Während andere sich Eiswasser über den Kopf schütten, geht auch ein Kettenbrief herum, bei dem dazu aufgefordert wird, zehn Bücher zu nennen, die eine/n begleitet oder besonders berührt haben. Christel Opeker hat mich gebeten, dieser Aufforderung Folge zu leisten, was ich hiermit tun will. Wobei ich schon merke: Spontan zehn Bücher zu nennen, das ist gar nicht so einfach. Weil’s ja doch ein bisschen ein Selbstportrait zeichnet. Und weil es einfach zu viele Bücher gibt.
Ich lasse mal das auf dem Straßenflohmarkt gefundene Außerirdische-kommen-heimlich-auf-die-Erde-Buch weg, das mich als Zehn- oder Zwölfjährigen über einige Wochen ernsthaft verunsichert hatte und denke eher über Bücher nach, die mich in einem positiven Sinne beeindruckten. Wer möchte, darf in den Kommentaren über übergreifende Leitmotive spekulieren.
Die Sachbücher
1. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, dt. 1969 – eine Darlegung des Sozialkonstruktivismus, die mein Verständnis von Welt ziemlich klar geprägt hat. Wenn es das eine praxistheoretische Buch gäbe, und nicht ganz viele Bücher und Aufsätze, würde ich die jetzt auch noch nennen (Pickering, Shove, Hörning, Reckwitz, Foucault, …). Und als ähnlichen, aber ungleichen Kontrapunkt Luhmann, etwa die Realität der Massenmedien.
2. Victor Papanek, Design for the real world. Human Ecology and Social Change, 1985 – stellvertretend für eine ganze Reihe von Büchern, die sich damit auseinandersetzen, wie ein anderes, leichteres Leben mit Technik möglich ist. Und überhaupt, eigentlich müsste ich hier die ganze Fischer-„anders leben“-Reihe aus den 1970ern und 1980ern aufführen, die ich meinen Eltern geklaut habe. Und Jungk. Und eine ganze Reihe neuerer „Öko-Bücher“.
3. Manuel Castells, Das Informationszeitalter, dt. 2003, 3 Bd. – eine in ihren Grundzügen immer noch gültige Diagnose unserer globalisierten Gesellschaft im vernetzten Informationskapitalismus. Und auch das pars pro toto.
4. Andrea Baier, Christa Müller und Karin Werner, Wovon Menschen leben, 2007 – Soziologie zum Anfassen, hier suffizienzorientiert. Ähnlich auch Ulrich Beck und Ulf Erdmann Ziegler, Eigenes Leben – Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben, 1997, da geht’s dann eher um den Einstieg in ganz unterschiedliche Lebenswirklichkeiten. Individualisierung, Lebensstile, und all sowas.
Science Fiction
5. Ursula K. Le Guin, The Dispossessed, 1974 – eine realistische Utopie, eine Annäherung an den, sagen wir mal, Anarchosyndikalismus (oder, in neuerer Terminologie, an freie Kooperationen im Sinne Christoph Spehrs) mit allen Vor- und Nachteilen im Gewand einer Science-Fiction-Geschichte. Und die Leute haben zwar Geschlechter, aber am Namen zu erkennen sind sie nicht. (Wie überhaupt das ganze Thema Zweigeschlechtlichkeit, Queering, … hier eher fehlt, weil wissenschaftliche Aufsätze und Kinofilme beides keine Bücher sind. Evtl. könnte ich Charles Stross’ Glasshouse aufführen. Aber diese Liste ist eh schon männerlastig genug. Nachtrag: Oder, aber das ist mir zu spät wieder eingefallen, dass ich das eigentlich in die Liste packen wollte – Marge Piercy, He, She and It,1991).
6. Kim Stanley Robinson, Forty Signs of Rain / Fifty Degrees Below / Sixty Days and Counting, 2004–2007 – Eine Klimawandel-Politik-Science-Fiction-Trilogie, ebenfalls mit einer gehörigen Prise utopischen Realismus. Auch Robinsons Mars-Trilogie könnte an dieser Stelle stehen.
7. William Gibson, Neuromancer, 1984, dt. 1987 – Wenn ich mich richtig erinnere, das erste richtige und ganz andere Science-Fiction-Buch, das ich gelesen habe. Das Buch, in dem der Cyberspace auf der Schreibmaschine erfunden wurde, und das ein Genre begründet hat. Schön auch der in meiner Ausgabe vorne drin klebende Zettel, „Der Schüler Till Westermayer, Klasse 9c, erhält für gute Leistungen im Schuljahr 1989 / 90 einen Preis.“ (Runner-ups für diese Kategorie: Bruce Sterlings Schismatrix+, einiges von Michael Swanwick und John Shirley sowie Neal Stephensons Snow Crash). Und Idoru etc. fand ich auch sehr wichtig.
8. Neal Stephenson, The Diamond Age or, A Young Lady’s Illustrated Primer (dt. Diamond Age – Die Grenzwelt), 1995, dt. 1996 – Auch wenn ich Snow Crash davor gelesen habe, war das hier das wichtigere Buch für mich (ein Mädchen in einer u.a. neoviktorianischen Zukunft lernt mit Hilfe einer als Fibel getarnten AI genügend Strategie, um die Welt zu retten oder so). Auch aus Stephensons Anathem und aus seinem Baroque Cycle habe ich viel gelernt. Seine konventionelleren Thriller-Waffen-Geheimdienst-Bücher mag ich dagegen nicht so gerne.
9. Terry Pratchett, Wintersmith, 2006 – Weil Pratchetts Magie viel mit Realität zu tun hat.
10. Gudrun Pausewang, Die letzten Kinder von Schewenborn, 1983 – Ein Atomschlag auf Fulda – und dann? Wie auch ein paar ähnliche Bücher (auch die Wolke) ziemlich gruselige und vermutlich sehr realistische Jugendliteratur, die einiges zu meiner politischen Prägung beigetragen haben dürfte.
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Soweit meine zehn Bücher. Was fehlt? Dune, den Herr der Ringe, den Anhalter, Games of Thrones sowie einige Bücher von Robert Anton Wilson hätte ich auch noch nennen können. Aber das wäre dann eher das Standardprogramm geworden. Und ja, es ist jetzt neben Soziologie und Ökologie nur Science Fiction geworden, und da auch nur ein winzigkleiner Ausschnitt; viele eher unterhaltsame als weltbewegende Bücher habe ich weggelassen. Aber selbst beim Nachdenken über „Hochliteratur“ fällt mir abgesehen vom Kanon bis in die 1980er Jahre (viel Böll, aber auch Kafka, Tucholsky, …) vor allem magischer Realismus ein. Oder Ecos Historienschinken. Was dann auch nicht so weit weg ist von Science Fiction und Fantasy. Was auch immer das über mich aussagt ;-)