Nachdem auf Twitter gerade darüber diskutiert wird, wie das mit der ganzen innerparteilichen Struktur bei Bündnis 90/Die Grünen so aussieht, und meine Antwort neben diesem Bild eigentlich nur ist: vielfältig, weil jeder Kreis- und Landesverband in gewisser Hinsicht seine eigenen Gepflogenheiten (Satzungsautonomie!) hat, und weil es viele verschiedene „Machtzentren“ gibt, doch noch mal ein paar Worte mehr zu der Frage, wie eine politische Idee vom Mitglied ins Programm wandert.
Dafür sind sechs Schritte wichtig:
1. Der Beschluss über das Programm für eine Wahl fällt auf dem Programmparteitag der jeweiligen Ebene; sprich: das Landtagswahlprogramm wird auf einer Landesdelegiertenkonferenz bzw. auf einer Landesmitgliederversammlung beschlossen, das Bundestags- und das nationale Europawahlprogramm auf einer Bundesdelegiertenkonferenz.
2. Programmparteitage sind ernsthafte Arbeitsparteitage – es gibt einen Entwurf, zu dem es haufenweise Änderungsanträge gibt. Viele davon werden in Vorbesprechungen zum Parteitag eingearbeitet, andere werden per Abstimmungsverfahren rausgeworfen oder übernommen. Zum Teil sind auch bereits im Entwurf strittige Punkte markiert, über die dann alternativ abgestimmt wird. Letztlich heißt das: der Entwurf (dazu gleich mehr) steht zwar vor dem Parteitag, und wird diesen insgesamt auch überleben – in Details und einzelnen politischen Forderungen kann sich auf dem jeweiligen Parteitag aber noch einiges tun. Per Mehrheitsbeschluss, aber noch häufiger in der Deliberation der jeweiligen Antragskommissionen mit den AntragsstellerInnen.
3. Formal kommt eine Idee damit ins Programm, indem sie entweder Teil des Entwurfs ist (dazu gleich mehr) , oder aber auf dem Parteitag als Änderungsantrag eingereicht wird. Änderungsanträge können gestellt werden von den jeweiligen Vorständen, von Kreis- und Ortsverbänden, von Arbeitsgemeinschaften, aber auch von – je nach Ebene – 10 bzw. 20 Einzelmitgliedern. Konkretes Beispiel: um einen Änderungsantrag für das derzeit diskutierte Landtagswahlprogramm Baden-Württemberg zu stellen, müsste ich entweder meinen Kreisverband davon überzeugen, oder aber neun andere grüne Mitglieder aus Baden-Württemberg.
4. Wichtig ist also der Entwurf. Dieser wird federführend vom Landes- bzw. Bundesvorstand erstellt. Faktisch heißt das – wiederum am Beispiel des Landtagswahlprogramms Baden-Württemberg – dass vom Landesvorstand aus eine Programmkommission eingerichtet wird, in der VertreterInnen des Landesvorstands und der Landtagsfraktion sich über die Struktur einigen. Die meisten Texte werden von Landtagsabgeordneten und deren MitarbeiterInnen geschrieben – auch, weil da die professionellen FachpolitikerInnen sitzen. Letztlich beschließt der Landesvorstand darüber, wie der Entwurf aussieht, der dem Landesparteitag zur Abstimmung vorgelegt wird.
5. Auch die Entwurfsphase hat schon deliberative Elemente. Traditionell sind das Programmkonferenzen, auf denen offen über einen Vorentwurf gesprochen wird. Seit einiger Zeit kommen auch netzbasierte Diskussionen dazu (dieses Jahr gab es z.B. eine mehrwöchige Debatte im „Wurzelwerk“ über den Landtagswahlprogrammentwurf). Der Entwurf ist dabei immer noch nicht öffentlich, diese Vordebatten geschehen parteiintern. Daneben gibt es, hmm, stakeholder-Gespräche, um’s mal so auszudrücken. Zum Beispiel aus den Landes- bzw. Bundesarbeitsgemeinschaften heraus mit den jeweiligen Fachabgeordneten. Oder von einzelnen Leuten, die ein Thema besonders wichtig finden, und die bereits im Vorfeld versuchen, dieses in den Entwurf hineinzukriegen, indem sie mit dem Landesvorstand, mit Fachabgeordneten oder mit der Programmkommission Kontakt aufnehmen. Beispielsweise habe ich als Sprecher der BAG Wissenschaft relativ ausführlich mit Theresia Bauer, unserer Fachabgeordneten für den Bereich Hochschulpolitik, über den Vorentwurf für diesen Programmteil gesprochen. Ähnliche Gespräche gab es mit Campusgrün.
