Merkel angeschlagen, Wulff gewählt, alle zufrieden

Colorful toy

Jetzt ist’s also doch einer aus der Rie­ge der amts­mü­den Uni­ons-Minis­ter­prä­si­den­ten gewor­den. Wenn auch erst im drit­ten Wahlgang. 

Das heißt zunächst ein­mal: die Stra­te­gie von Bünd­nis 90/Die Grü­nen und SPD ist auf­ge­gan­gen: mit einem kon­ser­va­ti­ven Kan­di­da­ten, der über­zeu­gen­der daher­kommt als der nun gewähl­te Bun­des­prä­si­dent konn­ten eini­ge Wahl­leu­te aus den Rei­hen der Uni­on und der FDP dazu gebracht wer­den, sich zumin­dest im ers­ten und zwei­ten Wahl­gang doch nicht wie Auf­zieh­mäus­chen zu ver­hal­ten. Damit ist klar, dass Mer­kel an poli­ti­schem Gewicht ver­lo­ren hat. Ein Indiz dafür wird sein, dass der aus Spitz­na­me „Mut­ti“ in Zukunft noch viel häu­fi­ger zu hören sein wird. (Was aus gen­der­theo­re­ti­scher Sicht dahin­ter­steckt, dass eine Bun­des­kanz­le­rin so bezeich­net wird, wäre noch ein­mal einen eige­nen Bei­trag wert).

Ob das übri­gens tat­säch­li­che mit ein Erfolg der Ver­wen­dung des Net­zes für das Wer­ben um Gauck war – oder doch eher einer des „Hoch­schrei­bens“ durch die klas­si­sche Pres­se, sei dahin­ge­stellt.

Die Stra­te­gie ist aber noch in einer Hin­sicht auf­ge­gan­gen: die LINKE hat sich – zumin­dest aus der Per­spek­ti­ve des poli­ti­schen Estab­lish­ments, zu dem ich SPD und Grü­ne jetzt ein­fach mal dazu­zu­zäh­le – selbst ent­blößt. Denn eine Par­tei, die sich so stur stellt, und letzt­lich sehen­den Auges mit Hil­fe von Ent­hal­tun­gen den CDU-Kan­di­da­ten mit­wählt, kann ja doch nicht ernst genom­men wer­den. Unter­schwel­lig steckt da auch noch ein Dis­kurs über die DDR, die SED, die Block­par­tei­en, die Sta­si und die Fra­ge, wie sehr DIE LINKE auf der­ar­ti­ge Tra­di­tio­nen redu­ziert wer­den kann, mit drin­ne. Natür­lich war es ein Affront, dass SPD und Grü­ne ohne jede Abspra­che mit der LINKEN einen eher kon­ser­va­ti­ven Kan­di­da­ten auf­ge­stellt haben – jeden­falls inso­fern, als die Erwar­tung kon­stru­iert wur­de, dass die LINKE ja wohl gefäl­ligst mit­wäh­len sol­le, was auf den Tisch gesetzt wird.

Und obwohl die­se Stra­te­gie auf­ge­gan­gen ist, kann auch die Uni­on und die LINKE zufrie­den sein. Das mag jetzt erst­mal para­dox klin­gen, aber letzt­lich hat Mer­kel ihren Wunsch­kan­di­da­ten durch­ge­setzt – zwar erst im drit­ten Wahl­gang, aber sowas ist schnell ver­ges­sen. Oder wer war noch ein­mal der ande­re Prä­si­dent mit dem drit­ten Wahl­gang? Wulff ist jetzt weg vom Kanz­ler­fens­ter (gut für Mer­kel), und hat die Chan­ce, sich stan­dard­kon­form zum Volks­prä­si­den­ten mit Yel­low-Press-Aura zu ent­wi­ckeln (gut für Wulff). Damit ist das Amt des Prä­si­den­ten viel­leicht da ange­kom­men, wo es wirk­lich nur noch um den „Grüß­au­gust“ geht. Letzt­lich zählt hier das Kohl’sche „was hin­ten rauskommt“.

Und die LINKE? Ich kann mir vor­stel­len, dass sie aus ihrer Per­spek­ti­ve eben­falls zufrie­den ist. Sie hat sich nicht vor­füh­ren las­sen, indem sie klar gemacht hat, dass sie sich nicht auf poli­ti­sche Schach­zü­ge ein­lässt. Sie steht für einen kon­se­quen­ten Fun­da­men­ta­lis­mus ohne Rück­sicht auf die damit ver­bun­de­nen poli­ti­schen Fol­gen. Und das scheint mir momen­tan ihre Markt­lü­cke zu sein. Ich glau­be, das lin­ke Signal war in etwa „wir wis­sen, dass das Amt des Bun­des­prä­si­den­ten nicht wich­tig ist. Wir spie­len nur soweit mit, wie es uns passt – mit einer eige­nen Kan­di­da­tin, die für die wah­re par­tei­po­li­ti­sche Linie steht – und mit einem Nicht­ein­las­sen auf Kom­pro­mis­se, Regie­rungs­fä­hig­keit etc.“ Ich fin­de eine sol­che gesin­nungs­ethi­sche Hal­tung gru­se­lig und unpo­li­tisch – aber ich bin ziem­lich über­zeugt davon, dass in der Anhän­ger­schaft der LINKEN genau sowas ankommt.

