Bürgerliche Werte – oder wie wir uns unsere WählerInnen vorstellen (Teil II)

Fort­set­zung von Teil I. Anfän­ge.

II. Werte, Lager und Milieus

Die gesell­schaft­li­chen Ver­än­de­run­gen der letz­ten vier­zig Jah­re las­sen sich auch anders beschrei­ben, auf einer noch grund­sätz­li­che­ren Ebe­ne. Damit sind wir bei Ingel­hart und dem Post­ma­te­ria­lis­mus. Eine wirt­schaft­lich und sozio­kö­no­misch eini­ger­ma­ßen gesät­tig­te Gesell­schaft ent­deckt, dass es nicht unbe­dingt um „Haben“ geht. „Sein“ kommt ins Spiel – und dif­fe­ren­ziert sich wei­ter aus, in Rich­tung „Erleb­nis­kon­sum“ einer­seits und in Rich­tung „Selbst­ent­fal­tung“ andererseits. 

Aus die­sen Grund­ori­en­tie­run­gen einer­seits und dem sozia­len Sta­tus – Bil­dung, Ein­kom­men, Aner­ken­nung, Ein­fluss; kurz: unten und oben – ande­rer­seits lässt sich ein Ras­ter ent­wi­ckeln. Das Markt­for­schungs­in­sti­tut SINUS hat das gemacht (und Bour­dieu hat schon zuvor ähn­li­ches getan, und ande­re auch) – übri­gens wohl aus der Beob­ach­tun­gen her­aus, dass die poli­ti­schen Dif­fe­ren­zen der Bewe­gun­gen der 1980er Jah­re sich durch­aus auch in all­tags­äs­the­ti­schen Unter­schie­den, in unter­schied­li­chen Lebens­stil­prä­fe­ren­zen nie­der­ge­schla­gen haben. Am Schluss sind dann Wohn­zim­mer­ka­ta­lo­ge herausgekommen.

Die wich­ti­ge Erkennt­nis der Milieu­theo­rie ist für mich zunächst ein­mal, dass ein iden­ti­scher sozia­ler Sta­tus, beschrie­ben in klas­si­schen sozio­de­mo­gra­phi­schen Merk­ma­len, je nach damit ver­bun­de­ner Wert­hal­tung, je nach Lebens­stil­ori­en­tie­rung, ganz unter­schied­li­che Prak­ti­ken und Ein­stel­lun­gen nach sich zie­hen kann. Aus dem ein­di­men­sio­na­len Klas­sen­ge­gen­satz von Pro­le­ta­ri­at und Bour­geoi­sie, von Arbei­ter­klas­se und Groß­bür­ger­tum (mit irgend­was mitt­le­rem dazwi­schen geschich­tet) wird so ein zwei­di­men­sio­na­les Feld gesell­schaft­li­cher Posi­tio­nen. Anders gesagt: das Sein mag zwar einen Ein­fluss auf das Bewusst­sein haben, bestimmt es aber nicht.

Die empi­risch unter­leg­ten SINUS-Dia­gram­me, wie es sie seit Anfang der 1980er Jah­re gibt, machen alle paar Jah­re selbst einen Wan­del durch. Milieus wan­dern, neue Avant­gar­den kom­men hin­zu – wohl auch gespeist durch die uner­bitt­li­chen Zyklen modi­scher Abgren­zung -, ande­re fusio­nie­ren. Ein Abbild gesell­schaft­li­cher Dyna­mik, ergänzt durch Dyna­mi­ken, die wohl eher den Beson­der­hei­ten der Markt­for­schung zuzu­rech­nen sind.


Die SINUS-Milieus in West­deutsch­land Mit­te der 1990er Jah­re, nach Flaig et al. (1997): All­tags­äs­the­tik und poli­ti­sche Kultur.

Bis Mit­te der 1990er Jah­re fin­det sich in den SINUS-Dia­gram­men noch ein „Alter­na­ti­ves Milieu“ – das viel­leicht etwas mit dem zu tun hat, was ich im ers­ten Teil beschrie­ben habe. Der zusam­men­ge­clus­ter­te Zeit­geist. Aka­de­mi­sche Bil­dung, eher jün­ger, kein ganz tol­les Ein­kom­men, von den Wer­ten her klar post­ma­te­ri­ell – also am „Sein“ – orientiert. 

