nervenkitzel des Kampfs um den Listenplatzes also nicht eingehen. Vielleicht bin ich feige.
Aber sich nett vorzustellen, was alles möglich wäre mit so einem Mandat – das ist ja nur das eine. Dazu, tatsächlich gewählt zu werden, bei der Aufstellungsversammlung im Wahlkreis, auf der Landesliste, durch die Bevölkerung, dazu gehört einiges mehr.
In der Partei gibt es mehr als genug Menschen, die sich seit Jahren engagieren. Die Fachkenntnisse haben. Die vor Ort bekannt sind. Die gut vernetzt sind. Die große Chancen haben, gewählt zu werden. Wer sich die Liste der Bewerbungen anschaut, kann an zwei Händen abzählen, wer vermutlich vorne stehen wird.
Und wer hier ernsthaft einsteigen möchte, muss – so jedenfalls meine Beobachtung – schon weit vorher sehr viel Zeit und Energie investieren. Muss sich einen Namen machen. Sollte Erfahrungen in einem Lokalparlament gesammelt haben. Sollte wissen, wie das Spiel der Flügel funktioniert. Und sollte dann noch eine adrette, emotionale, fachliche – kurzum: stimmige – Rede halten. Sympathisch rüberkommen, an seinem Image arbeiten, die Rhetorik schulen, Ticks ablegen und nichts allzu persönliches twittern.
Wir Grüne stellen unsere Listen von unten her auf. Es gibt keinen Vorschlag der Parteiführung. Es gibt Absprachen, es gibt Bündnisse. Die können halten, die können zerfallen. Am Schluss entscheiden die 200 Delegierten über die Landesliste. Die Delegierten, gewählt von den Kreisverbänden – das ist nicht die Basisbasis, aber ich denke, dass wir Delegierte es trotzdem hinkriegen, klug zu wählen. Am Ende steht im Idealfall eine Liste mit alten und neuen Gesichtern, mit unterschiedlichen Fachthemen, eine Liste, in der nicht nur – Quote macht’s möglich – die Geschlechter, sondern auch die unterschiedlichen Regionen und Positionen innerhalb des Themenspektrums der Partei vertreten sind.
Ich freue mich darauf, im Dezember mit zu entscheiden, wie unsere baden-württembergische Landesliste aussehen wird. Mein Name wird nicht auf dieser Liste stehen. Aber mit etwas Glück viele Namen, denen ich zutraue, im Bundestag weiterhin gute grüne Politik zu machen, denen ich vertraue. Ich habe Respekt vor denen, die kandidieren – und noch mehr vor denen, die kandidieren, und die wissen, auf was sie sich einlassen.
Das ganze hat noch eine andere Seite. Früher haben wir die Rotation gefordert. Heute gibt es zumindest Leute, die über Amtszeitbegrenzungen oder Neuenquoten nachdenken. „BerufspolitikerIn“ ist ein Schimpfwort. Aber wer sich wirklich die Mühe macht, eine erfolgreiche Kandidatur vorzubereiten, einen Wahlkampf durchzuziehen und sich dann im Parlament zu etablieren – der oder die hat einiges an Arbeit erbracht. Zwischen der Arbeit zum ersten Mal gewählter Abgeordneter und der der alten Hasen gibt es sichtbare Unterschiede. Politik ist training on the job. Es gibt keine Ausbildung dafür.
Eine Partei, die dieses Fach- und Erfahrungswissen, diese Kontakte mutwillig wegschmeißt, ist nicht gut beraten. Ich halte viel davon, dass es Neue auf der Liste gibt. Aber das alleine ist kein Kriterium, und der faktische „Mandatsbonus“ der jetzigen Abgeordneten hat – in Balance und Ausgewogenheit zwischen beiden Zielen – durchaus seine Berechtigung.
Politik ist eben auch ein Beruf. Wer das ändern möchte, wer keine „BerufspolitikerInnen“ haben möchte, muss ziemlich viel an unserer Demokratie umbauen. Ob das gut wäre, finde ich schwierig zu beurteilen. In der Theorie sicherlich – das Gedankenexperiment eines Jahr für Jahr unter der Bevölkerung ausgelosten Parlaments hat seinen Reiz. Ob und wie das funktionieren würde, und welche Rolle dann die Apparate der Ministerien, der heutigen Fraktionen und des Parlaments spielen würden, sei dahingestellt.
Warum blogge ich das? Aus Gründen der Selbsterkenntnis, um mir sicher zu sein, mich so zu entscheiden. Als Blick auf die Hinterbühne. Und natürlich auch, weil mich interessieren würde, wie das bei anderen so ist mit der Motivation, zu kandidieren oder eben nicht.