(Neben­bei: auch das Schei­tern der Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen in NRW lässt sich genau so deu­ten – der LINKEN ist es nicht wich­tig, ver­ant­wort­lich zu han­deln, son­dern es geht dar­um, nicht vom rech­ten Pfad abzu­kom­men – um kei­nen Preis, selbst wenn dafür der Spott dar­über ertra­gen wer­den muss, Wulff ermög­licht zu haben.*)

Viel­leicht ist es hilf­reich, sich das bei den nächs­ten Debat­ten mit der LINKEN vor Augen zu hal­ten – viel­leicht auch im Vor­feld der Kraft-Kan­di­da­tur in NRW. Ich glau­be zwar nicht – auch wenn ich rum­ge­spot­tet habe – dass die LINKE heim­lich einen CDU-Kan­di­da­ten oder eine CDU-Kan­di­da­tin mit­wählt. Aber das Argu­ment der poli­ti­schen Ver­ant­wor­tung wird in der Min­der­hei­ten­re­gie­rung nicht zie­hen – nur wenn die Sache selbst ganz rich­tig ist, wer­den lin­ke Stim­men mög­lich, den­ke ich. Auch wenn das ein „kon­se­quent in den Unter­gang“ bedeu­ten mag.

(Und noch so ein Neben­bei: was auch stimmt, ist die Tat­sa­che, dass es wohl vor­her kaum zu Gesprä­chen gekom­men ist, zwi­schen den Par­tei­en – dass dann hin­ter­her im Ver­lauf der Ver­samm­lung kurz vor dem drit­ten Wahl­gang wie­der ein­zu­ho­len und halt zu hof­fen, lässt auf ein selt­sa­mes Bild der jeweils ande­ren Par­tei schlie­ßen. Denn auch die unter­liegt ja den­sel­ben Pro­zes­sen der Schlie­ßung von Opti­ons­räu­men und der Schwie­rig­keit, von einer ein­mal vor­ge­ge­be­nen Rich­tung – ger­ne unter dem Eti­kett der Geschlos­sen­heit ein­pro­gram­miert – abzuweichen.)

Alle zufrie­den?** Nein, ich bin es nicht, und ich glau­be, dass ich damit nicht allein bin. Denn ein biß­chen etwas von Thea­ter hat­te der gan­ze Monat Juni schon. Vom Volks­freu­den­tau­mel um Gauck bei auf­rech­ten Grü­nen und Sozi­al­de­mo­kra­tIn­nen bis hin zur Insze­nie­rung des Nicht-Mit­ein­an­der-Redens: all das trägt nicht dazu bei, Poli­tik ver­nünf­ti­ger zu machen. Jörg Rupp hat ein biß­chen was dazu geschrie­ben, wie schi­zo­phren Poli­tik sein kann, wenn mit fes­tem Blick auf das Par­tei­ro­bo­ter­tum auf der eige­nen Sei­te der ande­ren Sei­te genau die­ses vor­ge­wor­fen wird. Da geht’s weder um Gesin­nungs- noch um Ver­ant­wor­tungs­ethik, son­dern dar­um, den Spin der dis­kur­si­ven Lage zu ver­än­dern. Über­haupt wur­de sel­ten deut­li­cher als bei die­ser pom­pös gestal­te­ten Wahl, wie sehr es in der Poli­tik dar­auf ankommt, Gele­gen­heits­struk­tu­ren zu kon­stru­ie­ren und Opti­ons­räu­me zu ver­klei­nern. Wahr­schein­lich ist das schon eher Go als Schach.

Unzu­frie­den bin ich auch, weil ich glau­be, dass es letzt­lich sehr viel wich­ti­ge­re Din­ge als die Wahl eines Bun­des­prä­si­den­ten gibt. Viel­leicht wäre es (auch wenn das jetzt ein biß­chen nach der LINKEN klingt) bes­ser gewe­sen, wenn SPD, GRÜNE und LINKE den Wahl­akt boy­kot­tiert hät­ten. Auch dann hät­te Mer­kel ihren Kan­di­da­ten durch­set­zen kön­nen – aller­dings um den Preis, dass das inhä­rent unde­mo­kra­ti­sche an Par­tei­en und die selt­sa­me Kon­struk­ti­on des Amtes sehr viel deut­li­cher sicht­bar gewor­den wären.

War­um blog­ge ich das? Als noch rela­tiv unsor­tier­tes Nach­den­ken dar­über, was da eigent­lich heu­te und in den Wochen davor pas­siert ist.

* Ja, mir ist bewusst, dass auch mit den Stim­men der LINKEN eine Mehr­heit für Gauck im drit­ten Wahl­gang nicht drin­ne gewe­sen wäre, und dass der ers­te und zwei­te Wahl­gang ohne lin­ke Kan­di­da­tin hin­sicht­lich der CDU/C­SU/FDP-Gauck-Stim­men anders aus­ge­fal­len wäre – trotz­dem bestand die Mög­lich­keit, dass zwei oder drei mehr CDU­le­rIn­nen auch im drit­ten Wahl­gang für Gauck gestimmt hät­ten – und dann wäre ein ande­res Abstim­mungs­ver­hal­ten der LINKEN als „Ent­hal­tung“ über­aus rele­vant gewe­sen. Die Ent­hal­tung hat hier tat­säch­lich deut­lich gemacht, dass das Ergeb­nis der Wahl der LINKEN „egal“ war.

** Eine inter­es­san­te Fra­ge ist natür­lich, ob die FDP sich durch das Ergeb­nis in irgend­ei­ner Wei­se glück­li­cher fühlt – Wes­ter­wel­le gerier­te sich als treu­er Par­tei­sol­dat der Uni­on, ob das so gut zu einer im Sturz­flug befind­li­chen angeb­lich libe­ra­len Par­tei passt, sei dahin­ge­stellt.

