Was für eine Woche, oder eigentlich: was für ein Tag! Am Morgen des 6. November 2024 wird klar, dass Donald Trump nicht nur die Präsidentschaftswahl klar gewinnt, sondern auch durchregieren kann und eine Mehrheit der popular vote haben wird. Am Abend des selben Tages dann die Entlassung des Finanzministers und eine der wenigen in Erinnerung bleibenden Reden des Bundeskanzlers (warum erst da?).
Die Ampel schaltet nun tatsächlich in den Notbetrieb. Das war zwar immer mal wieder vermutet worden – dass es am Mittwochabend dazu kam, war trotzdem unerwartet. Christian Lindner hatte wohl einen etwas anderen Zeitplan im Kopf. Trotz Fehdehandschuh Wirtschaftspapier wirkte er überrascht, dass der Kanzler ihn tatsächlich vor die Tür setzte. Und ebenso überraschend folgten nur zwei der drei FDP-Minister*innen ihrem Parteichef.
Umgehend wurde nachbesetzt – für eine rot-grüne Minderheitsregierung mit unklarem Ablaufdatum. Das Gezerre über den Termin der Vertrauensfrage wirkt unwürdig und so, als seien alle Seiten nur auf ihren jeweiligen Vorteil bedacht. Am absurdesten die Union, die einerseits möglichst sofort wählen lassen möchte, aber andererseits noch weit hinten dran ist mit Listenparteitagen und Nominierungen. Mit Blick auf das Innenleben von Parteien und Wahlbehörden und mit den ja durchaus begründeten Fristen ist die von Olaf Scholz vorgeschlagene Wahl Ende März sinnvoll.
Wenn es jetzt einen etwas früheren Wahltermin gibt – aktuell realistische Variante‑, wäre das auch machbar. Vertrauensfrage Mitte Dezember, Auflösung des Bundestags direkt nach der Weihnachtspause, Wahl Anfang März oder Ende Februar. Das scheint mir das ohne Sonderschichten zu Weihnachten ein plausibler Zeitplan zu sein.
Aber eigentlich geht es in dem Gezerre um den Wahltermin nicht um Praktikabilität. Dahinter steht vielmehr die Frage, wie lange der Wahlkampf dauert, wer als ‚Macher‘ in die Wahl geht, und was noch umgesetzt werden kann. Friedrich Merz nimmt den Wahltermin als Mittel, um am Verhandlungstisch über Nachtragshaushalt, Schutz des Bundesverfassungsgerichts und Ukraine-Unterstützung gestärkt auftreten zu können. Und Olaf Scholz scheint entweder wirklich zu glauben, in der jetzt amtierenden Notbetriebs-Regierung noch etwas umsetzen zu können, oder er hat einen Termin möglichst weit im neuen Jahr genannt, um davon abrücken zu können, ohne etwas hergeben zu müssen. Vielleicht ging es schlicht um die Hamburg-Wahl und esoterische Kalkulationen, wie die eine sich auf die andere Wahl auswirken könnte.
Der Wahltermin ist das eine – die Frage, welche Vorhaben im Parlament noch Mehrheiten finden, dass andere. Hier bin ich pessimistisch, obwohl eigentlich allen Seiten einleuchten müsste, dass es klug wäre, die eine oder andere Vorkehrung zu treffen, bevor nach einer Neuwahl möglicherweise Sperrminoritöten verfassungsfeindlicher Kräfte gegeben sind. Gleichzeitig wird Merz sich alles teuer abkaufen lassen, was notwendigerweise gemacht werden muss. Die große Zahl fast fertiger Gesetzentwürfe wird dagegen weitgehend in der Diskontinuität versanden.
Theoretisch, und das ist verhandlungstaktisch vermutlich Merz‘ größtes Pfund, gibt es im Bundestag Stand jetzt eine Mehrheit aus Union, FDP und AfD. Merz könnte sich mit dieser Mehrheit mit einem konstruktiven Misstrauensvotum zum Kanzler wählen lassen. Und selbst wenn das noch jenseits der Brandmauer liegt – auch für einzelne Gesetze wäre diese Mehrheit da. Beim Blick auf das Verhalten der CDU in Thüringen (Windkraftverbote mit der AfD) oder im Europaparlament wäre ich mir nicht sicher, ob diese Mehrheit nicht doch im einen oder anderen Fall zum Zuge kommt. Sie haben da ein schönes Bürgergeld, ein Cannabisgesetz, ein Selbstbestimmungsgesetz. Wäre doch schade, wenn dem etwas passiert!
