Es ist vollkommen klar, daß die Bewußtseins-Industrie in den bestehenden Gesellschaftsformen keines der Bedürfnisse, von denen sie lebt und die sie deshalb anfachen muß, befriedigen kann, es sei denn in illusionären Spielformen. Es kommt aber nicht darauf an, ihre Versprechungen zu demolieren, sondern darauf, sie beim Wort zu nehmen und zu zeigen, daß sie nur kultur-revolutionär eingelöst werden können. Sozialisten […] die die Frustration der Massen verdoppeln, indem sie ihre Bedürfnisse zu falschen erklären, machen sich zu Komplizen eines Systems, das zu bekämpfen sie angetreten sind.
Hans-Magnus Enzensberger hat 1970 seinen „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ veröffentlicht. Eigentlich ist dieser Baukasten ein Text über die elektronischen Medien, der Brechts Radiotheorie samt ihres utopischen Gehalts aufnimmt und aktualisiert. Und es ist ein erstaunlich klarsichtiger Text über die Ambivalenz der Medien, die Utopie der Entfesslung ihrer emanzipatorischen Möglichkeiten und die Gefahr, auf der Suche nach Reinheit als linke Bewegung eine Position einzunehmen, die elektronische Medien verdammt – eine Position, die Enzensberger zurecht sowohl als sektiererisch als auch als unproduktiv bezeichnet.
Die elektronischen Medien räumen mit jeder Reinheit auf, sie sind prinzipiell „schmutzig“. Das gehört zu ihrer Produktivkraft. Sie sind ihrer Struktur nach anti-sektiererisch […]
Über weite Strecken liest sich der Text – aus dem alle Zitate hier stammen – nicht so, als sei er 1970 entstanden (na gut, wenn der Begriff „sozialistisch“ durch ein zeitgemäßeres Adjektiv ersetzt wird), sondern wie ein Text aus der Hochzeit der utopischen Überhöhung des Internet. Computer tauchen bei Enzensberger auf, das Internet steht aber noch in der Zukunft.
Die elektronischen Medien haben das Informationsnetz nicht nur intensiv verdichtet, sondern auch extensiv ausgedehnt. Schon die Ätherkriege der fünfziger Jahre haben gezeigt, daß die nationale Souveränität im Kommunikationsbereich zum Absterben verurteilt ist. Die Weiterentwicklung der Satelliten wird ihr vollends den Garaus machen. Informations-Quarantänen, wie sie der Faschismus und der Stalinismus verhängt haben, sind heute nur noch um den Preis bewußter industrieller Regression möglich.
Enzensbergers Baukasten ist bei aller Utopie ein abwägender Text, der nicht daran glaubt, dass eine bestimmte Technik eine bestimmte mediale Verwendungsweise diktiert. Das wäre Technokratie, auch die Hoffnung in die Technik zu legen, und deren Politik auszuklammer. Enzensberger sieht Potenziale, und er zeigt, wie technologische Weiterentwicklungen, insbesondere die Dezentralisierung der elektronischen Medien, bestimmte Verwendungsweisen erleichtern – die es dann politisch durchzusetzen gilt. Beispiel Telefon:
Der Gegensatz zwischen Produzenten und Konsumenten ist den elektronischen Medien nicht inhärent; er muß vielmehr durch ökonomische und administrative Vorkehrungen künstlich behauptet werden. […] Während [der Telegraf] bis heute in der Hand einer bürokratischen Institution verblieben ist, die jeden gesendeten Text überprüft und archivieren kann, ist das Telefon jedem Benutzer direkt zugänglich; er erlaubt, mit Hilfe der Konferenzschaltung, sogar den kollektiven Zugriff räumlich entfernt diskutierender Gruppen.
Diese ambivalente Utopie der Medien aus den 1970er Jahren ist heute aber nicht nur als historisches Stück interessant, bei dem trefflich darüber diskutiert werden kann, was sich bewahrheitet hat, und was nicht, und jeweils natürlich auch, warum das so ist, sondern auch als Kontrastfolie zu einem Text eines gewissen Hans Magnus Enzensberger, der 2014 in der FAZ erschienen ist, und der den Titel „Wehrt euch!“ trägt. Wer – etwa aufgrund des Baukastens – dort eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Kommunikationsmedien in den Händen der Masse erwartet, liegt allerdings falsch.
Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozess möglich, dessen praktische Mittel sich in der Hand der Massen selbst befinden. Ein solcher Gebrauch brächte die Kommunikationsmedien, die diesen Namen bisher zu Unrecht tragen, zu sich selbst. In ihrer heutigen Gestalt dienen Apparate wie das Fernsehen oder der Film nämlich nicht der Kommunikation, sondern ihrer Verhinderung. Sie lassen keine Wechselwirkung zwischen Sender und Empfänger zu: technisch gesprochen, reduzieren sie den feedback auf das systemtheoretisch mögliche Minimum.
Diese Sachverhalt läßt sich aber nicht technischen begründen. Im Gegenteil: die elektronische Technik kennt keinen prinzipiellen Gegensatz von Sender und Empfänger.
Nein, „Wehrt euch!“ ist keine sorgsame Ausarbeitung, und auch keine Anleitung zur gegenöffentlichen Nutzung elektronischer Medien. Nein, der Text ist – wenn ich das so sagen darf – ein ziemlich platter Boykottaufruf für alles, was nach 1970 erfunden worden ist. Ein Rundumschlag, der nichts gelten lässt, und erst recht nicht die Politik. Egal, ob Mobiltelefon („Wegwerfen!“), Online-Banking („Segen für Geheimdienste und Kriminelle“), Kredikarten („Überwachung!“), E‑Mail („Überwachung!“), Internet of Things („Überwachung!“), Online-Einkauf („sollte man meiden!“), Privatfernsehen und große Internetkonzerne („Werbeterror!“) oder Facebook („Krake!“) – alles ist böse, schlecht und gemein.
Tendenziell heben die neuen Medien alle Bildungsprivilegien, damit auch das kulturelle Monopol der bürgerlichen Intelligenz auf. Hier liegt einer der Gründe für das Ressentiment vermeintlicher Eliten gegen die Bewußtseins-Industrie.
Jetzt möchte ich gar nicht behaupten, dass „Wehrt euch!“ inhaltlich komplett falsch ist. Vieles von dem, was Enzensberger den Medien der digitalen Welt zuschreibt, stimmt. Bloß ignoriert er halt alles, was nicht schlecht ist. Denn es ist komplizierter, mit den digitalen Medien, ihrer Aneignung, ihren strukturellen Begrenzungen und ihrer ökonomischen und administrativen Kontrolle – , und das alles geht bei seiner Generalpolemik unter. Ich weiß nicht, ob es am Alter liegt, oder daran, dass viele der Hoffnungen, die z.B. im Baukasten angedacht wurden, sich nicht erfüllt haben – enttäuschte Liebe als Motiv? -, jedenfalls liest sich „Wehrt euch!“ wie eine Überreaktion, ein „Kehrt um!“, das radikal zum technischen Stand von … 1970? … zurückkehren möchte.
Tonbandgeräte, Bild- und Schmalfilmkameras befinden sich heute schon in weitem Umfang im Besitz der Lohnabhängigen. Es ist zu fragen, warum diese Produktionsmittel nicht massenhaft an den Arbeitsplätzen, in den Schulen, in den Amtsstuben der Bürokratie, überhaupt in allen gesellschaftlichen Konfliktsituationen auftauchen. […] Selbstverständlich wehrt sich die bürgerliche Gesellschaft gegen solche Aussichten mit einer Batterie von juristischen Vorkehrungen. Sie beruft sich auf Hausrecht, Geschäfts- und Amtsgeheimnis. Während ihre Geheimdienste in alle vier Wände eindringen und sich in die intimsten Gespräche einschalten, schützt diese Gesellschaft rührende Vertrauensverhältnisse vor und zeigt sich mimosenhaft um den Schutz von Privatsphäre besorgt, an denen weiter nichts privat ist als das Interesse der Ausbeuter.
Youtube gehört Google. Aber Youtube ist heute auch ein Kanal, auf dem Skandale aufgedeckt werden. Mobiltelefone lassen sich abhören und verführen dazu, ständig online zu sein. Aber Mobiltelefone sind ein „Produktionsmittel“ für Bild- und Tonproduktionen, dass jede/r jederzeit bei sich trägt. Facebook und Twitter sind datenhungrig und lassen – aber sie stellen zugleich die Plattform da, auf der Berichte, Gerüchte und Meinungen in Sekundenschnelle breite Massen erreichen, und so die Welt näher zusammenrücken lassen.
Kommunikationsnetze, die zu solchen Zwecken aufgebaut werden, können über ihre primäre Funktion hinaus politisch interessante Organisationsmodelle abgeben. […] Hinweise zur Überwindung dieses Zustandes könnten netzartige Kommunikationsmodelle liefern, die auf dem Prinzip der Wechselwirkung aufgebaut sind: eine Massenzeitung, die von ihren Lesern geschrieben und verteilt wird, ein Videonetz politisch arbeitender Gruppen usw.