22 Antworten auf „Merkel angeschlagen, Wulff gewählt, alle zufrieden“

  1. trotz­dem bestand die Mög­lich­keit, dass zwei oder drei mehr CDU­le­rIn­nen auch im drit­ten Wahl­gang für Gauck gestimmt hätten

    Wenn man das kal­ku­liert, muss man fai­rer­wei­se min­des­tens mit der glei­chen Zahl Beton­köp­fe bei der Lin­ken rech­nen. D.h. selbst bei einer Frei­ga­be des Stimm­ver­hal­tens gab es kei­ne rea­lis­ti­sche Option. 

    Die Ent­hal­tung hat hier tat­säch­lich deut­lich gemacht, dass das Ergeb­nis der Wahl der LINKEN »egal« war.

    Das ist mir als Schluss­fol­ge­rung zu bequem. Die Stra­te­gie eines unwähl­ba­ren, weil kon­ser­va­ti­ven Kan­di­da­ten kau­fe ich ja noch. Gleich­zei­tig kamen mit genau die­ser aber Aspek­te in Spiel, die eine Ableh­nung Gaucks nicht allein auf Basis alter DDR-Rech­nun­gen mög­lich mach­ten: Gaucks Posi­tio­nie­rung zum Afgha­ni­stan-Krieg und in sozia­len Fra­gen mach­ten ein Veto ein­fach und argu­men­tier­bar – ohne gru­se­lig und unethisch zu sein. 

    Unethisch wäre eine Unter­wer­fung gewe­sen. Letzt­end­lich hat es die SPD der Lin­ken ein­mal mehr ein­fach gemacht. Die Ver­lie­rer sind Gauck und das Amt des Bundespräsidenten.

  2. @John Doe: wie gesagt, es kommt auf den Maß­stab an, an dem gemes­sen wird, ob ein Han­deln ethisch oder nicht. Und da sehe ich unter­schied­li­che Maß­stä­be im Spiel.

  3. Und jetzt erklä­re bit­te noch­mal war­um die Lin­ke den Kon­ser­va­ti­ven Pfar­rer Gauck hät­te wäh­len sollen.

    DAS zu for­dern ist näm­lich letzt­end­lich unpo­li­ti­sches: Wenn ein BuPrä ohne anse­hen der Per­son und rein aus Macht­kal­kül gegen alle Par­tei­wer­te gewählt wer­den soll. 

    Und genau das wer­fe ich Rot und beson­ders Grün auch vor: das ein kon­ser­va­ti­ver, wer­t­ent­fern­ter VDL und Schäub­le schät­zen­der Kan­di­dat auf­ge­stellt wurde.

  4. kann john doe und Seb nur zustim­men @Till… und freue mich das HIER zu lesen. hat­te die sel­ben gedan­ken beim lesen dei­ner zeilen. 

    nur weil es nicht oppor­tun war – medi­en, spd und grü­nen kon­stru­kier­ten eine nicht­exis­ten­te lin­ke oppo­si­ti­on – bei die­sem spiel nicht mit­zu­ma­chen, mit vor­her­seh­ba­ren fol­gen, ist das gan­ze doch nicht unpo­li­tisch. das gegen­teil ist der fall, denn anspruch der lin­ken war und ist es poli­tik wie­der anders zu ver­ste­hen, als die wech­seln­de ver­ga­be von kuschel­stüh­len in par­la­ment und minis­te­ri­en… das nicht zu ver­ste­hen, sich wie eine abge­ho­be­nen poli­ti­sche kas­te zu gene­rie­ren, dar­an krankt es doch bei grü­nen und spd eigent­lich im wesentlichen…
    grüße
    gregor

  5. Gre­gor hat es sehr gut auf den Punkt gebracht, sehe ich genau­so. Dass die Ableh­nung Gaucks durch die Lin­ke in ers­ter Linie wegen deren unauf­ge­ar­bei­te­tem Ver­hält­nis zur DDR moti­viert war/ist, wur­de in den meis­ten Medi­en im Vor­feld der Wahl gebets­müh­len­ar­tig wie­der­holt. Ein­leuch­ten­der erscheint mir aber immer noch die offi­zi­el­le Argu­men­ta­ti­ons­li­nie der Linken.

  6. Die Fra­ge, war­um die LINKE Gauck nicht gewählt hat, kann ich ja teil­wei­se nach­voll­zie­hen. Inter­es­san­ter – und da gibt es eben kei­ne Ant­wort drauf, auch nicht in der offi­zi­el­len Par­tei­li­nie – ist doch, war­um die LINKE es bil­li­gend in Kauf genom­men hat, dass Wulff gewählt wird – obwohl sie in der Lage gewe­sen wäre, die Wahr­schein­lich­keit die­ser Wahl ent­schei­dend zu beeinflussen.

  7. @till
    weil es – neben der tat­sa­che, dass grü­ne und spd die lin­ken nur ver­ar­schen wol­len und ihren eigent­li­che part­ner hier in der FDP sahen – im KERN wurscht ist…
    1. das amt hat kei­ne wirk­li­che poli­ti­sche rele­vanz, ein poli­tik­wech­sel ist von die­sem pos­ten aus nicht zu erwarten…
    2. die regie­rung mer­kel ist in jedem fall in einer kri­se und bewegt sich sicher auf ihre ende zu…
    3. gauck die lin­ke – wört­lich – für reak­tio­när und über­flüs­sig hält… was in inhalt­lich kaum bes­ser als wulff macht… wenn man weiß wel­che den­ke hin­ter sol­chen aus­sa­gen wohl grund­sätz­lich ste­cken mag…
    ne?!
    grüße
    gregor

