Kurz: Was mündige BürgerInnen wissen – und was nicht

S21-Demo in Freiburg 29

Vor ein paar Tagen bin ich über einen Guar­di­an-Bericht zu einer Umfra­ge* dar­über gestol­pert, was die (in die­sem Fall bri­ti­sche) Öffent­lich­keit an sozia­len Pro­blem­la­gen gra­vie­rend falsch ein­schätzt. Bei­spiels­wei­se wird die Zahl der Teen­ager­schwan­ger­schaf­ten um den Fak­tor 25 über­schätzt, die sin­ken­de Kri­mi­na­li­täts­ra­te fälsch­lich als stei­gend bewer­tet und der miss­bräuch­li­che Bezug von Sozi­al­leis­tun­gen sogar um den Fak­tor 34 über­schätzt (Ergeb­nis der Umfra­ge ist die Annah­me, dass ein Vier­tel der Sozi­al­leis­tun­gen miss­bräuch­lich aus­ge­zahlt wird, tat­säch­lich sind es wohl 0,7 Pro­zent). Und so geht es mun­ter wei­ter – Details sind auf der Sei­te des Umfra­ge­insti­tuts nach­les­bar.

Ob das in Deutsch­land genau so aus­se­hen wür­de, weiß ich nicht – ver­mut­lich spie­len der Bil­dungs­grad der Bevöl­ke­rung eben­so wie die Rele­vanz des Bou­le­vard-Jour­na­lis­mus eine wich­ti­ge Rol­le dafür, wie ver­zerrt das öffent­li­che Bild der sozia­len Wirk­lich­keit ist. Ten­den­zi­ell ver­mu­te ich aber, dass hier­zu­lan­de ähn­li­che Fehl­ein­schät­zun­gen nach­zu­wei­sen wären – der berühm­te „Stamm­tisch“ exis­tiert. Aber es ist nicht nur der Stamm­tisch (zumin­dest fehlt auf der Umfra­ge­sei­te eine Auf­schlüse­lung der Abwei­chun­gen nach Klas­se, Bil­dungs­grad oder ähn­li­chen Varia­blen), son­dern eben doch die öffent­li­che Mei­nung, die dann jour­na­lis­tisch wie­der­ge­käut und wei­ter­ver­brei­tet wird. Res­sen­ti­ments und Vor­ur­tei­le fin­den sich eben auch in „bil­dungs­bür­ger­li­chen“ Talk­shows. Und das lässt mich eini­ger­ma­ßen rat­los zurück.**

Denn, wenn dem so ist, dass ein gro­ßer Teil der öffent­li­chen Rele­vanz­set­zung an den tat­säch­li­chen Fak­ten vor­bei­geht, was ist dann davon zu hal­ten? Wahl­recht hängt nicht am Infor­miert­sein, und das ist aus demo­kra­ti­scher Sicht zunächst ein­mal auch gut so. Aber sowohl Wahl­kampf­schwer­punk­te als auch Wahl­er­geb­nis­se bau­en natür­lich auf der­ar­ti­gen ver­fäl­schen Pro­blem­wahr­neh­mun­gen auf – absicht­lich mani­pu­la­tiv, oder des­we­gen, weil eben auch in Par­la­men­ten und Par­tei­en Fehl­ein­schät­zun­gen der rea­len sozia­len Pro­blem­la­gen exis­tie­ren. Poli­tisch gewich­tig ist, was wich­tig scheint. Abge­ord­ne­te, Medi­en und Bür­ge­rIn­nen tra­gen dann oft gemein­sam dazu bei, gefühl­te Pro­blem­la­gen so zu ver­fes­ti­gen, dass der öffent­li­che Dis­kurs plötz­lich das Han­deln in einem Feld als alter­na­tiv­los erschei­nen lässt. Und schon scheint das Boot voll zu sein. 