Jen­seits der Markt­for­schung lässt sich die­ses alter­na­ti­ve Milieu auch als spe­zi­fi­sches Netz­werk beschrei­ben, zu dem Per­so­nen, aber auch Orte und Medi­en gehö­ren. Alter­na­ti­ve Cafes, Kul­tur­zen­tren. Die gan­ze Sozio­kul­tur. Natur­kost­lä­den. Hoch­schu­len. Wohn­ge­mein­schaf­ten. Aber auch: Neue Medi­en, ganz undi­gi­tal – Zei­tungs­pro­jek­te wie die taz, Stadt­zei­tun­gen. Freie Radi­os. Flug­blät­ter. Kno­ten­punk­te in einem Netz­werk, das ein Milieu mit sei­nen Prak­ti­ken und Hal­tun­gen zusammenbindet.

Ein paar Jah­re spä­ter ver­schwin­det das alter­na­ti­ve Milieu aus den SINUS-Dia­gram­men, um als Leit­mi­lieu der „Post­ma­te­ria­lis­ten“ (oder ab 2010 dann als sozi­al­öko­lo­gi­sches Milieu) wie­der auf­zu­tau­chen. (Ich blei­be hier bei den bis 2009 gel­ten­den Begrif­fen, wie sie bei­spiels­wei­se in die­ser Stu­die zu fin­den sind).


SINUS-Milie­u­mo­dell für 2008, die „Post­ma­te­ria­lis­ten“ machen hier etwa 8% aus

Man­che beschrei­ben die­se Ent­wick­lung als Pro­zess der Ver­bür­ger­li­chung der Alter­na­ti­ven. Hoch­schul­ab­sol­ven­tIn­nen haben dann doch Kar­rie­ren begon­nen, man­che gera­de, man­che krum­mer. Aus der WG ist das Rei­hen­häus­chen gewor­den, oder das Bau­pro­jekt, oder das Haus auf dem Lan­de. Die Fami­lie ist gewach­sen, Kul­tur spielt nach wie vor eine Rol­le, aber selbst­ver­ständ­lich ist Klas­sik auch was schö­nes. Und der Ein­kauf im Bio­super­markt gehört dazu. Estab­lish­ment. Aber eben eine neue Vari­an­te Bürgertum. 

Als gesell­schaft­li­ches Leit­mi­lieu strahlt die­ses „grü­ne“ Milieu in ande­re Milieus aus. Auch in der „bür­ger­li­chen Mit­te“ fin­den sich teil­wei­se ähn­li­che Ori­en­tie­run­gen. Und am Rand des Milieu­spek­trums ent­ste­hen neue Milieus, expe­ri­men­tier­freu­di­ge, nicht starr an einer Iden­ti­tät fest­hal­te­ne Bohe­mes eben­so wie die leis­tungs­ori­en­tier­ten „Moder­nen Per­for­mer“. Die gegen­über­lie­gen­de, tra­di­tio­na­lis­ti­sche Sei­te des Spek­trums ver­liert an Gewicht. Bei­des führt dazu, dass „grü­ne“ Ideen in die Mit­te des Milieu­dia­gramms rücken. Anders gesagt: Aus der Avant­gar­de wird eine Wert­hal­tung, ein Milieu, das ange­kom­men ist – aber vie­le Wer­te und Ori­en­tie­run­gen bei­be­hal­ten hat.

Ich habe hier „grün“ in Anfüh­rungs­zei­chen gesetzt. Das hat zum einen etwas mit dem Green­wa­shing der LOHAS zu tun, vor allem aber damit, dass es eben – lei­der, zum Glück – nicht so ist, dass Milieu­zu­ge­hö­rig­keit und poli­ti­sche Ori­en­tie­rung zusammenfallen. 

Es gab lan­ge und gibt viel­leicht immer noch eine gewis­se Wech­sel­be­zie­hung zwi­schen einer „grü­nen“ poli­ti­schen Hal­tung, die etwa in Wah­len sicht­bar wird, und einer Zuge­hö­rig­keit zum ent­spre­chen­den Milieu. Das trifft für ande­re poli­ti­sche Hal­tun­gen aber schon län­ger nicht mehr zu – wer erin­nert sich nicht an Ger­hard Schrö­ders Kampf um die Mitte!