  8. ich hof­fe es gibt bei den grü­nen selbst­kri­ti­sche­re stim­men als die­se. denn in wahr­heit hat ja die nicht abge­spro­che­ne auf­stel­lung die­ses kon­ser­va­ti­ven kan­di­da­ten einen erfolg gegen schwarz-gelb unmög­lich gemacht. gegen­über dem harm­lo­sen wulff hät­te ich gauck sogar in man­cher hin­sicht für gefähr­li­cher gehal­ten, gera­de beim umgang mit der deut­schen ver­gan­gen­heit (http://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2010/juli/yes-we-gauck).

    dass jetzt – alles ande­re als unter­schwel­lig – von „sed-beton­köp­fen“ oder ver­pass­ter chan­ce zur glaub­wür­di­gen auf­ar­bei­tung der ver­gan­gen­heit gere­det wird, ist übri­gens mehr als ver­lo­ge­nes par­tei­kal­kül. anders­rum hät­ten doch die glei­chen kom­men­ta­to­ren doch von „rei­ner tak­tik“, „ver­schleie­rung“ usw. gesprochen.

    übri­gens: wenn es grü­nen und spd wirk­lich auf eine erfolgs­chan­ce ange­kom­men wäre, hät­ten sie jeman­den wie ger­hart baum auf­ge­stellt, der stim­men von FDP und Links­par­tei hät­te zie­hen kön­nen. als DDR-bür­ger­recht­ler hät­te sich fried­rich schor­lem­mer ange­bo­ten. gauck war von sei­nen posi­tio­nen her ein­fach nicht wähl­bar – und das ist (ver­nünf­ti­ger wei­se) unab­hän­gig davon zu beur­tei­len, wie man den gegen­kan­di­da­ten findet.

  9. @Gregor: 1 und 2 sind glau­be ich genau die unter­schied­li­chen Ein­schät­zun­gen, die ich oben im Bei­trag ange­spro­chen habe. 3 ist inter­es­sant, weil das letzt­lich eben nicht die Afgha­ni­stan- und Agen­da-2010-Argu­men­ta­ti­on ist, son­dern die inof­fi­zi­el­le Par­tei­li­nie, also die Fra­ge Gauck vs. DDR (um es mal ganz ver­kürzt zu sagen).

    @filtor: Fin­dest du mei­nen Text oben so wenig unkri­tisch? Viel­leicht bin ich bei ein paar Punk­ten zu sub­til gewe­sen – wor­auf es mir ankommt, ist ja, dass ich sowohl nach­voll­zie­hen kann, wie­so SPD/Grüne die­se Stra­te­gie gefah­ren haben (und du hast Recht: es hät­te Per­so­nen gege­ben, die für ein „Zie­hen“ sowohl bei der FDP wie auch bei der LINKEN sehr viel bes­ser geeig­net gewe­sen wären – bei Twit­ter hat­te ich dies­be­züg­lich Klaus Töp­fer genannt), als dass ich eben auch sehe, wie­so die LINKE sich so ver­hal­ten hat, wie sie sich ver­hal­ten hat. Mit dem Blick auf bei­des zusam­men wird dann aber auch klar, dass die Her­an­ge­hens­wei­se an die­se Wahl eine völ­lig ande­re war – und es eben weder SPD und Grü­nen auf eine Chan­ce ankam, sie wirk­lich zu gewin­nen (son­dern dar­auf, Mer­kel in die Enge zu trei­ben und die LINKE „aus­zu­zie­hen“), dass aber gleich­zei­tig die LINKE auf­grund eines anders fun­dier­ten Poli­tik­ver­ständ­nis­ses nicht in der Lage war, über ihren Schat­ten zu sprin­gen (also die Bot­schaft „wir wäh­len Gauck nicht, egal, wie die Karot­te aus­sieht“ ihr wich­ti­ger war als die Bot­schaft „wir haben ver­stan­den, dass wir hier eine exem­pla­ri­sche Krö­te schlu­cken müs­sen, um zu demons­trie­ren, dass wir ‚regie­rungs­fä­hig‘ wären – weil das Amt uns ja eh egal ist, kön­nen wir das machen und wer­den dann von SPD und Grü­nen in den Arm genom­men“ (wenn die­se Bot­schaft den über­haupt aus­ge­hend von der inhä­ren­ten Logik der LINKEN denk­bar gewe­sen wäre)).

  10. @till: ich fin­de es ehr­lich gesagt etwas erschre­ckend, dass sich bei grü­nen (und sozi­al­de­mo­kra­ten) so wenig pro­test gegen den kon­ser­va­ti­ven kan­di­da­ten gauck geregt hat – ent­we­der haben da viel ganz abge­klärt im sin­ne der par­tei­tak­tik (mer­kel und links­par­tei gleich­zei­tig in die defen­si­ve brin­gen) ordent­lich „krö­ten geschluckt“, oder die sind inhalt­lich wirk­lich nicht mehr unter­scheid­bar von CDU/FDP.

    zur not­wen­di­gen selbst­kri­tik wür­de für mich auch skep­sis gegen­über dem gefähr­li­chen anti-par­tei­en-dis­kurs – gauck sei nicht par­tei­lich gebun­den und damit wahr­haft neu­tral, ste­he über den strei­ten­den grup­pen – gehören.

    und „regie­rungs­fä­hi­gig­keit“ ist eine media­le bla­se, fast so übel wie die leit­vo­ka­bel des tech­no­kra­ti­schen poli­ti­ver­ständ­nis­ses, die „kom­pe­tenz“. wenn die links­par­tei sich auf sol­che spiel­chen ein­las­sen wür­de, wäre sie bestimmt eher in einer (bundes-)regierung, wür­de aber glaub­wür­dig­keit und letzt­lich ein­fluss ver­lie­ren. noch eine SPD braucht niemand.

