Vor ein paar Tagen bin ich über einen Guardian-Bericht zu einer Umfrage* darüber gestolpert, was die (in diesem Fall britische) Öffentlichkeit an sozialen Problemlagen gravierend falsch einschätzt. Beispielsweise wird die Zahl der Teenagerschwangerschaften um den Faktor 25 überschätzt, die sinkende Kriminalitätsrate fälschlich als steigend bewertet und der missbräuchliche Bezug von Sozialleistungen sogar um den Faktor 34 überschätzt (Ergebnis der Umfrage ist die Annahme, dass ein Viertel der Sozialleistungen missbräuchlich ausgezahlt wird, tatsächlich sind es wohl 0,7 Prozent). Und so geht es munter weiter – Details sind auf der Seite des Umfrageinstituts nachlesbar.
Ob das in Deutschland genau so aussehen würde, weiß ich nicht – vermutlich spielen der Bildungsgrad der Bevölkerung ebenso wie die Relevanz des Boulevard-Journalismus eine wichtige Rolle dafür, wie verzerrt das öffentliche Bild der sozialen Wirklichkeit ist. Tendenziell vermute ich aber, dass hierzulande ähnliche Fehleinschätzungen nachzuweisen wären – der berühmte „Stammtisch“ existiert. Aber es ist nicht nur der Stammtisch (zumindest fehlt auf der Umfrageseite eine Aufschlüselung der Abweichungen nach Klasse, Bildungsgrad oder ähnlichen Variablen), sondern eben doch die öffentliche Meinung, die dann journalistisch wiedergekäut und weiterverbreitet wird. Ressentiments und Vorurteile finden sich eben auch in „bildungsbürgerlichen“ Talkshows. Und das lässt mich einigermaßen ratlos zurück.**
Denn, wenn dem so ist, dass ein großer Teil der öffentlichen Relevanzsetzung an den tatsächlichen Fakten vorbeigeht, was ist dann davon zu halten? Wahlrecht hängt nicht am Informiertsein, und das ist aus demokratischer Sicht zunächst einmal auch gut so. Aber sowohl Wahlkampfschwerpunkte als auch Wahlergebnisse bauen natürlich auf derartigen verfälschen Problemwahrnehmungen auf – absichtlich manipulativ, oder deswegen, weil eben auch in Parlamenten und Parteien Fehleinschätzungen der realen sozialen Problemlagen existieren. Politisch gewichtig ist, was wichtig scheint. Abgeordnete, Medien und BürgerInnen tragen dann oft gemeinsam dazu bei, gefühlte Problemlagen so zu verfestigen, dass der öffentliche Diskurs plötzlich das Handeln in einem Feld als alternativlos erscheinen lässt. Und schon scheint das Boot voll zu sein.
* Ipsos MORI hat 1015 Personen zwischen 16 und 75 Jahren online befragt und die Ergebnisse so gewichtet, dass sie zum soziodemographischen Profil der Gesamtbevölkerung passen. Nicht wirklich eine Repräsentativbefragung, aber auch nicht ganz vom Tisch zu wischen …
** Eigene Fehlwahrnehmungen natürlich nicht ausgeschlossen – was die Sache nicht besser macht
Interessant dazu auch, was interesiert bzw. über was berichtet wird: Volker BEck schreibt in einem aktuellen Tweet: https://twitter.com/Volker_Beck/status/356491982366965761:
„Irgendwie ist Medienresonanz auch nicht besser als Twitter. 2–3 Sätze zu Bushido laufen breiter als Kritik an Rüstuungsexporten und Drohnen“
Man sollte annehmen, dass sich Medien (und Bürger_innen) für das Thema Rüstung interessieren, tatsächlich aber scheinbar eher für Bushido und den von ihm losgetretenen Skandal. Und ebenso werden wir heute (oder in den nächsten Tagen) feststellen, dass sich die Menschen mehr für das royale Baby in London interessieren als die von dort ausgelöste Dauerüberwachung.
Ja, aber. Soll heißen: Ich will das nicht auf eine Kritik an der Eigenlogik der Massenmedien (Filterung nach „neu“, Aufmerksamkeitsmanagement, …) reduzieren. Es ist unwahrscheinlich, dass diese sich verändert. Und an Aufklärungskampagnen glaube ich auch nicht so ganz. Bleibt die Frage: Wie damit umgehen?
Wenn die Tatsachen aber auch so gemein sind! Oder so gravierend, dass sie möglicherweise nicht nur weitreichende Konsequenzen für das eigene Weltbild, sondern auch für den eigenen Lebensstil sein können. Wenn diejenigen, die man nicht mag, weil sie immer so klug argumentieren, dann tatsächlich recht haben.
Das ist alles so gemein. Und weil das einfach nicht auszuhalten ist, ignorieren wir es lieber.
Die Einsicht, dass vieles falsch läuft, ist für viele emotional schwer zu verkraften, so dass sie sich der Erkenntnis lieber verschließen. Angst vor Veränderung, damit spielen die Konservativen. Bei Menschen, die etwas zu verlieren (zu) haben (glauben), schlägt das an. Leider haben viele etwas zu verlieren.
Interessant wäre dann wohl noch die Korrelation der entsprechend fehlwahrgenommenen Tatsachen zur Berichtshäufigkeit in den Medien – also ob, das wäre meine Vermutung, eine entsprechende Überrepräsentation der entsprechenden Themen (Sozialleistungsmissbrauch, Kriminalität etc.) in der sog. „veröffentlichten Meinung“ feststellbar ist.
Und das dürfte dann eine entsprechende Rückkopplungs-Spirale geben: Überrepräsentierte Berichterstattung – Wahrnehmung als überdurchschnittlich relevant – weitere Intensivierung der Berichterstattung – etc.
Insofern läuft es wahrscheinlich doch eher auf eine Problematisierung der (Massen)Medienberichterstattung heraus, fürchte ich. Wie damit umgehen? Solche Umfragen veröffentlichen? Sich nie ohne entsprechende Klarstellung auf solche Debatten einlassen? Ich weiß: Nicht gerade sonderlich einfallsreich…