Ebenso gibt es in dieser Phase – vom Entwurf zum Leitantrag – meistens noch redaktionelle Überarbeitungen.
6. Der vom Landes- bzw. Bundesparteitag verabschiedete Entwurf für das Landtags- bzw. Bundestagswahlprogramm wird dann zur Grundlage für den Wahlkampf. Das ganze sind Texte mit 70 bis 150 Seiten. Was davon als Botschaft im Wahlkampf auftaucht, ist wiederum Ergebnis eines Selektionsprozesses durch den Landesvorstand und durch die SpitzenkandidatInnen, oder auch durch eine vom Landesvorstand eingerichtete Wahlkampfkommission. Beispielsweise gibt es oft eine Kurzfassung, die aus 100 Seiten Forderungen die zehn wichtigsten rauspickt. Es fallen Entscheidungen darüber, welche Themen plakatiert werden. Der Einfluss als Mitglied auf diesen Selektionsprozess ist marginal – klar, es besteht die Möglichkeit, mit dem Vorstand zu sprechen – aber letztlich entscheidet dieser. Ein bißchen Einfluss gibt es, weil schon die Struktur des Programms nahelegt, was zentrale Themen werden – etwa, indem bestimmte Punkte als Leitprojekte o.ä. gekennzeichnet sind. Und schließlich kann ein Mitglied im Rahmen des örtlichen Wahlkampfs natürlich – z.B. in einem Kreisvorstand – darüber entscheiden, ob bestimmte Plakate verwendet werden oder nicht.
Das ganze hat natürlich auch eine zeitliche Dimension: die Landtagswahl ist im März 2011, der eigentliche Wahlkampf beginnt im Januar oder Februar, das Programm wird Anfang Dezember beschlossen, der Entwurf ist jetzt finalisiert, die Programmkonferenz dazu fand im Juli statt, die ersten Entwürfe für den Entwurf gab es wohl im März 2010 – also mit gut einem Jahr Vorlauf. Es kommt also auch drauf an, langfristig abzuschätzen, was die zentralen Wahlkampfthemen sein werden.
Aber nochmal zur Ausgangsfrage: wie kommt die Idee ins Programm? Entweder, weil sie schon vorher drinnestand (auch für den Entwurfstext des Programms werden natürlich alte Programme, Beschlüsse, Fraktionspapiere usw. herangezogen), also weil die Idee längst Bestandteil eines „Grundkanons“ war. Wenn es vorher schon Debatten und Beschlüsse über eine Idee gegeben hat (z.B. im Rahmen von Positionspapieren, die auf „normalen“ Parteitagen verabschiedet wurden), ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Idee es ins Programm schafft, schon einmal sehr viel höher, als wenn die Idee „plötzlich“ da ist und bisher kaum in der Partei diskutiert wurde. Und dann müssen entweder diejenigen, die den Entwurf schreiben, schon der Meinung sein, dass die Idee wichtig genug ist, um in das Programm aufgenommen zu werden – oder aber es muss, notfalls bis zur letzten Minute, d.h. der Abstimmung auf dem Parteitag – darum gekämpft werden, den Entwurf entsprechend zu ändern.
Beides ist wiederum voraussetzungsreicher, als es zunächst aussieht: Mehrheiten auf dem Parteitag hängen nicht nur von guten Reden, Argumenten und der Tagesform der RednerInnen ab, sondern auch davon, vor dem Parteitag schon (hybride) Bündnisse geschmiedet zu haben, die die Idee tragen, und dazu beitragen, andere von deren Wichtigkeit zu überzeugen. Hinter jeder Änderung des Programmentwurfs steckt letztlich ein Netzwerk, das versucht, noch unentschlossene Delegierte mit hineinzuziehen.