Zu einem Aspekt (Erneuerung) wollte ich etwas sagen:
Rotation ist Unsinn. Zu viel Kenntnis und Kompetenz geht verloren. Wer schon einmal einem Parlament angehört hat weiss, wie lange es dauert, bis man wirklich etwas bewirken kann.
Frischer Wind ist aber auch gut, um eingefahrene Denkweisen in frage zu stellen. Jeder findet Neue sympathisch. Aber nach allen Kriterien die du nennst (Netzwerke, Fachkenntnisse, Rhetorik) sind Neue gegenüber Erfahrenen immer im Nachteil.
Manchmal ist es interessant Neues kennen zu lernen, z. B. den LV zu wechseln. Woanders ist manches anders, mal besser mal schlechter.
In Berlin haben wir (für das Abgeordnetenhaus) eine Neuenquote: Jeder dritte Platz ist Neuen vorbehalten, die noch nie in einem Landesparlament, dem Bundestag oder dem Europaparlament angehört haben.
Das finde ich einen guten Kompromiss: Es wird doch genauer geschaut, wer von den „Alten“ weiter machen soll (denn es bleibt selten Platz für alle), und Neue haben eine echte Chance. Und keine Sorge, es gibt genug BewerberInnen für dioe wenigen „Neuenplätze“.
Wieder eine Quote mehr. Aber vielleicht auch ein Vorbild für andere…
Hab ich für BaWü auch schon mal vorgeschlagen (für die Bundestagswahlliste), fiel aber nicht auf fruchtbaren Boden.
Auch die Bewerbungen für die mittleren Listenplätze sind beeindruckend lang, gerade wenn ich mal vergleiche, mit welchen Texten sich in MV Leute für den LaVo bewerben.
Allerdings sind die Texte auf Dauer ermüdend, denn die meisten Bewerber_innen wählen den allgemeinen Rundumschlag. Es wäre bei dem einen oder der anderen hilfreich, wenn die inhaltlichen Schwerpunkte und die Ausrichtung besser erkennbar wären. Insgesamt am besten sind noch die Bewerbungen der „Etablierten“ (aktuelle MdBs plus Franziska Brantner und Chris Kühn) ab Platz fünf. Da haben sich einige auch mehr Mühe gegeben als die Bewerber_innen für 1–4.
Bei den Neuen wirds dann aber schwierig und ich befürchte, dass das einigen Delegierten nicht besser gehen wird als mir als Außenstehendem. Mit den Texten von Annette Weinreich, Jörg Rupp und Matthias Gastel kann ich noch am meisten anfangen, ansonsten mangelt es vielen Bewerbungen an Wiedererkennungswert. Alexander Krauss und Dennis De beeindrucken mit bürger_innenferner Sprache und viel heißer Luft. Auffallend ist die hohe Zahl der Wahlkreisauswärtskandidaturen und die Versuche von Leuten, die bei der Landtagswahl 2011 ihr Zweitmandat nicht gewonnen haben.
Traurig und leider sehr wahr. Wirklich kompetente Leute mit Sachverstand auf beispielsweise technischem Gebiet wird man in dieser Konstellation wohl höchst selten auf vorderen Listenplätzen sehen.
Für jemand mit technischem Uni-Abschluss und 15+ Jahren Berufserfahrung würde eine erfolgreiche Kandidatur einen Einkommensverlust (sic!) darstellen bei deutlich erhöhtem Stress und Arbeitspensum. Und wie Du richtig dargestellt hast ist infrage zu stellen, ob die Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten dann tatsächlich größer sind als in der freien Wirtschaft. Und die Angesehenheit des Berufs „Politiker“ rangiert in Umfragen regelmäßig ganz unten. Attraktiv ist das nicht. Kein Wunder dass sich in Parlamenten und Parteien nicht wenige Selbstdarsteller finden. Welche Motivation sollte jemand auch sonst haben für so einen Job?
Ein anderer Punkt ist: Wie verändert das Amt die eigene Persönlichkeit? Ich kenne z.B. Boris Palmer aus seiner Zeit als Landtagsabgeordneter als netten Kumpeltyp und empfinde ihn bei Gesprächen heutzutage eher als taktierend und misstrauisch. Ich denke dass man im Amt oder Mandat zwangsläufig auch mit böswilligen Leuten in Kontakt kommt und dadurch vorsichtiger wird. Aber: Will man sich das antun – und dadurch womöglich die wohlmeinenden Leute vor den Kopf stoßen und Freunde verlieren?
Soviel zur „Attraktivität“ der von der zeitrafferin beschworenen „Fleischtöpfe“.