Untergesetzlich ist Rot-Grün weiter im Amt. Alles, was per Kabinettsbeschluss oder als Verordnung eines Ministeriums umgesetzt werden kann, kann noch gemacht werden. Ob diese Spielräume schon ausgelotet sind?
Insgesamt bleibt bei mir der Eindruck, dass zumindest die grüne Seite von diesem Zeitpunkt für das Ampel-Aus überrascht wurde. Wie weit vorgearbeitet wurde, weiß ich nicht – an Situationen wie dieser zeigt sich jedenfalls, dass es hilft, Kontingenzen im Blick zu behalten und auch pessimistischere Szenarien vorab durchzuspielen. Angeblich soll Scholz ja drei unterschiedliche Reden an diesem Mittwochabend dabei gehabt haben. Das war auf jeden Fall klug.
Sind wir Grüne auf Neuwahlen vorbereitet? Ja und nein, noch wurde Schrödingers Katzenkiste nicht geöffnet. Robert Habeck hat am Freitag in einem sehr gut gemachten Video vom Küchentisch seinen Hut in den Ring geworfen. Er platziert sich als nahbar, vernünftig, einer von uns – gegen den abgehobenen Privatflieger Merz, gegen den bieder-bürokratischen Bundeskanzler. Bei 12 Prozent jetzt mag das vermessen erscheinen, aber möglicherweise zieht es doch, dass Habeck als Kandidat „für die Menschen“ ein Angebot macht, dass neben Scholz und Merz dann doch erstaunlich attraktiv wirkt. Selbst wenn daraus am Ende keine Kanzlerschaft wird, kann das der Strohhalm sein, um nach den Neuwahlen – wann auch immer diese genau sind – mit einer starken grünen Fraktion in mögliche Koalitionsverhandlungen zu gehen.
Diese Kandidatur ist jedenfalls gut vorbereitet. Und lässt das etwas übermüdet und schwach wirkende Video am Bauzaun, pardon, am Zaun des Kanzleramtes vergessen.
So gesehen stehen die Chancen nicht schlecht, in dieser vorgezogenen Wahl zu reüssieren. Gleichzeitig haben wir Grüne aktuell nur einen kommissarischen Vorstand. Erst am nächsten Wochenende findet der Bundesparteitag (BDK) statt, der den neuen Vorstand wählt (und dessen Tagesordnung jetzt mehrfach umgeworfen wurde). Die Bundesgeschäftsstelle befindet sich mitten in einer Umstrukturierung. Und wie bei einem vorgezogenen Wahltermin ein Parteiprogramm zu Stande kommen soll – ein zeitintensiver partizipativer Prozess – ist mir Stand jetzt schleierhaft.
Trotzdem überwiegt bei mir der Optimismus. Immerhin besteht die Chance, als relevanter Akteur in diesem Wahlkampf aufzutreten. Dass es wohl – wie bei den anderen Parteien – einen deutlichen Mitgliederzuwachs gibt, dass die Aufforderung, ins Team Robert zu kommen, über die Parteigrenze hinweg auf Zustimmung stößt, macht Mut für den Winterwahlkampf.
Ich hoffe, dass die Quantenfunktion des Bundesparteitags sich so manifestiert, dass dieser diese Chance stärkt. Zeit für eine lange Debatte über Fehler haben wir nicht. Und Habeck und der neu antretende Bundesvorstand brauchen jetzt Schwung und einen großen Vertrauensvorschuss. Ob die Partei dazu bereit ist, wird sich am Wochenende zeigen. Im besten Fall trägt die BDK den Neustart mit. Im schlechtesten Fall geraten wir in einen selbstverschuldeten Abwärtsstrudel. Insofern steht so oder so ein historischer Parteitag bevor – in einem Moment, der insgesamt in den Geschichtsbüchern vermerkt werden wird.