Barack Obama macht weiter – die Transition ins Präsidentenamt wird auf change.gov begleitet. Sieht klasse aus, enthält weiterhin ziemliche viele Elemente des interaktiven Web 2.0 und spricht deutlich den Wunsch an, Politik transparent zu machen.
Screenshot von change.gov – mit Blog, Anmelde-Funktion (oben) und der Möglichkeit, „stories“ und Visionen einzusenden
change.gov ist seit zwei Tagen freigeschaltet und hat inzwischen auch den Weg in die Massenmedien gefunden, etwa in den Netzwelt-Ticker von Spiegel Online. Dort heißt es aber auch:
Für deutsche Wähler ist die Change.gov-Site vor allem ein Ort der Trauer. So professionell, gut und offen ist keine deutsche Partei- oder Politiker-Website. Schon im Wahlkampf machten die US-Demokraten vor, wie man moderne Medien und Medienkonsumenten zu bedienen und einzubeziehen hat. Ob so ein Web‑2.0‑Wahlkampf jedoch auch in Deutschland so ein großer Erfolgsfaktor wäre, stellt Netzpolitik.org jedoch zu Recht in Frage.
Wie ich bei Markus netzpolitik.org-Eintrag schon geschrieben habe, denke ich ebenfalls, dass ein Teil des Erfolgs auf den spezifischen Bedingungen des US-Wahlkampfs aufbaut, der traditionell ein anderes Verhältnis zu Medien hat, traditionell in einem viel größeren Maße auf Spenden und freiwillige Arbeit von AktivistInnen setzt, und der in einem auf einen Zweikampf zwischen zwei Personen zugespitzten System stattfindet. Barack Obamas Kampagne – und deren Fortsetzung mit change.gov und dem Anspruch [inzwischen 404, siehe unten – TW, 11.11.2008], eine „transparente, vernetzte Demokratie zu ermöglichen – geht über diese Vorbedingungen jedoch noch einmal deutlich hinaus und setzt damit neue Maßstäbe.
Insofern glaube ich, dass die Obama-Kampagne auch für den deutschen Netzwahlkampf eine große Bedeutung hat. Die politischen Rahmenbedingungen sind hier anders. Aber ich weiss, dass auch die deutschen Parteien schon heute sehr genau beobachten, wie der Wahlkampf in den USA stattgefunden hat. Und dabei sind, entsprechende Plattformen auszuprobieren und Elemente des Online-Aktivismus verstärkt voranzutreiben. Für die Bundestagswahl 2009 bin ich mir sicher, dass mehr oder weniger alle Parteien mindestens drei der vier im folgenden genannten Ansätze im Wahlkampf „fahren“ werden. Das meiste davon konnte in der einen oder anderen Form auch schon – bei einzelnen Parteien – im letzten Wahlkampf oder in Landtagswahlkämpfen beobachtet werden.
1. Interne Vernetzungsplattformen, um Mitglieder und Aktive enger als bisher in den Wahlkampf einzubinden.
2. Umfangreiche Wahlkampf-Webauftritte, die auch Web 2.0‑Elemente enthalten (seien es nun Twitter-Streams, Online-Abstimmungen, Blogs, Podcasts oder die Möglichkeit, für spezifische Kampagnen-Elemente zu spenden bzw. sich für bestimmte Aktivitäten freiwillig zu melden)
3. Der Versuch, auf virale Elemente zu setzen, also auf Videos, die sich „von selbst“ weiterverbreiten.
4. Wahlkampf an „öffentlichen Plätzen im Netz“ analog zum klassischen Straßenwahlkampf. Also eine aktive Bedienung von abgeordnetenwatch.de, aber auch das Hineingehen in existierende soziale Netzwerke wie Facebook oder Myspace und in große Diskussionsforen.
Was wir dagegen nicht sehen werden, ist vermutlich der Auftritt aus einem Guss – dazu sind die Parteien zu föderalisiert, ist selbst die Bundestagswahl über die Aufstellung von Landeslisten zu sehr ein Wahlkampf in den Ländern. Ebenfalls bin ich noch nicht überzeugt davon, dass der Cross-Media-Wahlkampf gelingen wird. Festzuhalten bleibt aber, dass das Netz in den Wahlkampfstrategien der Parteien für 2009 wohl an Bedeutung gewinnen wird. Und nicht mehr nur ein Ort der Nerds ist, sondern inzwischen auch breitere WählerInnen- und Bevölkerungsschichten erreicht.
Viel interessanter als die Wahlkampffrage ist damit die change.gov-Frage. Selbst bei Obama ist es ja bisher vor allem der hehre Vorsatz, Politik transparenter und offener zu machen. Wieviel davon gelingt, bleibt abzuwarten. Den Versuch zu wagen, ist allein schon ein großer Schritt in Richtung einer „E‑Demokratie 2.0“.
Bei genauerer Betrachtung sind die Informationsangebote des Bundestags und der Bundesregierung auch heute schon ganz beachtlich. Allerdings geht es dabei meist darum, Geschehenes zu berichten. Was fehlt, ist die deliberative und partizipative Einbindung – und im Sinne von Transparenz eben auch die frühzeitige Bekanntmachung und breite Kommentierbarkeit von Gesetzesentwürfen. Gerade kontroversere Gesetzentwürfe – wie das BKA-Gesetz – werden eben erst bei der Abstimmung öffentlich gemacht (und selbst die Oppositions-Abgeordneten bekommen das Gesetz erst unwesentlich früher). Hier wäre ein Ansatzpunkt für eine bessere Nutzung (in reddit wurde für die USA vorgeschlagen, alle neuen Gesetzentwürfe in einen RSS-Feed zu pushen – warum eigentlich nicht?).
