Ein apokryphes Dokument aus der Zukunft, das seinen Weg in Anatol Stefanowitsch Tumblr-Blog gefunden halt, hält als historische Lebensleistung der Piraten die Einführung von Werkzeugen für mehr direkte Beteiligung der BürgerInnen an der Demokratie fest. Ich bin mir sicher, dass zukünftige HistorikerInnen heftig darüber streiten werden, ob das nicht das Verdienst der Regierung Kretschmann II (vor der Fusion mit der Schweiz) gewesen sein wird, aber darum soll es jetzt nicht gehen.
Dass Piraten auf Tools statt auf Inhalte setzen (bzw. darauf, dass die Tools auch Inhalte sind), ist jetzt nicht so neu. Umso spannender finde ich die mögliche heiße Kartoffel des nächsten Piratenparteitags, die das Kürzel SMV trägt. Als Baden-Württemberger klingt das für mich zunächst mal nach Schülermitverwaltung, und so ungefähr das ist es wohl auch. Genauer: eine „Ständige Mitgliederversammlung“.
Das hat mich nun aufhorchen lassen, weil ein Erkenntnis meiner in grauen Vorzeiten geschriebenen Magisterarbeit (Aufsatz dazu, 2003) über den damaligen Virtuellen Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg darin bestand, dass tatsächliche Veränderungen im Machtgefüge durch einen Virtuellen Parteitag nur zu erwarten sind, wenn dieser kein einmaliges Ereignis bleibt, sondern eine dauerhafte Struktur wird. Was dann nicht der Fall war – ich denke, auch aufgrund der verschiedenen Funktionen (Inszenierung nach außen, Sozialisation nach innen), die mit einem an einem Ort stattfindenden Parteitag doch deutlich besser zu vereinbaren sind als mit einer virtuellen Mitgliederversammlung im Netz.
Ein Überblick zur SMV (und eine Auseinandersetzung mit einigen beliebten Gegenargumenten aus einer Pro-SMV-Sicht) findet sich hier ziemlich umfänglich. Letztlich würde SMV, wenn ich das richtig verstehe, bedeuten, dass inhaltliche Abstimmungen, die sich nicht auf Wahlen, Parteiprogramme und Satzungen beziehen, verbindlich nicht nur auf realräumlichen Mitgliederversammlungen (die Piraten haben hier kein Delegiertenprinzip, mit allen sich daraus ergebenden Verzerrungen), sondern auch mit Hilfe einer speziellen Software-Infrastruktur gefällt werden können. Diese würde sich am bisher schon eingesetzten System „Liquid Feedback“ orientieren, d.h. Stimmen zu bestimmten Themen können an Fachleute delegiert werden.
Neben der Beteiligungsfrage (wer hat, wer nimmt sich die Zeit, sich zu beteiligen?) ist ein kniffliger Punkt an der SMV das Wahlcomputerdilemma (vgl. fefe): Eine geheime Abstimmung per Netz ist vermutlich immer manipulierbar. Entsprechend setzen die Piraten hier auf offene, möglicherweise pseudonyme Abstimmungen, um so – zumindest innerhalb einer gewissen Frist – eine Überprüfbarkeit sicherzustellen. Auch das ist allerdings nicht trivial, da irgendwie überprüft werden muss, ob ich a. die Person bin, die zu sein ich vorgebe und b. ob ich stimmberechtigt bin. Eine Idee ist dabei wohl die Akkreditierung auf einem realräumlichen Parteitag (Prognose: das führt dann dazu, dass nur eine relativ kleine Teilmenge aller an diesem Parteitag Teilnehmenden sich an der SMV beteiligt – und niemand sonst).
Die verschiedenen SMV-Varianten befinden sich derzeit im aktuellen „Liquid Feedback“ – das nur beratenden Charakter hat – als Satzungsänderungsanträge für den nächsten Parteitag der Piraten in der Diskussion (Diskussionspad dazu). Diskutiert wird unter anderem darüber, ob es neben Abstimmungsrechten auch „Rederecht“ geben soll – und wie das technisch umzusetzen wäre (Telefonkonferenz, Forum, Wiki – wohl außerhalb der Abstimmungssoftware). Unter dem Gesichtspunkt innerparteilicher Meinungsbildung fände ich eine organisatorische Trennung zwischen Beschlusstool und Diskussion extrem irritierend.
