Wenn ich schon ein persönliches Blog habe, kann ich da ja durchaus auch persönlich werden, oder? Hinter dem Klick auf mehr folgt deswegen ein persönliches Essay über das Ende meiner langjährigen Beziehung und den Beginn eines neuen Alltags.
1970 schrieb Alvin Toffler ein Buch namens Future Shock. Meine Gegenwart kommt mir gerade sehr nach Zukunftsschock vor. Laut Wikipedia lässt sich ein Hauptthema des Buchs auf die Wahrnehmung von Individuen und Gesellschaften verkürzen, „too much change in too short a period of time“. Also zuviel Wandel, zuviel Neues in zu kurzer Zeit. Der Hintegrund für Tofflers Buch ist der Wandel von der Industrie- zur Informationsgesellschaft in den späten 1960er und den 1970er Jahren.
Tofflers Zukunftsschock liegt heute 40 Jahre zurück. Und wirkt – in seiner Verkürzung auf schnellgetakteten dramatischen Wandel – aktueller denn je (die übrigen 900 Seiten oder so, die ich tatsächlich auch mal gelesen habe, ignoriere ich jetzt mal). Aber auch Toffler war nicht der erste, der sich mit der Überforderung von Individuen und Gesellschaften durch Transformationsprozesse auseinandergesetzt hat. So taucht der angebliche chinesische Fluch „May you live in interesting times“ in den 1930ern in der englischen Sprache auf, wobei ich mich hier wiederum auf die Wikipedia verlasse.
Damit bin ich endlich da, wo ich mit diesem Blogeintrag hinwollte: Mein zurzeit multiples Gefühl, mit allen Konsequenzen in interessanten Zeiten zu leben. 2011 ist ein Jahr, das sich für mich eindeutig nach einer neuen Zeit anfühlt – zwischen Fukushima und der Eurokrise, zwischen Erdrutschen im Parteiensystem und dem Gefühl, dass das (mobile) Web 2.0 endgültig alltägliche Normalität geworden ist. Ein Jahr, in dem sich Merkel für den Mindestlohn ausspricht und Kretschmann sich für Bundeswehrstandorte einsetzt, in dem es einen arabischen Frühling gab und in dem der Herbst schon wieder durch eine neue Protestbewegung – die Occupier – gekennzeichnet ist.
Das ist der allgemeine gesellschaftliche Zukunftsschock, der Fluch der interessanten Zeiten, der uns alle betrifft.
Für mich ist 2011 aber auch ganz persönlich ein Jahr massiver Veränderungen. Meine Diss. liegt auf Eis, ich arbeite jetzt in Stuttgart im Landtag statt an der Uni, in einer ganz neuen Rolle – und ich lerne gerade, wieder allein zu leben.
Meine langjährige Partnerin und ich haben uns getrennt. Dieser Trennungsprozess hat sich über einige Monate hingezogen. Zum Glück haben wir das einigermaßen einvernehmlich hingekriegt – und hatte ich die Zeit, mich allmählich daran zu gewöhnen, dass diese gemeinsame Lebensphase zu Ende gehen wird.
Seit zwei Wochen ist die Trennung mit dem Umzug von A. in ihre eigene Wohnung ganz konkret geworden. Unsere Kinder sind jetzt die halbe Woche bei ihr, die halbe Woche bei mir. Das ergibt für mich ein ganz schönes Puzzle aus Präsenztagen in Stuttgart, Kindertagen in Freiburg und ab und zu dann eben auch Tagen wie heute, an denen ich „kinderlos“ in Freiburg bin.
Interessante Zeiten, definitiv. Wenn ich für einen Moment in die soziologische Beobachtungsrolle wechsle: sowohl mein neuer Job als auch die Trennung jetzt haben jeweils eine ganze Reihe etablierter Alltagsroutinen und Praxisarrangements in Frage gestellt. Rahmenbedingungen und Ressourcen (zeitliche Zwänge, Geld, Platz …) haben sich verändert. Wieder allein leben, zum Teil allein für die Kinder zuständig zu sein, verschiebt die Freiräume und Grenzen, in denen Alltagspraktiken ablaufen. Und noch ist alles wieder neu und eben noch keine eingespielte Routine, ständig stellen sich Herausforderungen, Alltagsprobleme zu lösen, die jahrelang keine Probleme waren.
Ich frage mich auch, wie das Paare machen, wenn nicht wie bei uns schon lange vor der Trennung klar war, dass es den Anspruch gibt, Erwerbs- und Familienarbeit zwischen beiden einigermaßen gleichmäßig aufzuteilen. Auch „vorher“ gab es regelmäßig Zeiten in jeder Woche, in denen ich für die Kinder zuständig war, auch „vorher“ war es auch meine Aufgabe, zu kochen, zu putzen, zu wickeln, zu waschen usw.