Aber auch die Frage, wann eine ProgrammautorIn findet, dass eine Idee wichtig genug ist, um ins Programm aufgenommen zu werden, ist voraussetzungsreich. Beispielsweise steht im Programmentwurf für die Landtagswahl eine Ablehnung von Studiengebühren drinne (gestritten wird noch über „grundsätzlich gebührenfrei“ oder „gebührenfrei bis zu Zeitpunkt X“). Das dass da so steht, ist nicht selbstverständlich, sondern hat etwas mit Studiprotesten, Beschlüssen mehrerer Parteitage, Anhörungen im Landtag und einer übergreifenden Meinungsbildung zu tun – eingebunden wiederum in ein ganzes Netzwerk argumentativer Abhängigkeiten (von grünen Grundwerten bis zum Haushalt).
Fazit: Um eine Idee ins Programm zu bringen, ist es notwendig
- schon lange vor dem entsprechenden Programmparteitag eine parteinterne und gerne auch öffentliche Debatte über die Idee anzustoßen,
- Banden zu bilden (na gut, Bündnisse zu schmieden),
- wichtige Personen davon zu überzeugen.
Alternativ ist es auch möglich, Ideen ins Programm „einzuschmuggeln“ – also die Programmkommission bzw. später die Antragskommissionen davon zu überzeugen, dass eine Übernahme dieses einen Halbsatzes an dieser Stelle doch sinnvoll sei. Das kann funktionieren – kann aber auch dazu führen, dass im Programm zwar die Idee X steht (der eine Halbsatz auf S. 42), dass das aber niemand mitkriegt, dass die Idee die Filterungsmechanismen hin zu einem öffentlichen Damit-Werben nicht überlebt (kein Plakat für die Netzneutralität …), und dass möglicherweise im Wahlkampf von einzelnen KandidatInnen auch ganz andere Dinge geäußert werden. Trotzdem kann auch dieser Weg sinnvoll sein – und sei es, um andere Akteure in der Partei gegebenenfalls auf S. 42 hinweisen zu können.
Ich hoffe, damit ist einigermaßen geklärt, wie die Idee ins Programm kommt – die zweite Frage ist dann, wie das Programm auch zu Politik wird. Und das wäre noch einmal eine ganz eigene Geschichte.
Warum blogge ich das? Weil mich diese Details innerparteilicher Meinungsbildung schon länger beschäftigen. Und weil ich glaube, dass es sinnvoll ist, das Erfahrungswissen in diesem Bereich transparent zu machen.
Das mit dem „Einschmuggeln“ hatten wir auch mal. Wobei das ja auch manchmal eher „ausversehen“ geschieht. Das geht in der Regel wirklich schief. Im Grunde stand dann etwas im Programm nur die Frontleute wusste es einfach nicht. Daher besser Debatten führen! :)
@Robin: Ich kenne ja nur meine eigenen grünen Erfahrungen – mich würde natürlich brennend interessieren, ob das in z.B. den Volksparteien im Prinzip auch so abläuft. Und wo die Unterschiede liegen. (Mein Außeneindruck ist: noch stärker als bei uns wird vorher/von oben festgelegt, was als Entwurf in den Parteitag reingeht, aber vor allem auch, was aus dem Parteitag rauskommt).
Ich kann das nur bis Landesparteitag beschreiben. Bundesparteitage hab ich mir bisher meist erspart. Aber so groß empfinde ich den Unterschied nicht. Wobei während man an der Regierung ist, natürlich schon so manche Vorlage vom Pareivorstand eingebracht wird und versucht wird, durchzudrücken.
Aber eigentlich reichen fünf wache Leute auf einem Parteitag, die dem Präsidium paroli bieten, dann hat das Ganze keine Chance. Das ist aber bei einigen Parteitagen der springende Punkt gewesen. Ich war halt mal auf einem Parteitag (untere Gliederung), da hatten die Delegierten keine Lust um Punkt und Komma zu streiten. Das ist für mich der worst-case-parteitag. So eine Veranstaltung haben wir mit den Jusos schonmal komplett umgekrempelt, was die Mandatsträger doch arg auf die Palme brachte.
Aufpassen muss man halt bei den „Leitanträgen“ ab Bezirksebene. Da versucht dann nämlich auch mal der Parteivorstand eine Formulierung durchzuschmuggeln.