Noch zwei weitere Dinge sind mir bei meinem Blick ins Liquid Feedback aufgefallen: So richtig mitreißend und intuitiv ist die Oberfläche nicht (z.B. ist es mir nicht gelungen, herauszukriegen, wie viele Personen an der Arbeit an den SMV-Anträgen beteiligt sind). Und dann gibt es da – formal wie inhaltlich – einen gewissen Deutschbürokratismus in Verbindung mit dem Wunsch nach Perfektion. Heraus kommen aus meiner laienhaften Sicht überkomplexe Satzungsvorgaben und Satzungen, die dem Wunsch nach einem möglichst hürdenlosen Beteiligungsformat doch deutlich entgegenstehen (doppelte Abstimmungen, um nur ein Beispiel zu nennen, Beschlussfähigkeit). Da ist sie wieder, die Partei der DIN-Norm-Trolle, die von raw code und trial und error nichts hält.
Trotzdem ist es ehrenwert, dass bei den Piraten versucht wird, die technische Ausweitung der Parteibasis voranzutreiben. Nehmen wir mal an, es gelingt ihnen, die bürokratischen und technischen Probleme zu lösen und SMV tatsächlich in der Satzung zu verankern. Würde sich was ändern? Vermutlich würden ein Haufen inhaltlicher Resolutionen und Positionen beschlossen – 90% davon allerdings unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit, weil die Multiplikationswirkung von Parteitagsevents mit inszenierten Streits fehlt. Die anderen 10% der Beschlüsse würden wahrgenommen, weil Piraten mit großer „Reichweite“ – Bundesvorstände, Abgeordnete etc. – sich dazu öffentlich positionieren.
Und auf der Seite der Abstimmenden? Je nach Prozedere wäre meine Prognose auch hier ein eher geringer Prozentsatz an Aktiven – 1%, die jede freie Minute in der SMV verbringen, bis der Endgegner besiegt ist, 9%, die sich mal eingeloggt haben und das Passwort rauskramen, wenn sie von einer besonders wichtigen Abstimmung hören. Und 90%, die den Piraten beigetreten sind, weil sie Beteiligung und Transparenz toll finden, aber letztlich feststellen, dass das auch so läuft. Zu pessimistisch?
Fazit: Eine ständige Mitgliederversammlung könnte ein mutiger Schritt sein. Ob es den Piraten gelingt, hier soviel Mut aufzubringen, dass andere Parteien ein gutes Modell kopieren werden, bezweifle ich. Den tatsächlichen Einfluss (aka Macht) eines Tools wie SMV scheinen mir die Piraten deutlich zu überschätzen – letztlich kommt es nicht auf die Beschlussfassung an, sondern darauf, diese publik zu machen und zu deuten (und vorher bestimmte Beschlüsse undenkbar werden zu lassen). Hier hebelt eine SMV die Aufmerksamkeitsressourcen von Köpfen und öffentlich inszenierten Streits nicht aus. Wie wichtig ist ein Papier, das beschlossen wird, von dem aber niemand weiß?
Warum blogge ich das? Weil ich mir mit Blick auf die Antragsflut grüner Parteitage und die Zeitabhängigkeit demokratischer Beteiligung durchaus wünsche, dass sich hier was bewegt, aber nicht wirklich überzeugt davon bin, dass eine SMV strukturell etwas ändert.
