Heute erreichte uns die Nachricht, dass der Kabarettist Dieter Hildebrandt gestorben ist. Ich will mich an dieser Stelle nicht an einem Nachruf versuchen, denn das können andere weitaus besser, sondern dieses traurige Ereignis zum Anlass nehmen, ein paar Gedanken zum allmählichen Verbleichen der (links-alternativen) Selbstverständlichkeiten der alten Bundesrepublik – also der BRD, West Germany – niederzuschreiben. Als Kind der 1970er Jahre gehöre ich zu der Generation, für die politisches Kabarett synonym mit der Münchener Lach- und Schießgesellschaft, mit Hildebrandt und mit dem Scheibenwischer ist. Hildebrandts Tod ist das Verschwinden einer weiteren Institution der Bonner Republik.
Vielleicht ist es die nostalgische Verklärung, aber nicht nur das Kinderprogramm (ich sag nur Rappelkiste) und die Wissenschaftssendungen (egal, ob Hobbythek oder Knoff-hoff-Show) waren selbstverständlich unglaublich viel besser als alles, was heute so läuft, sondern selbstverständlich auch das Fernsehkabarett. Es war bei klaren Frontlinien bissig, hatte immer recht, traf den Punkt und schreckte vor billigem Klamauk zurück. Statt dessen gab’s auch mal fein ziselierte, nachdenklichere Töne. Die Primärsozialisation zahlt sich aus: So, und nicht anders, muss politisches Kabarett sein.
(Entsprechend fällt es mir dann jedesmal sehr unangenehm auf, wenn Oliver Welke in der heute show ohne Linie peinlich populistisch ist, billige Scherze gemacht werden oder als einziges rhetorisches Mittel die maßlose Übertreibung eingesetzt wird. Das ist vielleicht lustig, aber nicht politisch.)
Andererseits: Hildebrandts Störsender-Projekt war ebenfalls nie etwas, mit dem ich mich anfreunden konnte. Ich meine, ja, das aufzuziehen, war mutig. Aber irgendwie wirkten die fein ziselierten, bei näherem Hinsehen manchmal doch recht groben Holzschnitte aus den 1980er Jahren im Medium Internet dann angestaubt.
Aber ich wollte ja keinen Nachruf schreiben. Und schon gar keinen nostalgischen Rückblick auf die Markenprodukte meiner Jugend a la Generation Golf. Sondern zwei Dinge festhalten, die ich bemerkenswert finde.
Erstens: Es wird erst nach und nach deutlich, was sich 1989/1990 schon andeutete: Die Regeln des politischen Spiels haben sich verändert. Das liegt nur zum Teil an der deutschen Einheit, am Aufflammen von Nationalismen und Rassismus. Die weltpolitische Lage, die informationstechnisch verstärkte Globalisierung nicht nur der Produkte, sondern auch der Themen, der 11. September und all seine Folgen – all das hat dazu geführt, dass wir uns, auch wenn formal alles gleich geblieben ist, heute in einem (ich fasse den Begriff einmal weit) anderen politischen System befinden als dies noch in den 1980er Jahren der Fall gewesen ist. Ereignisse wie der Aufstieg der Linkspartei, unlängst der Absturz der FDP, aber auch die Entsozialisierung der SPD haben allesamt dazu beigetragen. Was da kausal wie zusammenhängt, wäre ein Knäuel, das zu entwirren sicherlich lohnenswert wäre. Auch dazu wäre die politische Analyse scharfsinniger KabarettistInnen hilfreich, das nur nebenbei bemerkt.
Jedenfalls finden wir uns heute in einer Gesellschaft und einer Politik wieder, zu der Kriegseinsätze und Terrorbekämpfungsmaßnahmen dazugehören. Der Überwachungsstaat hat sich – halb zog sie ihn, halb sank er hin – im Zusammenspiel von NSA, BND, Facebook und Payback aufs Schönste entwickelt. Die Horrorgemälde der Anti-ISDN- und Anti-Volkszählungsbewegung der 1970er 1980er wirken dagegen wie Kindergartenbilder. Und doch stört es kaum jemand. Ein neues nationales Selbstbewusstsein geht mit rassistischen Ausschreitungen einher. Der im Rückblick so heimelig wirkende Sozialstaat der nivellierten Mittelschichtsgesellschaft wurde in die Zange genommen, mit unsicheren und flexiblen Arbeitsverhältnissen, Leiharbeit, Zeitarbeit, Werkverträgen und Hartz IV, geschwächten Gewerkschaften, aber weiterhin ohne Mindestlohn polarisiert sich die Gesellschaft in Arm und Reich, abgehängte KonsummaterialistInnen, für die sich niemand interessiert, auf der einen Seite, und eine Solidarität mit den oberen fünf Prozent zeigende Mittelschicht auf der anderen Seite. Ach ja: Austeritätspolitik heißt jetzt finanzielle Nachhaltigkeit.