  11. @filtor: Hmm, ganz unrecht hast du damit wahr­schein­lich nicht. 

    So als Kon­trast­fo­lie ganz lesens­wert fin­de ich die Bewer­tung der Par­tei­en durch Micha­el Spreng – also aus eher kon­ser­va­ti­ver Per­spek­ti­ve und ganz klar im poli­ti­schen Sys­tem ver­an­kert. In sei­ner Bewer­tung der LINKEN fehlt genau der Aspekt, den ich oben stark gemacht habe: dass es aus einer „gesin­nungs­ethi­schen“ Logik her­aus durch­aus nach­voll­zieh­bar ist, wie die LINKE sich ver­hal­ten hat – im Poli­tik­be­trieb kommt das aber, so jeden­falls bei Spreng, und ich den­ke, dass er da den Main­stream sehr genau wie­der­gibt – nur als Cha­os und als Poli­tik­un­fä­hig­keit* an. 

    * Oder eben als Regie­rungs­un­fä­hig­keit – natür­lich ist das ein Unwort. Letzt­lich geht es dar­um, dass – so die der­zei­ti­ge Leit­ideo­lo­gie – eine Par­tei in der Lage sein muss, Kom­pro­mis­se gegen ihre eigent­li­chen Posi­ti­on schlie­ßen kön­nen zu müs­sen, um (vom Poli­tik­jour­na­lis­mus und von ande­ren Par­tei­en) ernst genom­men zu werden.

  12. »wir haben ver­stan­den, dass wir hier eine exem­pla­ri­sche Krö­te schlu­cken müs­sen, um zu demons­trie­ren, dass wir ›regie­rungs­fä­hig‹ wären – weil das Amt uns ja eh egal ist, kön­nen wir das machen und wer­den dann von SPD und Grü­nen in den Arm genommen«

    in die­sem zusam­men­hang sei es mir erlaubt luc jochim­sen zu zitie­ren. sie hat sinn­ge­mäß wohl gesagt „wenn wir gauck wäh­len wür­den, das wäre wohl zuviel nut­te in der politik“

    mei­ne wort­wahl ist das sicher nicht… aber was sie meint ist klar… das geht so nicht!

  13. @Gregor: Macht kor­rum­piert immer, es kommt nur drauf an, wie sehr mensch sich dar­auf ein­lässt. Ganz ohne sich die Fin­ger schmut­zig zu machen und von der rei­nen Leh­re abzu­wei­chen, scheint mir Poli­tik inner­halb des poli­ti­schen Arran­ge­ments, das wir haben, nicht mög­lich zu sein. Selbst wenn es eine abso­lu­te Mehr­hei­ten z.B. für Bünd­nis 90/Die Grü­nen (oder die LINKE) gäbe, wäre da immer noch ein trä­ger büro­kra­ti­scher Appa­rat, der Föde­ra­lis­mus, inter­ne Flügelkämpfe, … 

    Die Fra­ge ist also letzt­lich die, ab wann es „zuviel“ ist – bzw. wie wenig „Nut­te“ (ob das der pas­sen­de Begriff ist, sei mal dahin­ge­stellt) mög­lich ist, wenn eine Par­tei Inter­es­se dar­an hat, ernst­haft am inner­par­la­men­ta­ri­schen poli­ti­schen Mei­nungs­bil­dungs­pro­zess mitzuwirken.

  14. die lin­ke will ernst­haft mit­wir­ken, aber nicht so! solan­ge das die grü­nen und die spd nicht ves­te­hen, sehe ich kei­ne mög­lich­keit der über­n­ha­me gem. regierungsverantwortung. 

    die­se fra­gen soll­te beim ism übri­gens ganz oben ange­sie­delt wer­den. „wie wol­len wir eigent­lich poli­tik machen“, „wie kann man über­haupt poli­tik für die mehr­heit der men­schen machen, aus einem sys­tem her­aus, dass einem das rele­van­te blick­feld so einengt“…

    auch möch­te ich auf fol­gen­des inter­view verweisen:
    http://www.heute.de/ZDFheute/inhalt/21/0,3672,8086165,00.html
    ROT GRÜN WOLLTE DIE STIMMEN DER LINKEN NICHT…
    die wahr­heit bricht sich lang­sam bahn… immer­hin tut sie es noch…

    Gedan­ken zu Papier gebracht

    Die Bun­des­tags­frak­ti­on der LINKEN hat im 1. und 2. Wahl­gang der Bun­des­ver­samm­lung ihre eige­ne Kan­di­da­ten Luc Jochim­sen untertsützt und sich im letz­ten Wahl­gang ent­hal­ten. DIE LIN­KEn haben sich die­se Ent­schei­dung sicher nicht ein­fach gemacht. Vor und wäh­rend der Wahl gin­gen in vie­len Büros der LINKEN zahl­rei­che Anru­fe ein – Posi­ti­ve wie nega­ti­ve. Sie hiel­ten sich am Ende wohl in der Waage.

    Das Abstim­mungs­ver­hal­ten der LINKEN scheint in jedem Fall erklä­rungs­be­dürf­tig. Offen­sicht­lich hat eine von den Leit­me­di­en, SPD und Grü­nen erfun­de­ne Exis­tenz einer „lin­ken Oppo­si­ti­on“ bei den Men­schen verfangen.