Letztlich verstehe ich den radikalen Boykottaufruf nicht, erst recht nicht, wenn er in einem Text verpackt ist, der auf der Online-Seite einer bürgerlichen Zeitung erscheint, dort massiv kommentiert wird, und von Enzensberger vermutlich nicht auf Postkarten an die FAZ geschickt wurde. Überhaupt müsste das einmal jemand kontrollieren – also, dass Enzensberger kein Privatfernsehen schaut, verstehe ich ja gut, aber hat er wirklich kein Mobiltelefon, nutze keine E‑Mail, keine EC-Karte, kauft nie etwas online? (Ach ja: „Einzelne Adressen, die man gut kennt, können als Ausnahmen durchgehen.“) – Oder ist der Holzhammer nur rhetorisches Stilmittel in Zeiten, in denen Sarrazins für Intellektuelle gehalten werden?
Die elektronischen Medien verdanken ihre Unwiderstehlichkeit nicht irgendeinem abgefeimten Trick, sondern der elementaren Kraft tiefer gesellschaftlicher Bedürfnisse, die selbst in der heutigen depravierten Verfassung dieser Medien durchschlagen.
Apropos Sarrazin: Fast noch schlimmer als den unreflektierten Rundumschlag finde ich das Weltbild, das in „Wehrt euch!“ bei genauerem Lesen durchscheint. Denn böse sind nicht die Geräte, sondern die Mächte dahinter. Die, die „die sie uns anpreisen, um unermessliche Reichtümer anzuhäufen“ und die, die Menschen kontrollieren wollen. Industrien, Kriminelle, Regierungen. Banken, Sicherheitsbehörden, Finanzämter. Geld. Geld. Geld. „Ähnliches gilt für Politiker“. Finanzmärkte. Geheimdienste. Die großen Internetkonzerne. Amerikanische Großkonzerne. Geheimdienste. Krake. Passivität der Parteien. Oder, um die Liste, die sich durch den Text durchzieht, zusammenzufassen: die (kriminellen) Finanzmärkte und amerikanischen Großkonzerne, die Geheimdienste und die (korrupten) PolitikerInnen. Oder, noch kürzer: Die da oben haben sich gegen uns, den kleinen Mann, verschworen!
Die gespeicherte Information steht dem Zugriff aller offen, […] Es genügt, das Modell einer Privatbibliothek mit dem eines vergesellschaftlichten Speichergeräts zu vergleichen, um den strukturellen Unterschieder beider Systeme zu erkennen.
Das ist, in zwei Sätzen, die halbe Utopie des Internets. Schade, dass Enzensberger ganz woanders angekommen ist.
Warum blogge ich das? Die Kommunikationsnetzwerke, die 1970 erträumt wurden, sind heute da. Sie sind überwiegend im Besitz großer, amerikanischer Konzerne, und nicht die dezentralen Module sozialistischer Kollektive. Diese Firmen werden mit Daten bezahlt, und mit der Erlaubnis, uns mit Reklame zu bombardieren. Vieles von dem, was dort stattfindet, könnte leicht als falsches Bedürfnis dargestellt werden. Aber deswegen in einer Welt ohne weltumspannende Kommunikation leben wollen, in der noch nicht einmal E‑Mail-Kommunikationen erlaubt sind? Das wäre nicht meine.
Es geht nicht darum, „Fallstricke“ im digitalen Raum zu vermeiden und dann im vordigitalen Zeitalter zu landen. Nein, es muss – trotz, ja wegen NSA etc. – darum gehen, die ökonomischen und administrativen Strukturen des Netzes immer wieder zu politischen Themen zu machen. Und auch deswegen halte ich einen totalen Boykottaufruf für kindisch.
„Der Brunnen ist vergiftet. Hört auf Wasser zu trinken!“
„Sicher, Opa Enzensberger. Mach ich. Ganz bestimmt.“
Huch, netzpolitik.org verlinkt neuerdings im Stealth-Modus? So dass es den Perlentaucher braucht, damit mir der Grund für den erhöhten Traffic gestern klar wird?
Anyways, interessant an Markus‘ Artikel ist zum einen die Zusammenschau unterschiedlicher Beiträge zu Enzensberger – und zum anderen die Kommentardebatte, in der plausibel gemacht wird, dass „Wehrt euch“ auch eine ironische Provokation sein könnte, die nur so tut, als wäre sie platte Empörung. Was sagt Schrödingers Katze dazu?