Und ich glaube, dass man einfach nicht richtig steuern kann, was am Ende am Parteitag rauskommen soll. Das klappt nie.
@Robin: Danke! Wenn ich darf, frage ich trotzdem nochmal nach, zu zwei Punkten.
1. Wie sieht das mit dem „Präsidium Paroli bieten“ bei euch in der Praxis aus? Was geschieht da (bzw. war bei dem Beispiel, dass du vor Augen hast, los)?
2. Zu „Und ich glaube, dass man einfach nicht richtig steuern kann, was am Ende am Parteitag rauskommen soll. Das klappt nie.“ – sehe ich interessanterweise anders; zu ungefähr 70–80% machen Parteitage das, was sich z.B. der jeweilige Vorstand so vorgestellt hat. Dass das so ist, ist harte Arbeit. 10% sind wirklich unerwartete Ergebnisse, die restlichen 10–20% Punkte, die wirklich offen waren (also bei denen niemand vorher drauf wetten hätte können, ob Position A oder B eine (knappe) Mehrheit bekommt, oder ob X oder Y gewählt wird). Hätte jetzt gedacht, dass das bei der SPD mindestens genau so stark gesteuert und vorgegeben ist (ab, bei euch, der Bezirksebene, bis zur Bundesebene).
1. Präsidium:
Hm. Naja, auch wenn ich selbst schon auf Präsidien saß und weiß, wie das läuft. Es gab bei einem Parteitag neulich mal ein P., dass versuchte den Parteitag früher zu beenden. Tagesordnung sagte bis 17 Uhr und um 16:40 kam dann folgender Satz: „Ja, wir haben ja heute richtig viel geschafft und da können wir ja jetzt auch aufhören.“ Nach einiger Verwirrung – immerhin lagen noch dutzende Anträge vor – gab es dann einen GO-Antrag auf Fortsetzung des Parteitages. Geht ja gar nicht. Aber das Präsidium war angepisst. Denke mal, die waren einfach müde und fertig, aber dann lässt man sich eben ablösen. Naja…
Anderes Beispiel im Rahmen des Präsidiums. P. stellt die Abstimmungsfrage falsch. Also entgegen der üblichen Reihenfolge und dann stimmen einige Leute falsch ab, weil sie nicht ganz aufmerksam waren. Also Antrag auf nochmalige Abstimmung.
Oder im Frühjahr erlebt: Eine Antragskommission, bei der man den Eindruck hatte, dass sie die Anträge 10 Minuten vor dem Parteitag schnell mal angeschaut hatten und dann aufgrund ihrer „Erfahrung“ eine Empfehlung abgaben. Soll heißen: Was macht keinen Ärger. Und da sind wir dann bei Punkt 2. Sowas kommt natürlich vor. Das ist aber nicht vom Vorstand gesteuert, sondern ich hab manchmal den Eindruck, gerade die MdBs verhalten sich hier gerne im vorauseilenden Gehorsam. Das ist richtig schlimm. Ich persönlich hatte da vor einigen Jahre schon mal so Anträge, da sagte dann eine Mandatsträgerin: „Das ist ja schon die Position der Fraktion“. Stimmte effektiv nicht, aber woher soll das der „normale“ Delegierte wissen. Da war dann Feuer auf dem Dach – denn ich habe das natürlich richtig gestellt :) (und gewonnen).
Und wie „offen“ ein Parteittag ist, hängt wirklich immer von den Teilnehmern ab. Wenn die Mischung stimmt, wird es spannend. Sind NUR alte Schlachtrösser und Mandatsträger anwesend, geht es schnell. Routine, ein paar alte Feden werden weitergeführt und schnell wieder in den heimischen Garten, da ist ja noch so viel zutun.
Wenn aber viele junge Leute (meist auch aktive Jusos) in Kombination mit einigen alten Schlachtrössern anwesend sind, werden auch die „Alten“ meist richtig angesteckt. Es gibt nämlich viele, die scheinen immer auf die „jungen“ zu warten und das dann auch mal aus Prinzip zu unterstützen. Man war ja auch mal Juso *g* und dann geht es rund. Und genau DAS mag ich eigentlich…