    Fakt ist, die­se „lin­ke Oppo­si­ti­on“ hat es nie gege­ben. Eine „lin­ke Oppo­si­ti­on“ wür­de gemein­sa­me Inhal­ten vor­aus­set­zen. Das wären ins­be­son­de­re gewe­sen eine grund­sätz­li­che Abkehr von der Logik der Hartz-IV-Armuts­ge­set­ze und der Abzug der Trup­pen aus Afgha­ni­stan. Die­se – für DIE LINKE ele­men­ta­ren – Inhal­te wer­den und wur­den von SPD und Grü­nen nie geteilt. Das Gegen­teil war und ist der Fall: Joa­chim Gauck sel­ber hat die­se wich­ti­gen For­de­run­gen der LINKEN in einem Tref­fen mit der Frak­ti­on der LINKEN grund­weg abgelehnt.

    Die „lin­ke Oppo­si­ti­on“ ist zu jedem Zeit­punkt ein macht­po­li­ti­sches Kon­strukt von SPD und Grü­nen gewe­sen ohne jede tat­säch­li­che Grund­la­ge. Das zeigt auch, dass der eigent­li­che Bünd­nis­part­ner von SPD und Grü­nen in die­sem gan­zen Vor­gang immer nur die FDP war. Wer einen sozia­len Politkkwech­sel will, kann ihn mit der LINKEN haben. Die Vor­aus­set­zung dafür ist das gemein­sa­me Reden über Inhal­te und Kon­zep­te und nicht ein kurz­fris­tig ange­leg­tes Stör­ma­nö­ver gegen­über der Regie­rung, die ohne­hin über eine dau­er­haf­te Kri­se auf ihr Ende zusteuert.

    DIE LINKE ist ange­tre­ten um wie­der einen ande­ren Stil die die Poli­tik zu tra­gen. Ein Stil der Inhal­te in den Mit­tel­punkt stellt. Was dort in der Bun­des­ver­samm­lung statt­ge­fun­den hat, war eine par­tei­po­li­ti­scher Schlag­ab­tausch der­je­ni­gen, die das Land in den letz­te Jah­ren dahin gebracht haben wo es jetzt ist – in einer schwe­ren sozia­len, gesell­schaft­li­chen und öko­no­mi­schen Kri­se. Dar­an konn­te und woll­te DIE LINKE sich nicht betei­li­gen. In den nächs­ten Tagen wird man sicher wei­ter ver­su­chen müs­sen den Men­schen – gegen den bis­he­ri­gen Medi­en­trend – das nahe­zu­brin­gen und zu vermitteln.

  15. Aus mei­ner Sicht las­sen sich hier etli­che Lin­ke-Anhän­ger instru­men­ta­li­sie­ren, indem sie wort­reich deren Abstim­mungs­ver­hal­ten mit ratio­na­len Argu­men­ten unter­füt­tern. In Wahr­heit geht’s doch bloß um eins, die Eitel­keit Lafon­tai­nes, der die SPD auf Knien ange­kro­chen sehen will.

  16. In Ergän­zung zu Kom­men­tar 1:

    Mit zwei oder drei (mehr) Abweichler*innen sei­tens der CDU/CSU/FDP wäre es auch im drit­ten Wahl­gang nicht getan gewe­sen. Selbst wenn – was ich für unrea­lis­tisch hal­te – die Vertreter*innen der Lin­ken geschlos­sen für Gauck gestimmt hät­ten, wären min­des­tens vier benö­tigt worden-

    Wie der Arti­kel auf den Nach­denk­sei­ten schön zeigt, hät­te aller­höchs­tens im ers­ten Wahl­gang das Husa­ren­stück einer Wahl Gaucks mit den Stim­men der Lin­ken gelin­gen kön­nen, was aber auf­grund der gege­be­nen Situa­ti­on aller­dings mei­ner Mei­nung nach in keins­ter Wei­se rea­lis­tisch war.

    Dar­um: Scha­de, ich hät­te von dir einen reflek­tier­te­ren Arti­kel erwar­tet. Schon die Tat­sa­che, dass hier mit die Legen­de einer (nicht nur theo­re­tisch) mög­li­chen Wahl Gaucks durch die Stim­men der Lin­ken wei­ter­ge­führt wird, wirft kein beson­ders gutes Licht auf den Beitrag.
    Ledig­lich dei­ner Schluss­fol­ge­rung, dass es viel­leicht mal eine gute Idee gewe­sen wäre, die Wahl zu boy­kot­tie­ren, kann ich etwas abge­win­nen – aber auch dafür wäre ein koor­di­nier­tes Vor­ge­hen der drei Par­tei­en SPD/Grüne/Die Lin­ke zumin­dest sinn­voll gewe­sen, was aber inten­si­ve Gesprä­che der zwei erst­ge­nann­ten Par­tei­en mit der drit­ten Par­tei erfor­dert hätte.

  17. @till: spreng ver­steht offen­bar die spiel­re­geln nicht oder zumin­dest sehr ein­sei­tig. sei­ne beno­tung wäre höchs­tens dann in ord­nung, wenn ers­tens spd und grü­ne einen kan­di­da­ten nomi­niert hät­ten, der sich aus sicht der lin­ken inhalt­lich und/oder als per­son posi­tiv von wulff abge­ho­ben hät­te und wenn die stim­men der links­par­tei zwei­tens im drit­ten wahl­gang poten­ti­ell ent­schei­dend gewe­sen wären. bei­des war nicht der fall.

    gera­de die abso­lu­te mehr­heit für wulff am ende macht eigent­lich jede kri­tik an der tak­tik der links­par­tei in der bun­des­ver­samm­lung irra­tio­nal. aber bei spreng und co ist halt der wunsch vater des gedanken…

    1. Ich sehe halt ers­tens immer noch, dass die Stim­men der LINKE in allen Wahl­gän­gen poten­zi­ell ent­schei­dend gewe­sen wären (jeden­falls die Wahr­schein­lich­keit dafür nicht ver­nach­läs­sig­bar klein war), und dass zwei­tens es ja auch noch ein ganz ande­res Spiel gab: kein Spiel um die Wahl des Bun­des­prä­si­den­ten, son­dern ein Spiel um poten­zi­el­le Bünd­nis­se und Koali­tio­nen – die LINKE wirk­te nicht so, als woll­te sie in die­sem Spiel mit­spie­len (und auf die­ses Spiel bezieht sich m.E. auch Spreng sehr stark). Letzt­lich stimmt aber natür­lich gera­de hier, was J.N. unter­streicht: gera­de wenn die Bun­des­prä­si­den­ten­wahl auch als Spiel um poten­zi­el­le Koali­tio­nen und Koope­ra­tio­nen gese­hen wird, wäre es sehr sinn­voll gewe­sen, sich von SPD und Grü­nen anders der LINKE gegen­über zu verhalten.

