Manchmal beschäftige ich mich ja mit der orangefarbenen Partei, die nicht so recht weiß, wo sie hinwill. Bei den letzten Wahlen gab es spektakuläre Pleiten, und die Gates sind so berechenbar geworden, dass niemand mehr Popcorn will. Trotzdem bin ich ziemlich sicher, dass die Piraten bei der Europawahl im Mai über die Drei-Prozent-Hürde kommen werden. Weil drei Prozent bei einer 2,x‑Prozent-Partei eine andere Dynamik auslösen als fünf Prozent als Hürde. Weil sie sich vermutlich mit TTIP profilieren werden. Und weil viele Wählerinnen und Wähler die Wahl zum Europäischen Parlament immer noch für unwichtig halten. Oder, was meint ihr?
Kurz nach Bayern
Das Ergebnis der Bayernwahl ist mit 8,x% 8,6% und einem in absoluten Zahlen etwa gleichbleibenden nur leicht gestiegenen Anteil grüner WählerInnen enttäuschend. Natürlich wäre es jetzt spannend, über mögliche Ursachen zu spekulieren. Aber wir stehen eine Woche vor der entscheidenden Bundestagswahl. Da ist eine – womöglich nach Flügeln aufgestellte – öffentliche Strategiedebatte alles andere als hilfreich. Die wird es nach der Wahl geben, etwa am 27.9. beim Länderrat. Bis dahin werde ich zumindest mich mit Äußerungen zurückhalten, und hoffe, dass ich damit nicht allein stehe (nur soviel: ich sehe Fehler gar nicht so sehr bei uns).
Statt dessen halte ich es für wichtig, über zwei andere Punkte zu sprechen. Beide kann ich nicht belegen, beim einen möchte ich das nachher noch versuchen.
1. Gefangenschaft im Narrativ, oder: Was tun, wenn der politische Gegner wissentlich die Unwahrheit sagt (oder zumindest sehr schräge Interpretationen liefern), Medien das dankbar aufgreifen (manchmal auch andersherum), und alle Richtigstellungen, Faktenchecks und sonstigen Äußerungen verpuffen? (Und juristische Schritte wg. legitimer Zuspitzung im Wahlkampf daneben gehen). Ich empfinde das als eine extrem unfaire Form des Wahlkampfs – auch als Bestandteil einer Entpolitisierung von Politik, wenn’s nur noch um die gute Story und die Geschichte geht, und kaum noch darum, was welche Partei eigentlich will. Vielleicht war das schon immer so. Zu einer klaren, demokratischen Entscheidung zwischen inhaltlichen Alternativen trägt es jedoch nicht bei, wenn statt dessen über hegemoniale Deutungen und Bilder abgestimmt wird, ganz egal, ob sie zutreffen oder nicht.
2. Das Irrlichtern der Demografie: Auch hier die Möglichkeit, dass es nur gefühlt so ist, und nicht signifikant anders aussieht als vor zehn oder zwanzig Jahren – aber zumindest in meiner Wahrnehmung liegen Meinungsumfragen vor der Wahl erschreckend oft weit weg von den Prognosen und endgültigen Ergebnissen. Im Lauf des Sommers schwankten die grünen Umfrageergebnisse in Bayern zwischen 10 und 15 Prozent – selbst mit einem Fehler von 2 bis 3 Prozentpunkten sind rund 8,5 Prozent dann doch erstaunlich wenig. Und ähnliches fällt mir zumindest auch vor anderen Wahlen immer wieder auf. Woran liegt’s? (Vielleicht kommt ich nachher dazu, das mal für einige Wahlen der letzten Zeit auszurechnen …).
P.S.: Empirisch bestätigt sich letzteres nicht.
P.P.S.: Interessant sind die massiven regionalen Differenzen in Bayern. In Niederbayern, Schwaben und der Oberpfalz wurde das mittelprächtige Ergebnis gehalten, in Franken gab es teils kräftige Zugewinne (+3 Prozentpunkte in einzelnen Stimmkreisen) – und in Oberbayern (inkl. München) durchgängig Verluste von 2 bis 4 Prozentpunkten, teils noch deutlich mehr (siehe Visualisierung beim Landeswahlleiter). Weil Oberbayern etwa ein Drittel des Landes umfasst, schlägt das deutlich auf das bayrische Gesamtergebnis durch. Als Erklärung werden das schwache Abschneiden der CSU 2008 in Oberbayern (SeehoferBeckstein als Franke, und jetzt Seehofer als Oberbayer), der Tod von Sepp Daxenberger sowie Ude als ehemaliger Münchener OB als Ministerpräsidentenkandidat der SPD genannt.
Kurz: Mandatsrechner
Mit den Umfragen ist das ja so eine Sache. Alle Verzerrungen, Fehler und Propagandawünsche abgezogen, bleibt die Frage, wie sich bundesweite Umfragewerte in Mandate umsetzen würden. Diese Frage beantwortet wie bereits 2009 auch dieses Jahr – mit dem neuen Wahlrecht – wieder der Mandatsrechner von Christian Brugger – auf der Grundlage beliebig auswählbarer Umfrage und mit unterschiedlichen, auswählbaren Datengrundlagen zur Verteilung der Bundesergebnisse auf die Länder. Für die grünen Listen lässt sich sogar einblenden, wer drin wäre. Und im ExpertInnen-Modus lässt sich an jeder Zahl drehen, um zu sehen, wie die Auswirkungen auf die Zusammensetzungen des Bundestags wären, was passiert, wenn FDP oder AfD oder Piraten knapp rein oder raus fallen, oder wenn alle baden-württembergischen Direktmandate an die CDU gehen sollten. Gute Sache! Und wir drehen das!
Beschwert euch nicht, wählt!