Klar: Es haben sich auch ein paar andere Dinge verändert, durchaus auch zum Guten. Europa ist Realität. Es hat sich was bewegt im Bereich der Gleichstellung, auch das gesellschaftspolitische Klima scheint insgesamt liberaler geworden zu sein (vielleicht ist’s nur eine dünne Schicht, unter der weiterhin die 1950er Jahre lauern und nur auf ihre Chance zum Backlash warten). Umweltschutz ist Mainstream, und Öko wurde zur kaufkräftigen Nische. Auch da schlägt übrigens letztlich wiederum die Globalisierung zu – Klimaschutz in nationalen Grenzen klappt halt nicht so richtig, die internationalen Vertragswerke aber eben auch nicht.
Das alles (und noch viel mehr?) ist der Kontext, in dem Politik heute stattfindet. Grüne sprechen auch mal mit der Union, fühlen sich gerne bürgerlich-liberal. Die SPD hält die Tradition hoch, hoch genug, dass untendrunter viel Schröderismus in Personen und politischen Ideen Platz hat. Richtig radikale Positionen werden selten vertreten, selbst die Linkspartei tut das nur noch in einzelnen Bereichen. Die 80%-GroKo droht, aber gefühlt ist sie eigentlich schon fast eine Einheitsfront, themenbezogen gerne auch mal unter Einschluss meiner eigenen Partei.
Das alles, dieser Knoten der gegenwärtigen Verhältnisse, heißt aber auch, dass Kabarett mit klaren Frontlinien, Haltungen und Positionen heute entweder extrem minoritär wirken muss, dann fast schon unpolitisch, oder eben optisch doch zum Holzschnitt tendiert. Oder, weg von der Unterhaltung, hin zum bitteren Ernst: Die Schere zwischen scheinbar so einfachen Lösungen und komplexen Problemen geht immer weiter auseinander. It’s complicated, attraktive Visionen stoßen schnell auf harte Fakten, oder das, was dafür gehalten wird, und insgesamt lässt sich da schon einiges an Verständnis für eine Verdrossenheit mit dem abgeschlossen wirkenden Zirkel derer da oben aufbringen. Ändern wir das? Aber wie?
Zweitens: Gleichzeitig wird deutlich, dass das Kindheits- und Jugendbild der Mitt- und Enddreißiger (damit meine ich jetzt erstmal mich, vielleicht geht es anderen ähnlich …) bei näherem Hinsehen durchaus Flecken und Risse aufweist. Was da wie in Zuckerwatte verpackt wirkt, war vielleicht auch damals schon weder süß noch heimelig. Unsere einfachen Lösungen mobilisierten, und wir hatten immer recht (behalten) – oder war das doch damals schon ganz anders, nur dass das in den Imaginationen, Erzählungen und überlieferten Texten und Filmen eben nicht so recht deutlich wird? (Wer hat eigentlich in den 1980er gesiegt, dass die damalige Geschichte heute so geschrieben wird?)
Um den schlimmsten Verdacht aufzugreifen: Wie passt das, was im Wahlkampf als Pädophilie-Debatte hochgekocht wurde, zum Selbstbild der klar für das Gute wirkenden linken, ökologischen, pazifistischen, neuen sozialen Bewegungen der damaligen Zeit? Wie konnte es passieren, dass sich eine Zeit lang Vorstellungen von Sexualität als hegemonial durchsetzten – oder zumindest von anderen aus den Bewegungen geduldet, nicht öffentlich angegriffen wurden – , die aus heutiger Sicht völlig falsch, als Verharmlosung von sexuellem Missbrauch, erscheinen? (Strukturell ähnliches ließe sich vermutlich bezüglich der scheinbaren Notwendigkeit bewaffner Revolten fragen, oder auch zum linken Antisemitismus).