  18. 1. ja es stimmt: die lin­ken wol­len die­ses spiel – auf basis des eli­tä­ren politk­ver­ständ­ni­s­es der herr­schen­den poli­ti­schen kas­te – nicht mitmachen…
    2. ja till, wenn man von sei­ten der spd und der grü­nen ein ande­res ergeb­nis gewollt hät­te, aus­ser des vor­füh­rens der lin­ken, hät­te man mit den lin­ken „koali­tio­när“ reden müs­sen und sich dazu auch öffent­lich bekenn­nen… politik-mal-anders! 

    inter­es­sant ist es wie der gan­ze medi­en­po­panz von vor der wahl jetzt zusam­men­bricht und mehr und mehr jour­na­lis­ten kri­tisch schrei­ben und in diver­sen inter­views der gan­ze vor­gang neu und kri­tisch betrach­tet wird…
    man staunt über die deut­sche medienlandschaft…

    zb hier
    http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/2810424_Franz-Walter-zur-Wulff-Wahl-Schlimm-dass-die-Gruenen-mitspielen.html

    und ehr­lich: ich hielt das gan­ze zunächst für ein media­les desas­ter für die lin­ken, sehe aber nun, dass kon­se­quenz such aus­zahlt. nicht aus­zu­den­ken was ich mir für vor­wür­fe gemacht hät­te, wäre gauck tat­säch­lich wegen uns bp gewor­den und hät­te dann mal wie­der irgend­nen scheiß ver­zapft… kras­ser scheiß das gan­ze – ganz krass!

    grü­ße
    gregor

  19. Hier ein gelun­ge­ner Aus­zug aus dem hübsch-pole­mi­schen Arti­kel „Köp­fe wie Gauck“, in der aktu­el­len jungle world (http://jungle-world.com/artikel/2010/27/41262.html):

    „Am Tag dar­auf – bei Mayb­ritt Ill­ner – frag­te Edmund Stoi­ber, den die Heu­che­lei sicht­lich anwi­der­te, wie­so denn nicht wahr­ge­nom­men wer­de, dass Joa­chim Gauck »kon­ser­va­ti­ver ist als Wulff«, des­halb hät­ten eini­ge ihn und nicht Wulff gewählt. Da war es raus. Die 44 Ver­wei­ge­rer sind erz­re­ak­tio­nä­re Uni­ons­po­li­ti­ker, sol­che, die man, wenn sie in Frank­reich, Öster­reich, der Schweiz, den Nie­der­lan­den, Bel­gi­en und Ungarn vor­kom­men, »Rechts­populisten« nennt. Sie bekla­gen sich schon lan­ge über die »sozi­al­de­mo­kra­ti­sche« Kanz­le­rin. Nun hat­te die rot-grü­ne Alli­anz ihnen ein Ange­bot gemacht, und sie grif­fen zu. Ihre Stim­men für Gauck soll­ten das Ende der Ära Mer­kel ein­läu­ten und signa­li­sier­ten zugleich den Auf­bruch der Rechts­populisten, die in ihrer Eupho­rie sofort eine Rück­hol­ak­ti­on ihres Front­manns Roland Koch forderten.

    Die Süd­deut­sche Zei­tung frag­te, war­um SPD und Grü­ne aus­ge­rech­net den »fun­da­men­ta­len Anti­sozialisten« vor­ge­schickt haben, der mit der »Stan­dardthese« hau­sie­ren geht, dass der Kom­mu­nis­mus »mit aus­drück­li­chem Bezug auf die DDR als eben­so tota­li­tär ein­ge­stuft wer­den muss wie der Natio­nal­so­zia­lis­mus«, der Kom­mu­nis­ten anlas­tet, das »Unrecht« der Ver­trei­bung »zemen­tiert« zu haben, »als sie die Oder-Nei­ße-Gren­ze als neue deutsch-pol­ni­sche Staats­gren­ze aner­kann­ten«, und dem bei Wil­ly Brandts Ent­span­nungs­po­li­tik »im Rück­blick« der Ver­lust grö­ßer vor­kommt als der Gewinn. Gauck mag es nicht, »wenn das Gesche­hen des deut­schen Juden­mor­des in eine Ein­zig­ar­tig­keit über­höht wird«. Wer – außer Deutsch­land – woll­te das Leben aller Juden auf der Erde bis zum letz­ten Kind ver­nich­ten, um das »Wel­ten­blut« zu rei­ni­gen, und wer – außer Deutsch­land – hat­te die Maschi­ne­rie dazu in Betrieb gesetzt?