Vielleicht sind die Veränderungen in einigen Alltagspraktiken jetzt nach der Trennung subtiler als sie es wären, wenn andere Arrangements das „vorher“ bestimmt hätten. Gewöhnungsbedürftig sind sie dennoch – und sei es, um ein Beispiel zu nennen, jetzt andere Menge und in anderen Rhythmen (und für weniger Geld) einzukaufen. Oder sich an Wochenenden ganz oder gar nicht für die Kinder zuständig zu fühlen. Der gemeinsame digitale Kalender bekommt ebenso eine neue Bedeutung wie die diversen Kommunikationskanäle.
Zum von diesen Veränderungen angestoßen Wandel gehört ganz äußerlich auch dazu, dass die ehemalige gemeinsame Wohnung, die jetzt meine Wohnung ist, jetzt anders aussieht (sprich: ich habe die letzten Tage immer wieder auch damit verbracht, Möbel rumzurücken, Wände zu streichen und Dinge umzudekorieren).
Spannend das alles. Aber auch ziemlich anstrengend und fordernd.
Wie finde ich jetzt den Bogen zurück zum Zukunftsschock der 1970er Jahre? Vielleicht mit der Feststellung, dass das individuelle Gefühl gesellschaftlicher Überforderung sicherlich auch etwas damit zu tun hat, dass Arbeitszeiten flexibler und Beziehungen kurzlebiger geworden sind, dass gesellschaftliche Institutionen mit Aushandlungsnotwendigkeiten versehen sind. In der Kombination haben diese Entkopplungswirkungen dazu geführt, dass die Gesellschaft – und wir alle – vor der Herausforderung stehen, Formen zu finden, sich überlappende und instabilere gesellschaftliche Gefüge miteinander zu verknüpfen: das Alltagsmanagement interessanter Zeiten. Diskurse wie der über die Patchworkfamilie oder über die gesellschaftliche Arbeitsteilung der Geschlechter können auch als Versuch verstanden werden, genau diesen übergreifenden Kit zwischen entkoppelten und temporär befristeten Institutionen jetzt eben synthetisch herzustellen – gegeben ist er nicht mehr, aus den individuellen Aushandlungsmustern über „vorher“ und „nachher“ ist noch kein festes kollektives Sediment geworden, auf das bei Bedarf zurückgegriffen werden kann. Nicht zuletzt hier wird sichtbar, dass wir uns in einer Zeit dauernden Wandels befinden – mit allen Konsequenzen.
Warum blogge ich das? Weil ich eine Form finden musste, um meinen neuen „Aggregatszustand“ öffentlich zu machen, um nicht sprachlos zu werden.
Tut mir sehr leid für dich. Wünsche dir alles Gute!
puh…es gibt da diese Anekdote von C.G. Jung: Immer wenn ein Freund zu ihm kam und freudig über eine Veränderung berichtete, nahm er ihn zur Seite, fasste seinen Arm und sagte mit ernster Stimme: „Das tut mir leid für dich, aber zusammen werden wir das schon hinkriegen“. Wenn hingegen ein Freund kam und aufgelöst über einen negative Veränderung oder einen Schicksalsschlag berichtete, hellte sich sein Gesicht auf und er sagte freudig: „Wie schön es ändert sich was, du kannst es gestalten, lass uns zusammen ein Glas Wein darauf trinken“.
Was will ich damit sagen? Dass sich wie Kettcar es einst sang auf „Trost am besten noch Prost“ reimt? Vielleicht. Aus meiner Försterbrille aber wohl eher, dass dies ein Zustand ist, der schmerzhaft ist und der neu ist. Aber ein Zustand der vorübergehen wird, der sich ändern wird und zwar schon in dem Moment, an dem sich des Aggregatzustandes bewusst wird.
In diesem Sinne, danke für den persönlichen Blog und der Wandel wirkt.…
Hui, das liest sich sehr aufgeräumt, wenn auch die eigentliche Information erstmal zum „Tut mir Leid“ verleitet … hoffentlich findet sich sehr schnell ein angenehmer „Aggregatzustand“!
oh man, das ist traurig :-/ ich wünsche euch, dass ihr es auch weiterhin und auf dauer einvernehmlich und freundlich hinkriegt. alles gute!
Puh, welch Reichtum an Parallelen!
Zeitpunkt Herbst 2011, langjährige Beziehung (bei mir: Ehe) mit zwei Kindern, Eltern arbeiten in Teilzeit, beide teilen sich Familienarbeit weiterhin in ähnlicher Struktur wie vor der Trennung, neue Wohnung im nahen Umkreis erleichtert das, auch wir können uns noch gut verständigen.
Unwesentlicher Unterschied: Ich bin der, der eine eigene Wohnung bezogen hat.
Hab erst kürzlich durch Manfred vom Wandel erfahren. Manche Dinge sind etwas in den Hintergrund gerückt …