.@_tillwe_ trifft den Punkt: »Wie wichtig ist ein Papier, das beschlossen wird, von dem aber niemand weiß?« http://t.co/LuRqURV7 #sMV
Moin,
es gibt noch einen Vorschlag von Justus und mir, der einige deiner Punkte bereits berücksichtigt:
https://pad.lvbw-it.de/p/Urabstimmungsordnung
Interessanter Vorschlag, insbesondere hinsichtlich der zeitlichen Taktung, due aus „ständig“ wieder ein Ereignis macht. Angesehen davon klingt das für mich nach Urabstimmung in Papierform plus Internetplattform. Etwas weniger komplex kann ich mir so eine Kombi auch für meine Partei gut vorstellen.
guter beitrag, danke till! (wie üblich :-)
interessant sind an der SMV-debatte ja nicht allein die möglichen künftigen auswirkungen auf andere parteien, sondern die bereits jetzt erkennbaren: bei einem ersten (flüchtigen) blick auf den wahlprogrammprozess der grünen fühle ich mich spontan ebenfalls an eine „liquid feedback“-variante erinnert, allerdings ohne den starken digitalisierungsaspekt der piraten. wenn ich das verfahren richtig verstanden habe, gibt es im anschluss an die verabschiedung des wahlprogramms durch die bdk im april (?) einen etwa sechswöchigen diskussionszeitraum, in dem die „basis“ sich ein urteil über die programmschwerpunkte bilden soll. nach einer art „deliberation day“ anfang juni mit diskussionsveranstaltungen auf kreisverbandsebene soll dann ein votum über die zehn wichtigsten issues erfolgen.
in der bedeutungssteigerung der basis-aktivitäten (parallel zur urwahl) ist hier mE ein durchaus wichtiger schritt zur belebung parteiinterner debatten zu erkennen, in der zunächst etwas kompliziert wirkenden umsetzung (und der gefahr einer nur symbolischen basisorientierung) könnte man hier auch die idee kommen, so etwas wie „liquid democracy zu fuß“ zu vermuten. was das nun genau bedeutet, weiß ich nicht, aber zunächst würde ich einmal festhalten, dass die indirekte einflussnahme der piraten-tools längst begonnen hat und die grünen hier eine art vorreiterrolle übernommen haben – oder sie sich auf eine innovationstätigkeit besinnen, die schon vor mehr als zehn jahren das experiment eines virtuelle parteitages hervorgebracht hat. (noch etwas älter ist ja im übrigen die idee des virtuellen ortsvereins der SPD, mal sehen, wann bzw. ob der in seine version 3.0 geht…).
Kurz zu dem grüne Verfahren: es gibt etwa 60 Projekte im Wahlprogrammentwurf, daraus sollen in der Tat über Diskussion und schließlich zeitgleiche Abstimmung auf Kreismitgliederversammlungen die zehn oder so Top-Projekte für den Wahlkampf herausgefiltert werden.
ja, und kommentiert. MT @_tillwe_: Schon meinen Kommentar zu den wenig machtbewussten #SMV-Plänen der Piraten gelesen? http://t.co/SLbrgXxj
der schon am BPT eingereichte Mitgliederentscheid-SÄA findet sich nun auch im LFQB (auch wenn er dort keine Chance hat, weil dort überwiegend Delegations-Fans teilnehmen)
https://lqfb.piratenpartei.de/lf/initiative/show/5807.html
»Da ist sie wieder, die Partei der DIN-Norm-Trolle, die von raw code und trial und error nichts hält.«
Wer bei Wahlen auf trial and error raw code Siffware setzt möge sich bitte umgehend in einen rückwärtigen lunarstationären Orbit verfügen und dort bis zur erfolgreichen Installation seiner Denkfähigkeit auch bleiben.
Auf die Diktatur der Cracker kann ich verzichten; die 0dayexploits würden in interessierten Kreisen sicherlich hervorragend bezahlt werden.
»… meine Prognose [wäre] … ein eher geringer Prozentsatz an Aktiven –
1%, die jede freie Minute in der SMV verbringen, …
9%, die sich mal eingeloggt haben und das Passwort rauskramen, wenn sie von einer besonders wichtigen Abstimmung hören.«
Wie hoch ist der Anteil der Bürger, die Parteimitglieder sind,
wie hoch ist der Anteil der Parteimitglieder, die an den Versammlungen ihrer Ortsgruppe teilnehmen?
Und zum Vergleich: wie hoch ist die Wahlbeteiligung in der Schweiz beim quartalsmäßigen Abstimmungsmarathon?
@metaphora42 Dieser von @_tillwe_ http://t.co/267A6P4o ist lesenswert, finde ich.