* Ipsos MORI hat 1015 Per­so­nen zwi­schen 16 und 75 Jah­ren online befragt und die Ergeb­nis­se so gewich­tet, dass sie zum sozio­de­mo­gra­phi­schen Pro­fil der Gesamt­be­völ­ke­rung pas­sen. Nicht wirk­lich eine Reprä­sen­ta­tiv­be­fra­gung, aber auch nicht ganz vom Tisch zu wischen …

** Eige­ne Fehl­wahr­neh­mun­gen natür­lich nicht aus­ge­schlos­sen – was die Sache nicht bes­ser macht

6 Antworten auf „Kurz: Was mündige BürgerInnen wissen – und was nicht“

  1. Inter­es­sant dazu auch, was inte­re­siert bzw. über was berich­tet wird: Vol­ker BEck schreibt in einem aktu­el­len Tweet: https://twitter.com/Volker_Beck/status/356491982366965761:
    „Irgend­wie ist Medi­en­re­so­nanz auch nicht bes­ser als Twit­ter. 2–3 Sät­ze zu Bushi­do lau­fen brei­ter als Kri­tik an Rüs­tu­ungs­ex­por­ten und Drohnen“
    Man soll­te anneh­men, dass sich Medi­en (und Bürger_innen) für das The­ma Rüs­tung inter­es­sie­ren, tat­säch­lich aber schein­bar eher für Bushi­do und den von ihm los­ge­tre­te­nen Skan­dal. Und eben­so wer­den wir heu­te (oder in den nächs­ten Tagen) fest­stel­len, dass sich die Men­schen mehr für das roya­le Baby in Lon­don inter­es­sie­ren als die von dort aus­ge­lös­te Dauerüberwachung.

    1. Ja, aber. Soll hei­ßen: Ich will das nicht auf eine Kri­tik an der Eigen­lo­gik der Mas­sen­me­di­en (Fil­te­rung nach „neu“, Auf­merk­sam­keits­ma­nage­ment, …) redu­zie­ren. Es ist unwahr­schein­lich, dass die­se sich ver­än­dert. Und an Auf­klä­rungs­kam­pa­gnen glau­be ich auch nicht so ganz. Bleibt die Fra­ge: Wie damit umgehen?

  2. Wenn die Tat­sa­chen aber auch so gemein sind! Oder so gra­vie­rend, dass sie mög­li­cher­wei­se nicht nur weit­rei­chen­de Kon­se­quen­zen für das eige­ne Welt­bild, son­dern auch für den eige­nen Lebens­stil sein kön­nen. Wenn die­je­ni­gen, die man nicht mag, weil sie immer so klug argu­men­tie­ren, dann tat­säch­lich recht haben.
    Das ist alles so gemein. Und weil das ein­fach nicht aus­zu­hal­ten ist, igno­rie­ren wir es lieber.

    Die Ein­sicht, dass vie­les falsch läuft, ist für vie­le emo­tio­nal schwer zu ver­kraf­ten, so dass sie sich der Erkennt­nis lie­ber ver­schlie­ßen. Angst vor Ver­än­de­rung, damit spie­len die Kon­ser­va­ti­ven. Bei Men­schen, die etwas zu ver­lie­ren (zu) haben (glau­ben), schlägt das an. Lei­der haben vie­le etwas zu verlieren.

  3. Inter­es­sant wäre dann wohl noch die Kor­re­la­ti­on der ent­spre­chend fehl­wahr­ge­nom­me­nen Tat­sa­chen zur Berichts­häu­fig­keit in den Medi­en – also ob, das wäre mei­ne Ver­mu­tung, eine ent­spre­chen­de Über­re­prä­sen­ta­ti­on der ent­spre­chen­den The­men (Sozi­al­leis­tungs­miss­brauch, Kri­mi­na­li­tät etc.) in der sog. „ver­öf­fent­lich­ten Mei­nung“ fest­stell­bar ist.

    Und das dürf­te dann eine ent­spre­chen­de Rück­kopp­lungs-Spi­ra­le geben: Über­re­prä­sen­tier­te Bericht­erstat­tung – Wahr­neh­mung als über­durch­schnitt­lich rele­vant – wei­te­re Inten­si­vie­rung der Bericht­erstat­tung – etc.

    Inso­fern läuft es wahr­schein­lich doch eher auf eine Pro­ble­ma­ti­sie­rung der (Massen)Medienberichterstattung her­aus, fürch­te ich. Wie damit umge­hen? Sol­che Umfra­gen ver­öf­fent­li­chen? Sich nie ohne ent­spre­chen­de Klar­stel­lung auf sol­che Debat­ten ein­las­sen? Ich weiß: Nicht gera­de son­der­lich einfallsreich…

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