Kurz: die poli­ti­schen Lager und die all­tags­äs­the­ti­schen Milieus sind nicht iden­tisch. „Anhän­ger“, also Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler der Grü­nen fin­den sich in unter­schied­li­chen Lebens­stil­clus­tern wie­der, durch­aus auch in der „Bür­ger­li­chen Mit­te“ oder bei den „Expe­ri­men­ta­lis­ten“. Der Schwer­punkt liegt bei einem mitt­le­ren bis höhe­ren sozia­len Sta­tus (das ist aber nicht die „Ober­schicht“) und viel­fach bei aka­de­mi­scher Bil­dung und bei neue­ren Werthaltungen. 

Span­nend bleibt die Fra­ge, wie weit in wei­ter ent­fernt lie­gen­de Milieus grün zu wäh­len anschluss­fä­hig ist. Und wie breit eine Par­tei auf­ge­stellt sein kann, ohne am einen Ende des Milieu­spek­trums wie­der Wäh­le­rIn­nen zu ver­lie­ren, die sie am ande­ren Ende dazugewinnt. 

Span­nend bleibt die­se Fra­ge auch des­we­gen, weil „Bür­ger­tum“ häu­fig ein Bild der bei­den „alten“ Leit­mi­lieus in den Raum wirft – im 2008er-Modell von SINUS sind das die „Kon­ser­va­ti­ven“ (die an preus­si­schem Pflicht­ge­fühl und Bil­dungs­ka­non ori­en­tier­te alte Eli­te) und die leis­tungs­ori­en­tier­ten „Eta­blier­ten“. Aber eben nicht mit der rela­tiv brei­ten bür­ger­li­chen Mit­te. Oder etwa doch?

Deut­lich wird: „Bür­ger­tum“ ist, durch die Milieu­bril­le betrach­tet, kein wirk­lich sinn­vol­ler Begriff. 

Wenn damit Leit­mi­lieus gemeint sind, dann gibt es das durch­aus auch in grün. Wenn damit Milieus ober­halb der Unter­schicht und „rechts“ von den Avant­gar­de­mi­lieus gemeint sind, dann fällt vor allem die „Bür­ger­li­che Mit­te“ in den Blick, die sich durch Auf­stiegs­ori­en­tie­rung und Sicher­heits­be­dürf­nis aus­zeich­net, aber vie­len poli­ti­schen grü­nen Ideen viel­leicht gar nicht so unauf­ge­schlos­sen ist. Und was „bür­ger­li­che Wer­te“ sein könn­ten, bleibt zunächst offen.

Teil III. könn­te sich dann mit dem citoy­en befas­sen – dem Bür­ger oder der Bür­ge­rin als poli­ti­scher Akteu­rIn.

8 Antworten auf „Bürgerliche Werte – oder wie wir uns unsere WählerInnen vorstellen (Teil II)“

  1. Hal­lo Till,
    du musst beden­ken das es auch noch den Fak­tor Zeit gibt. Bezieht man die­sen mit ein, wach­sen bestimm­te Milieus nach oben raus (ster­ben aus) und ande­re neh­men ihren Platz ein. Ich wür­de die The­se in den Raum stel­len, dass das kon­ser­va­ti­ve Milieu (frü­her die fak­ti­sche öko­no­mi­sche Ober­schicht) lang­sam ausstirbt/ausdünnt und eine ande­re Grup­pe ihren frei gewor­de­nen Platz, den der fak­ti­schen öko­no­mi­schen Ober­schicht, ein­nimmt, in die­sem Fall, die zu Geld gekom­me­nen Post­ma­te­ria­lis­tIn­nen… Inso­fern wäre „Bür­ger­tum“ eher ein funk­tio­nel­ler Begriff, bzw mit einer bestimm­ten Rol­le im Gefü­ge (ggf. auch im Klas­sen­ge­fü­ge) ver­bun­den. Folgt man die­sem Gedan­ken, wird einem klar, dass mit einem „pro­gres­si­ven“, „post­ma­te­ria­lis­ti­schen“ und/oder „sozio­öko­lig­schen“ Bür­ger­tum nie­mand gehol­fen ist, solan­ge es die­se Posi­ti­on in einer bestimm­ten Funk­ti­on aus­füllt und sozio­öko­no­mi­schen Ebe­nen unan­ge­tas­tet bleiben.
    Bes­te Grüße
    Gregor

    1. SINUS nennt das „Leit­mi­lieus“, was du hier als funk­tio­na­les Bür­ger­tum bezeich­nest. Und das mit der Zeit ist span­nend, weil es nicht ganz so ein­fach ist, weil hier indi­vi­du­el­le Bio­gra­phien, demo­gra­phi­sche Ver­schie­bun­gen und gesamt­ge­sell­schaft­li­che Wer­te­wan­del­trends zusammenwirken.