Ich befürchte, dass jenseits der akribischen Auswertung der V.i.S.d.P. einzelner Kreistagswahlprogramme noch eine ganze Menge zeitgeschichtliche Aufarbeitung notwendig ist. Und zwar gar nicht einmal in erster Linie in Bezug auf den öffentlichkeitswirksamen Einzelpunkt Pädophilie, auch nicht in der x‑ten Neuauflage der Analyse, welche K‑Gruppen und Fraktiönchen sich wann wo durchsetzten, sondern viel allgemeiner dazu, mit welchen Mechanismen im klar strukturierten politischen Kontext der alten Bundesrepublik welche Wahrheiten in den neuen sozialen Bewegungen – bis hin zur grünen Partei – konstruiert und festgeschrieben wurden, und wie sich daraus teilweise bis heute wirksame Denkmuster und Vorstellungskorridore ergeben haben.
Nicht als l’art pour l’art, sondern weil – wo Luhmann recht hat, hat er recht – wir unsere eigenen blinden Flecken nicht sehen können. Allmählich verschwinden die letzten Institutionen der Bonner Republik. Und allmählich zieht sich auch die grüne Gründungsgeneration zurück – Ströbeles Snowden-Stunt ist da schon eher als Werk des linksalternativen Elder Statesman, der sich so etwas erlauben kann, zu werten, denn als Gegenargument zu dieser allmählichen Übergabe der Partei.
Warum blogge ich das? Weil wir notgedrungen auch die blinden Flecken der SiegerInnen der Bewegungsgeschichte erben. Umso wichtiger scheint mir die Frage, ob und wie manches auch anders hätte verlaufen können – und wo im Angesicht der komplexen heutigen Herausforderungen eingefahrene Denkmuster und Lösungsansätze helfen, und wo nicht. Und dazu muss der selbstkritische Blick auf die eigene (Bewegungs/Partei-)Geschichte möglich werden, entsprechend muss der implizite Kanon grüner Werte kritisch geprüft werden. Das heißt nicht, alles zu verwerfen, und den totalen Neuanfang zu predigen. Aber es heißt, auch innerparteilich in Frage stellen zu dürfen, was heute als tradierte Selbstverständlichkeit erscheint.
P.S.: Das Label „Rant“ für diesen Text mit all seinen Ungerechtigkeiten, Unklarheiten und analytischen Lücken ist durchaus Absicht.
Danke für den Text, gefällt mir so gut dass ich den Flattr-Button mal wieder genutzt habe. Auch wenn der Anti-Volkszählungsprotest und sogar die ISDN- und Verkabelungs-Kritik frühe 80er und nicht 70er-Jahre Protest war, das ist für mich ein Fehler in deinem Text. Für dich als anderer Blick in die alte Bundesrepublik vielleicht interessant, anstatt der Fürsorglichen Belagerung, das stern-Buch „S(icherheit) O(rdnung) S(taatsgewalt) S.O.S. Freiheit“. Was da geschildert wird, 1979 glaube ich, mit Horst Herold vom BKA und seinem Traum von Campanellas „Sonnenstaat“, sind keine Kindergartenbilder sondern die logischen Vorläufer dessen, was heute nicht nur technisch möglich sondern geübte Praxis heimlicher Kriege ist. (Sehr bedenklich etwa, was die süddeutsche da über die Rolle von CSC in Wiesbaden offenlegt).
Eine andere linksalternative Lichtgestalt der alten Bonner Republik habe ich übrigens heute treffen, hören und kurz sprechen dürfen: Hans Magnus Enzensberger war in Tübingen zur 27.Tübinger Poetik Dozetur. (Anders als ich aber wie unser OB war meine Tochter noch mit Enzensberger und von Petersdorff beim Abendessen und konnte sich, da Enzensberger sich neben sie setzte, noch länger mit ihm unterhalten. Da beneide ich die 14jährige ja…) Aber auch an den Abend mit diesem Zeugen und Kommentator der Zeitgeschichte auch aber nicht nur nach 68 musste ich bei deinem Text auch denken.
Danke für Lob & Flattr (letzeres scheinen einige in letzter Zeit nicht mehr zu tun …).
Danke auch für den Hinweis auf die falschen 1970er – du hast natürlich recht (und ich frage mich, wie die Zahl in den Text gekommen ist – vermutlich konnte ich mich nicht zwischen 1987 und 1980er entscheiden und habe beides dann schwupps zu 1970er zusammengeworfen). Leider kommt WordPress mobil.mit mehr als 10.000 Zeichen nicht richtig klar, deswegen dauert’s noch etwas, bis ich den Fehler im Text beheben kann.
Mit Verlaub, für einen „Rant“ ist das ein fein durchdachter Text. Danke für die klärenden Gedanken.