    Nazis hin­ge­gen kann er ganz gut ver­ste­hen: »Frü­her haben Aus­län­der­mi­lieus Unbe­ha­gen in mir aus­ge­löst«, ande­ren sei es wohl wie ihm ergan­gen, »weil sie Angst vor Frem­den hat­ten«. Wie sie mag auch er kei­ne Stadt­vier­tel mit »all­zu vie­len Zuge­wan­der­ten und all­zu weni­gen Alt­deut­schen«, und Emi­gran­ten sagt er ins Gesicht: »Wenn ihr wollt, dass eure Kin­der mit­spie­len, dann sorgt dafür, dass sie Deutsch spre­chen!« Asa­mo­ah spricht deutsch wie ein Han­no­ve­ra­ner, doch als er im Cott­bus­ser Sta­di­on mit­spiel­te, wur­de er bei einem Ein­wurf von allen, die in der Nähe waren, ange­spuckt. Gauck will kei­ne »Für­sor­ge­ge­sell­schaft«, son­dern eine Bür­ger­ge­sell­schaft, in der die Opfer »ihre Lebens­be­din­gun­gen selbst ver­bes­sern« und sich »erlö­sen« aus der »Unkul­tur« der »Angst, Resi­gna­ti­on und Tris­tesse«, aber ohne »Abschaf­fung des Kapi­ta­lis­mus«, die nur eine »Flucht aus der Ver­ant­wor­tung« wäre.

    Die­se Rede hät­te man dem Par­tei-Appa­rat­schik Wulff drei­mal um die Ohren geschla­gen. Ob er die Bezie­hun­gen zu Isra­el und Polen kaputt machen wol­le, ob die DDR wohl in Polen hät­te ein­mar­schie­ren sol­len? So darf nur jemand spre­chen, der frei ist vom Ver­dacht, die Par­tei­en­de­mo­kra­tie zu ver­tre­ten. Als Gauck die Rede been­det hat­te, stan­den die Gäs­te (Moni­ka Maron, Kurt Bie­den­kopf und tau­send ande­re) im Deut­schen Thea­ter auf, weil sie – wie bei Walsers Rede über die »Moral­keu­le Ausch­witz« – dach­ten, sie sei­en Zeu­gen eines erha­be­nen Augen­blicks. Sta­si hin, Sta­si her – Lin­ke konn­ten die­sen Mann nicht wählen.

    Die Prä­si­den­ten­wahl offen­bar­te die Ver­kom­men­heit von SPD und Grü­nen. Mit etwas Phan­ta­sie könn­te man die Nomi­nie­rung von Gauck als Test­lauf für eine neue rechts­po­pu­lis­ti­sche Par­tei in Deutsch­land inter­pre­tie­ren. In jedem Fall als Weck­ruf. Wer es wis­sen woll­te, weiß jetzt: Die deut­sche Par­tei­en­de­mo­kra­tie ist am rech­ten Rand fra­gil, und das wabern­de rech­te Spek­trum ist groß. Gauck habe jene ange­spro­chen, die aus Abnei­gung gegen den »par­tei­po­li­ti­schen Betrieb« sich sonst »popu­lis­ti­schen Bewe­gun­gen« (FAZ) zuwen­den. Die Kanz­le­rin soll nun durch eine Regie­rungs­um­bil­dung Platz für Roland Koch schaf­fen. Im Hin­ter­grund schwingt bedroh­lich die Mög­lich­keit einer neu­en rech­ten Par­tei. Koch als Kanz­ler oder als Füh­rer die­ser Par­tei – mit Gauck, Stoi­ber und Fried­rich Merz im Prä­si­di­um? Mer­kel und Wes­ter­wel­le ste­hen jeden­falls »vor einem hal­ben Jahr, in dem es um ihr Ver­blei­ben in den Ämtern geht«. (FAZ)

    War­um setz­ten SPD und Grü­ne also auf den Mann, der über­all vor dem Leib­haf­ti­gen im lin­ken Kos­tüm warnt und mit Tin­ten­fäs­sern nur so um sich wirft – uner­schro­cken, und wenn die Welt voll Teu­fel wäre? Ein paar Grün­de zur Aus­wahl. Der ers­te: Sie sind so rechts. Der zwei­te: Man woll­te Mer­kel eins aus­wi­schen. In einer mit sich eins gewor­de­nen Welt kommt dem tak­ti­schen Win­kel­zug mehr Bedeu­tung zu als dem Ver­stand. Drit­tens: pure Dumm­heit. Cem Özd­emir sieht eine »Kon­ti­nui­tät der Frei­heit vom Ham­ba­cher Fest über die Pauls­kir­che zu Gauck«. Ent­we­der weiß er nicht, dass die Teil­neh­mer die­ser Fes­te durch natio­na­le Bor­niert­heit und Fran­zo­sen­hass auf­fie­len, oder er fin­det bei­des super. Vier­tens: das Cha­ris­ma. Wie dem Kom­po­nis­ten einer gefäl­li­gen Musik gelingt es Gauck, die Ent­frem­dung der Reprä­sen­tan­ten und Reprä­sen­tier­ten auf­zu­he­ben, indem er sie ver­tieft – wie der Onkel, von dem Kin­der sich nicht anspre­chen las­sen sol­len, sich in das Gemüt des Opfers schleimt. Er ist nah, obwohl die Distanz grö­ßer nicht sein könn­te. Wer auf Gauck rein­fällt, fällt auch auf Hei­rats­schwind­ler rein. Wel­che Lab­sal, wenn Karl Lau­ter­bach (mit Flie­ge) dezi­diert vor­rech­net, was Ärz­te ver­die­nen, und Wulff erzählt, dass er als Kind Bus­fah­rer wer­den woll­te, »um Men­schen von A nach B zu trans­por­tie­ren«. Jetzt will er »in unse­rer bun­ten Repu­blik« ein »Brü­cken­bau­er« sein. Fern­se­hen aus, Licht aus, schlafen.“

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