  2. In die­sem Sin­ne wäre eine drei­di­men­sio­na­le Dar­stel­lung sehr inter­es­sant, also hier die Ein­füh­rung der Demo­gra­fie als drit­te Dimension…

  3. Die Sinus-Milieus sind ja zunächst ein­mal Kon­su­men­ten­mi­lieus, daher logi­scher­wei­se nicht poli­ti­sche Milieus. Der Begriff „kon­ser­va­tiv“ meint da auch eher einen Lebens- und Kon­sum­kon­ser­va­tis­mus als einen poli­ti­sche Kon­ser­va­tis­mus. So kann sich nie­mand wun­dern, dass sich heu­te bis hin zu den „kon­ser­va­tiv Eta­blier­ten“ auch Wäh­ler der Grü­nen fin­den. Aller­dings – das lässt sich aus Wahl­reis­er­geb­nis­sen able­sen – fin­den sich in den Wohn­or­ten der Kon­ser­va­tiv-Eta­blier­ten ten­den­zi­ell mehr FDPler und CDU-Wäh­ler, wäh­rend SPD da kaum noch eine Bot­schaft los wird, Grü­ne schon eher.
    Der Begriff „bür­ger­li­che Mit­te“ ist eigent­lich ein wei­ßer Schim­mel. His­to­risch war der Bür­ger ja eben die gesell­schaft­li­che Mit­te – einer­seits nicht-ade­lig, ande­rer­seits nicht mit­tel­los-pro­le­ta­risch. Die Sinus-Milieus doku­men­tie­ren so gese­hen den Zer­fall des Bür­ger­tums in eine Viel­zahl von Milieus, die sozu­sa­gen jeweils ein­zel­ne Grund­wer­te des Bür­ger­tums reprä­sen­tie­ren. So ste­hen die Post-Mate­ria­lis­ten für den Bil­dungs­an­spruch der Bür­ger, der ande­rer­seits bei den Eta­blier­ten kaum noch hoch gehal­ten wird. Dort hat eher der Wert des Besitz­stre­bens sein Zen­trum. Ander­seits hat die Ver­brei­te­rung des Wohl­stands auch dazu geführt, dass sich das Bür­ger­tum sozu­sa­gen nach unten erwei­ter­te – mei­ne Schwie­ger­el­tern waren z.B. Nähe­rin in Leder­fa­brik bzw. Che­mie­fach­ar­bei­ter (ab dem 15. Lebens­jahr), eisern gespart, und leben heu­te als Ruhe­ständ­ler das Leben der Kon­ser­va­tiv-Eta­blier­ten inkl. Haus, Gar­ten, Mer­ce­des. Da sieht man auch, wie man im Lau­fe eines Lebens das Milieu wech­seln kann. Bei vie­len Men­schen ändern sich die Ein­stel­lun­gen im Lau­fe des Lebens – ab dem 80. Lebens­jahr über­wie­gen die Post-Mate­ria­lis­ten sowieso ;)

  4. Klei­ne Ergän­zung zu Fritz:
    Gab es da nicht auch mal den Begriff des Klein­bür­gers? Der ein klein wenig auf­ge­stie­ge­ne Fach­ar­bei­ter dürf­te doch eher die­sem zuzu­ord­nen sein.
    Und zu Gregor:
    Ja, sozio-öko­no­mi­sche Fak­to­ren müs­sen auf jeden Fall mit berück­sich­tigt wer­den. Das ist aber bei vie­len Gut­ver­die­nern unter Grüns durch­aus der Fall … Und nicht jeder/jede Grü­ne ist Gut­ver­die­ner und/oder gehört zum Groß­bür­ger­tum bzw. zur Ober­schicht, eher eine Min­der­heit, wenn man auch das finan­zi­el­le Kapi­tal mit berück­sich­tigt (Erbe und Besitz und ich mei­ne hier nicht das klei­ne Ein­fa­mi­li­en­häus­chen, son­dern rele­van­ten Besitz).
    Und zu Till:
    Arti­kel hat mir sehr gut gefal­len. Die Welt ist komplex.

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