> … dass wir uns, auch wenn formal alles gleich geblieben ist,
> heute in einem anderen politischen System befinden als dies
> noch in den 1980er Jahren der Fall gewesen ist.
Das ist ein wichtiger Punkt, den es zu akzeptieren gilt.
Ein bisschen Nostalgie darf in solchen Momenten natürlich erlaubt sein. An der alten Bundesrepublik an sich hänge ich allerdings nicht besonders. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wo wir in großen gesellschaftspolitischen Fragen in den Achtzigern standen, dann wünsche ich mir diese Zeit nicht wirklich zurück.
Möglicherweise sehe ich vieles weniger skeptisch als Du, weil ich nicht in einem spezifisch grünen oder alternativen Milieu aufgewachsen bin. Das bedingt eine andere Perspektive und erlaubt vielleicht, manches positiver zu sehen.
Gleichwohl war Hildebrandt auch bei mir nicht nur ein früher Grund, länger aufbleiben zu können. In der Rückschau begründet sich Hildebrandts unbestreitbare Bedeutung dabei auch darauf, manche Entwicklung früher als andere erkannt oder thematisiert zu haben. Ein Blick auf Sendungen und Texte, die bleiben, verdeutlicht das.
Der Scheibenwischer, der 1981 den Rhein-Main-Donau-Kanal zum Thema hatte, befasste sich schon da kritisch mit der Neigung zu zweifelhaften Großprojekten im Infrastrukturbereich. Von da aus und von der Startbahn West führt eine kontinuierliche Linie bis zu S21. Einstweiliger Erfolg: Ohne Plebiszit geht so etwas heute kaum noch und wie die Abstimmung zur Münchner Olympiabewerbung zeigt, reichen die gängigen Begründungen nicht mehr aus, um gesellschaftliche Mehrheiten für Großprojekte zu erhalten.
In der Tschernobylsendung von 1986 wollte der BR seinen Zuschauer_innen Aussagen vorenthalten, die heute allgemein anerkannt sind. In der Atomfrage haben wir seitdem doch einiges erreicht.
Die Verflachung des öffentlichen Diskurses in einigen Medien wiederum ist ja auch keine Entwicklung, die sich nicht schon früh abgezeichnet hat. Stellvertretend dafür mag der Scheibenwischer von Anfang 1990 stehen, wo in geradezu genialer Weise dargestellt wurde, dass die Wiedervereinigung zu einigem „Wahnsinn!“ (so wörtlich) führen wird, aber sicher kein Projekt ist, mit dem sich eine Gesellschaft weiterentwickeln ließe.
Und eines der besten und meistrezipierten Stücke Hildebrandts war schließlich „Der Mond ist aufgegangen“ in der fiktiven Kohl-Version. Er hat da eben erkannt, dass es nicht mehr als reiner Klamauk ist, sich über Kohl lustig zu machen, indem man einfach seine Aussprache zu imitieren versucht (ich mach das zwar auch immer noch gerne, aber natürlich führt das zu nicht viel). Denn die eigentliche Eigenart von Kohls Sprache war ja, das Fehlen einer Idee für die Gesellschaft hinter einem wunderbaren weißen Nebel schwülstiger Sprache zu verstecken. Die Herausforderung in dieser Zeit lautete, sich von dieser oberflächlichen Flachheit nicht anstecken zu lassen.
Ob das nun gelungen ist, dürfen wir allerdings schon bezweifeln, und so verstehe ich auch Deine Kritik an Welke und seinen Kollegen von der Abteilung Comedy. Die Heuteshow kommentiert Tagespolitik. In langen Linien zu denken, so dass man sich an einzelnen Sendungen in 30 Jahren noch erinnern wird, kann und will sie wohl auch nicht leisten.
Es könnte aber auch einfach sein, dass sich der Diskurs andere Medien suchen muss und sucht. Fernsehen hat ja durchaus einige Nachteile, unabhängig von Inhalt und Tiefgang der Sendungen. Die Bereitschaft, strategisch und in langen Linien zu denken, mag zum Beispiel im Fernsehen abgenommen haben, ein gesellschaftliches Bedürfnis lässt sich aber nach wie vor erkennen. Ein anderes Ereignis dieser Woche deutet vielleicht an, in welche Richtung sich das entwickeln kann. Denn wenn die wachsende Beliebtheit des Schachsports tatsächlich zu einer Zunahme des konzentrierten, analytischen und strategischen Denkens führen sollten, ließe sich darauf doch aufbauen.