Wer sind die relevanten Akteure, die auch nach der Wahl von den USA lernen könnten? Hier in Deutschland sicherlich zum einen die Bundesregierung und die Ministerien (bzw. ebenso die Landesregierungen) – und zum anderen die Parteien und Fraktionen. Leider ist Netzpolitik – oder besser gesagt, die Nutzung des Internets als Werkzeug zur Herstellung von mehr Demokratie – bisher kein wirklich profilierungsfähiges Thema.
Wie kann es eines werden? Ich sehe drei miteinander vernetzte Wege: durch eine/n charismatische/n KandidatIn aus einer Generation, die derartiges selbstverständlich macht; durch die Eigendynamik, die ein stark auf „grassroots“ (oder wie es neuerdings heißt: „netroots“) setzender Wahlkampf gewinnt; oder durch vorhandene Bürgerbewegungen, wie beispielsweise die Kampagne zur Vorratsdatenspeicherung, Attac o.ä., die auf transparente und offene Politik drängen.
Die erste Variante halte ich für Deutschland für 2009 für unwahrscheinlich. Das derzeitige Spitzenpersonal aller Parteien ist zwar durchaus netzaffin, aber verkörpert keineswegs einen selbstverständlichen Umgang mit den dadurch erreichbaren demokratischen Möglichkeiten. Das gilt für alle Parteien – auch Jürgen Trittin und Renate Künast sind zwar sympathische PolitikerInnen, die ich gerne unterstütze, aber keine, denen ich abnehmen würde, dass sie ab sofort ein großes Interesse an Netzaktivismus und Inputs aus der Bevölkerung entwickeln. Diesen Obama-Aspekt verkörpert auch bei den Grünen eher eine jüngere Generation.
Mehr Hoffnungen setze ich dagegen auf die Varianten zwei und drei. Sobald Parteien es tatsächlich schaffen, ein Stück weit den Verlust von Kontrolle zu risikieren und eine stabil-fragile Netzgemeinschaft von Freiwilligen und AktivistInnen zu etablieren, die sich selbst auch als eine solche Gemeinschaft, als imaginierte Ganzheit versteht, wird – und das können wir gerade in den USA beobachten – aus der Unterstützung des Wahlkampfs die offensive Forderung, auch in der Nachwahlpolitik eine Rolle zu spielen. Obama hat genau darauf reagiert. Wenn dieses Vorgehen über den 20. Januar hinaus beibehalten wird, werden auch die deutschen Parteien nicht umhin können, sich genau zu überlegen, welche Bindungen sie damit eingehen, Freiwillige und NetzwerkerInnen in den Wahlkampf zu bringen.
Warum blogge ich das? Weil ich change.gov beeindruckend finde.
P.S.: Gerade sehe ich noch ein sehr ausführliches Essay zu diesem Thema von Bernd Herrmann bei der Heinrich-Böll-Stiftung. Lesenswert!
Update: (11.11.2008) Bei CNET wird darauf hingewiesen, dass die detaillierte Programmatik inzwischen nicht mehr auf change.gov zu finden ist – warum auch immer. Dort ist auch eine Kopie der inzwischen verschwundenen und oben verlinkten Technologie-Agenda (pdf) gespeichert. (Mehr dazu bei BoingBoing).
Update 2: (26.11.2008) Die Technologiepolitik-Agenda ist (etwas knapper gefasst) wieder aufgetaucht, und ein bißchen Interaktivität etc. auch.
Die SPD hat ja versucht in diese Richtung etwas aufzubauen (meinespd.net), aber es ist ja mehr ein GenossenVZ geworden. So eine richtige Campain kann man damit wohl nicht fahren.
Aber sonst sieht es ja ziemlich dünn aus bei den Parteien.
Ich denke es ist tatsächlich das Problem, alle Gliederungen einer Partei da einzubinden. Wobei gerade hier ja das netroots-Prinzip toll greifen könnte.
@Robin: die FDP hat sowas ähnliches, und natürlich gibt es auch in anderen Parteien entsprechende Planungen.
Für mich die spannende Frage wäre, ob meinespd.net schon mal als Wahlkampftool eingesetzt wurde. Und wie die SPD mit Nichtmitgliedern umgeht, die im Wahlkampf aktiv mitmachen wollen.
Klar, die anderen Parteien müssen nachziehen. Und stimmt hast natürlich recht, die FDP ist da auch schon soweit.
Also meines Wissen hat meineSPD.net zwar den Wahlkampf in Bayern etwas flankiert, aber das war eher schwach. Da waren die Aktionen vom Landesverband besser. Daran merkt man auch wieder das große Problem: Das Konzept der Gliederungen lässt sich einfach nicht auf das Internet übertragen.
Wenn da etwas sinnvolles 2009 laufen soll, müsste etwa meineSPD.net voll auf Steinmeier zugeschnitten werden.
Zaghaft macht man das ja schon, aber ich bin da skeptisch.