Ich finde Steinbrück nicht sonderlich sympathisch. Aber darum geht es nicht. Die Umfragewerte sehen nicht so toll aus. Aber auch darum geht es nicht. Unser Parteien- und Koalitionssystem führt dazu, dass die Wahl am 22.9. realistischerweise drei Ergebnisse haben kann:
1. Merkel und ihre schwarz-gelbe Koalition werden bestätigt und nehmen das als Signal dafür, den bisherigen Kurs verschärft fortzusetzen. Klar, der Blick in die Zukunft bleibt ein bisschen nebulös, weil Merkels Kurs nicht so klar ist. Die letzten vier Jahre zeigen jedenfalls, dass dazu Bonuspolitik für Lobbygruppen und Besserverdienende gehört, dass es gesellschaftspolitisch immer wieder Rückschläge gibt und die wenigen Verbesserungen oft vor dem Bundesverfassungsgericht erstritten werden mussten, und dass Umwelt oder Klima für Merkel keine Themen sind, und entsprechend Murks betrieben wird.
Nebensache?! Selektionseffekte des Wahlsystems
Das baden-württembergische Wahlsystem macht nicht nur Wahlabende spannend, sondern trägt, da es keine Listen gibt, auch dazu bei, dass übliche (formale wie informelle) Quotierungsinstrumente nicht greifen. Das wirkt sich u.a. auch auf die Geschlechterquote aus – und reduziert auch generell die Chancen für alle, die nicht dem Typus des populistischen Direktmandatärs entsprechen, in den Landtag einzuziehen.
Schauen wir dazu mal die Abgeordneten im neuen Landtag an, getrennt nach den vier Fraktionen.
- Die CDU entsendet 60 Abgeordnete in den Landtag. Darunter sind gerade mal acht Frauen (wenn ich mich jetzt nicht verzählt habe). Das sind 13% dieser Fraktion.
- Ein bisschen besser – aber auch nicht wirklich gut – sieht es bei uns Grünen aus. In der neuen großen Fraktion mit 36 Abgeordneten beträgt der Frauenanteil 31% (d.h. 11 Abgeordnete).
- Bei der SPD sind es 6 weibliche Abgeordnete bei einer Fraktionsstärke von 35 Sitzen, also 17%.
- Und die FDP hat es tatsächlich geschafft, eine rein männliche 7er-Fraktion in den Landtag zu bringen.
Im Landtag insgesamt kommen wir damit auf einen – auch im Vergleich zu anderen Landtagen in Deutschland – vorsintflutlichen Frauenanteil von 18%.
Ich gehe davon aus, dass das bei der Verteilung der Regierungsposten ein bisschen anders aussehen wird. Wenn mit Kretschmann und Schmid schon ein Männerduo an der Spitze steht, wird es in beiden Parteien meiner Meinung nach schwer durchsetzbar sein, beim weiteren Regierungspersonal weniger als eine Quotierung umzusetzen.
Mir geht es in diesem Artikel allerdings gar nicht nur darum, Frauen und Männer zu zählen und Quoten auszurechnen. Ich sehe den geringen Frauenanteil – der ja selbst in der grünen Fraktion deutlich hinter den üblicherweise in grünen Gremien erwarteten 50% liegt – im Landtag als einen sehr deutlichen Hinweis darauf, dass das baden-württembergische Wahlrecht, dessen Grundlage ja Wahlkreiskandidaturen sind, Struktureffekte hat und dazu beiträgt, einen bestimmten Personentyp – der honorige, örtlich verankerte Politiker (m, d.) – zu bevorzugen. Ich habe dazu jetzt keine Daten, aber ich gehe davon aus, dass das auch bei der Altersverteilung, bei Berufen und definitiv beim Anteil von Abgeordneten mit Migrationshintergrund eine Rolle spielt.
Zum Vergleich vielleicht noch – hier mal nur die Grünen – die Situation bei der Kandidatur. In den landesweit 70 Wahlkreisen sind bei uns 24 Frauen angetreten (34%), also ein etwas höherer Anteil als in der Fraktion. Anders gesagt: die kritische Schwelle scheint gar nicht so sehr die Wahl zu sein, sondern der Schritt davor – das Erringen eines (aussichtsreichen) Wahlkreises.
Die drei Spitzenergebnisse (und Direktmandate) bei den Grünen haben übrigens allesamt Frauen erzielt – Mutherem Aras mit 42,5% in Stuttgart I, Edith Sitzmann mit 39,9% in Freiburg II und Theresia Bauer mit 36,7% in Heidelberg.
Ob die Zusammensetzung des Landtags, die in den letzten Jahren ähnlich war, Auswirkungen auf die dort entstehende Politik hatte oder haben wird, darüber lässt sich streiten. Ich bin nicht der Ansicht, dass Politik sich automatisch ändert, weil sie von Menschen mit weiblichen Geschlechtsteilen gemacht wird. Mir geht es eher darum, dass der Frauenanteil ein Hinweis darauf ist, wie wenig repräsentativ der Landtag für die ganz unterschiedlichen Lebensentwürfe und Alltagssituationen der baden-württembergischen Bevölkerung ist. Und in dieser mangelhaften Abbildung der realen Vielfalt – darin sehe ich auch ein Problem für die dort entstehende Politik.
Warum blogge ich das? Als kleinen Hinweis darauf, dass das Wahlrecht in Baden-Württemberg auch in anderer Weise verzerrend wirkt.
P.S.: Jan weist im Kommentar auf eine Übersicht des Statistischen Landesamts hin, in der für alle Parteien aufgeführt ist, wie viele Bewerberinnen überhaupt angetreten sind (bei uns demnach 37% = 26 Frauen statt der von mir oben genannten 34%/24 Frauen; CDU: 15%, SPD: 20%, FDP: 25% unter den BewerberInnen).