Zehn Sätze zum Hamburger Volksentscheid über die Schulreform

Ham­burg hat gewählt, und sich in allen Bezir­ken (pdf) gegen die Schul­re­form aus­ge­spro­chen; ins­ge­samt mit 58% „JA“ für den Volks­ent­scheid. Wobei: dass der Volks­ent­scheid die Schul­re­form kom­plett gekippt hat, ist natür­lich falsch – wie bei SpOn fest­ge­stellt wird, ging es nur um einen Teil der Schul­re­form, näm­lich um das län­ge­re gemein­sa­me Ler­nen. Mit Julia See­li­ger und Andrea Lind­l­ohr bin ich mir einig, dass das auch damit zu tun hat, dass die län­ge­re gemein­sa­me Schul­zeit „von oben“ ein­ge­führt wer­den soll­te. Inso­fern hof­fe ich, dass es in Nord­rhein-West­fa­len oder viel­leicht dem­nächst in Baden-Würt­tem­berg anders verläuft.

Unab­hän­gig davon sind drei Punk­te am Aus­gang des Volks­ent­scheids bemerkenswert. 

Ers­tens: die Wahl­be­tei­li­gung war stark abhän­gig vom sozia­len Sta­tus; gera­de bei die­sem The­ma natür­lich fatal. 

Zwei­tens: Volks­ent­schei­de schei­nen mir ein gutes Ver­hin­de­rungs­in­stru­ment zu sein, aber kein gutes Instru­ment, um gesell­schaft­lich etwas vor­an­zu­brin­gen – also die Fra­ge danach, wo die Gren­zen direk­ter Demo­kra­tie liegen. 

Und drit­tens: Was bedeu­tet so eine 60–40-Entscheidung (mal unab­hän­gig von der Wahl­be­tei­li­gung, wenn die mit hin­ein gerech­net wird, war’s viel­leicht eher eine 50–50-Entscheidung …) eigent­lich poli­tisch? Ich kenn das ja von Par­tei­ta­gen (und zwar bei­de Sei­ten); auch da kom­men in der Par­tei umstrit­te­ne Posi­tio­nen ger­ne mal in 60–40-Entscheidungen (oder noch knap­per) durch, was aber letzt­lich immer auch bedeu­tet, dass knapp die Hälf­te der Abstim­men­den bzw. Wäh­le­rIn­nen die letzt­lich zum Zuge kom­men­de Poli­tik falsch fin­det und in die­ser Ableh­nung über­gan­gen wird. Anders gesagt: ist das Mehr­heits­prin­zip in einer stark frag­men­tier­ten Gesell­schaft eigent­lich noch zeitgemäß?

7 Antworten auf „Zehn Sätze zum Hamburger Volksentscheid über die Schulreform“

  1. @Ronald: Habe ich zwar auch schon gehört, stimmt aber nicht, bzw. ist kom­pli­zier­ter. Laut der ver­link­ten Über­sicht über die Bezirks­er­geb­nis­se gab es in Alto­na in der Urnen­ab­stim­mung eine kla­re Mehr­heit für den Bür­ger­schafts­ent­wurf, in der Brief­ab­stim­mung Mehr­hei­ten sowohl für die Volks­in­itia­ti­ve (52,4%) wie für den Bür­ger­schafts­ent­wurf (50,7%) und im End­ef­fekt eine Mehr­heit für die Volks­in­itia­ti­ve (51,6:48,4), – aber auch eine Mehr­heit für den Bür­ger­schafts­ent­wurf (51,3:48,7).

    Du hast inso­fern recht, als nach den hier ver­öf­fent­lich­ten Regeln letzt­lich die grö­ße­re Zahl an abso­lu­ten Ja-Stim­men aus­schlag­ge­bend gewe­sen wäre. Hät­te nur Alto­na abge­stimmt, wäre der Bür­ger­schafts­ent­wurf dort mit einem Vor­sprung von 179 Stim­men (ein Pro­mil­le der Stimm­be­rech­tig­ten!) und mit einem Rück­stand von 0,3 % auf den Volks­in­itia­tiv­ent­wurf sieg­reich gewe­sen. Trotz­dem hat sich auch in Alto­na eine (sehr knap­pe) Mehr­heit der Abstim­men­den für den Volks­in­itia­tiv­ent­wurf aus­ge­spro­chen – letzt­lich also ein extrem gutes Bei­spiel für mei­ne drit­te Schlußfolgerung.

  2. Und wenn man dann berück­sich­tigt, dass der Wes­ten Alto­nas WWL-Kern­ge­biet ist, dann heißt das für die Stadt­tei­le Otten­sen, Alto­na-Nord etc, dass es wahr­schein­lich eine Mehr­heit in die­sen hete­ro­ge­nen Stadt­tei­len für neue Schul­for­men gibt.

    Wahr­schein­lich gilt eine ähn­li­che Faust­re­gel wie bei ost­deut­schen Neo­na­zis: Je homo­ge­ner die Gegend umso aus­ge­präg­ter die Angst vor „den anderen“…

  3. Nur weil sich die Ham­bur­ger gegen den Vor­schlag von Schwarz/Grün waren, kann man als Grü­ner direk­te Demo­kra­tie nicht ableh­nen oder auch nur einschränken. 

    Wich­ti­ger ist der Hin­weis, „dass die län­ge­re gemein­sa­me Schul­zeit »von oben« ein­ge­führt wer­den soll­te.“ Hier ist eini­ges falsch gelau­fen. Dazu gehö­ren auch die erhöh­ten Kita-Gebühren.

    Ist gemein­sa­mes ler­nen, die bes­se­re Alter­na­ti­ve? Es soll sie ja in Ham­burg schon gege­ben haben, oder ist Grund­schu­le bis zur 6. Klas­se ein­fach nur bil­lig. Dann wären die Pro­tes­te zwin­gend. Einer­seits bei den Klei­nen höhe­re Gebüh­ren und bei den Grö­ße­ren spa­ren. Das kann es nicht sein.

    Die 6. Klas­se braucht zudem ande­re Schu­len – mit mehr Klas­sen­räu­men und ande­re Leh­rer (Grund­schul­leh­rer bis in die 6. Klas­se? oder Stu­di­en­rä­te abkom­man­die­ren, die dann die Gemein­schafts­schü­ler unter­rich­ten?) Dar­auf konn­ten kei­ne befrie­di­gen­den Ant­wor­ten gege­ben werden.

    Dafür hat die Sprin­ger-Pres­se mobil gemacht. Bild und Welt bil­den die Mei­nung. Es ist ein­fach cool reak­tio­när zu sein. Die ein­zi­ge Schu­le, die dem deut­schen Wesen gerecht wird, ist die Schu­le der Feu­er­zan­gen­bow­le. Das habe ich per­sön­lich im Deutsch-Unter­richt erlebt. Es soll­ten nach der „Ganz­heits­me­tho­de“ Wör­ter aus Sil­ben gebil­det wer­den. Der Vor­teil die­ser Metho­de ist, dass damit vom ers­ten Unter­richts­tag an, auch Gram­ma­tik gelehrt wur­de. Der Nach­teil war die immer wie­der­hol­te Fra­ge mei­nes Groß­va­ters, wann wir das „i“ durch­neh­men. Das hat mich mehr belas­tet, als ich mir ein­ge­ste­hen wollte.

    Auch ande­re Lehr­in­hal­te sto­ßen auf Unver­ständ­nis, wenn die Eltern und Erzie­hungs­be­rech­tig­ten nicht ein­ge­weiht wer­den. Die­se Unge­wiss­heit war bei dem Ham­bur­ger Bür­ger­ent­scheid entscheidend.

  4. @Till, dei­ne drit­te Schluss­fol­ge­rung ist ein grund­le­gen­des Pro­blem der Demo­kra­tie. So wur­de Mat­thi­as Platz­eck am 15. Novem­ber 2005 mit 512 Ja-Stim­men zum Vor­sit­zen­den gewählt, was 99,4 % der Stim­men waren. Weil man ihn für beson­ders fähig hielt? Nein, son­dern weil alle Angst hat­ten, er kön­ne durch­fal­len. Man­gels ande­rer Kan­di­da­ten soll­te er durch­kom­men. Umge­kehrt kann eine Kampf­ab­stim­mung, wo einer der bei­den Kan­di­da­ten zwei Stim­men mehr bekommt rich­tung­wei­send sein.

    60–40-Entscheidungen kön­nen im Sin­ne eines Tie-Break, die Poli­tik vor­an brin­gen. Trotz­dem ver­schwin­det die unter­le­gen Sei­te nicht ein­fach. Hier leh­ne ich die Kom­mu­nis­ti­sche Lösung ab, bei der die Min­der­heit aus­ra­diert wer­den soll. Eine per­fek­te Lösung sehe ich aller­dings nicht. Kon­sens­de­mo­kra­tie muss erst gelernt werden.

  5. Volks­ent­schei­de sind nicht nur ein gutes Ver­hin­de­rungs­in­stru­ment, son­dern auch bar jeg­li­cher Vernunft.

    Ob in Bay­ern die Nicht­rau­cher dar­über abstim­men, dass in Gast­stät­ten nicht geraucht wer­den darf (obwohl das sowie­so in 65% der Knei­pen und 95% der Restau­rants der Fall war) oder das Bür­ger­tum mit Stan­des­dün­kel und laten­ter Frem­den­feind­lich­keit sozia­le Unter­schie­de zemen­tiert (und sich selbst um den Wohl­stands­ge­winn von mor­gen bringt), Vol­kes Stim­me hat sich bei­de Male als extrem däm­lich erwiesen.

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