20 Jahre nach dem ersten virtuellen Parteitag und ein halbes Jahr nach der großen Schaltkonferenz, dem digitalen Länderrat, tagte an diesem Wochenende die grüne Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) digital. Hashtag #dbdk20. Corona macht’s möglich – und gleichzeitig lässt sich feststellen: so eine digitale BDK ist fast genauso anstrengend wie zweieinhalb Tage in irgendeiner Messehalle zu sitzen, dort Reden zu lauschen, konzentriert abzustimmen und nebenbei noch den einen oder anderen Plausch zu halten. Die Hin- und Rückfahrt entfällt, aber das macht das fehlende Wochenende auch nicht wett.
Warum es sich lohnen könnte, dafür zu kämpfen, Politik an wissenschaftlichen Fakten auszurichten
Die Stärke der neuen Klimabewegung kann aus zwei Ursachen abgeleitet werden. Das eine ist sicherlich die zunehmende Sichtbarkeit und damit Dringlichkeit des Klimawandels. Das andere ist, dass wir es hier mit wohl mit der ersten Bewegung zu tun haben, die Handlungsbedarf schlicht aus Physik ableitet. Es sind keine theoretischen Überlegungen, kein revolutionärer Überbau, es ist schlicht die gut erforschte Wirkung der Treibhausgase in der Atmosphäre mit allen Konsequenzen für das Klimasystem, die hier zum politischen Impuls verdichtet worden sind.
(Natur-)wissenschaftliche Wahrheit als Grundlage einer politischen Bewegung – das ist neu. Übrigens auch im Vergleich zu der bloß behaupteten Wissenschaftlichkeit des Marxismus-Leninismus, bei dem im Kern der Argumentation eben nicht beweisbare und dem wissenschaftlichen Prozess offene Fakten lagen, sondern ein auf Sand errichtetes Gedankengebäude.
Mit Fakten lässt sich nicht diskutieren. Darin liegt die Stärke, darin liegt aber auch eine große Schwäche der Klimabewegung. Denn die bloße Feststellung, dass zur Begrenzung der Erderwärmung ein maximales CO2-Budget für die Menschheit verbraucht werden darf, ist aber noch keine politische Handlungsanweisung. Zudem entzieht sich die naturwissenschaftliche Wahrheit auch insofern dem Politischen, als damit eine Reduzierung auf Null oder Eins nahe liegt. Das erleichtert radikale Forderungen. Entweder schafft die Menschheit – bisher kein handelnder Akteur – es, das CO2-Budget einzuhalten, oder sie schafft es nicht, und löst damit mit hoher Wahrscheinlichkeit Kipppunkte aus. Das liegt quer zum Modus des Kompromisses. Ein Treffen in der Mitte gibt es nicht, wenn 2,2 Grad Erderhitzung in ihren Konsequenzen genauso dramatisch sind wie ein Plus von drei oder vier Grad.
Der Anspruch, den die Klimabewegung an die Politik stellt, muss also zwangsläufig ein radikaler sein. Entsprechend hoch ist die Fallhöhe.
Das ist der eine Teil der Herausforderung. Der andere besteht darin, die heute notwendigen Maßnahmen, um dieses Ziel zu erreichen, zu finden und zu verhandeln, demokratische Mehrheiten dafür zu suchen und in kurzer Zeit einen Weg zu finden, das internationale Abkommen von Paris insbesondere in den zehn oder zwanzig Staaten mit den größten Treibhausgasemissionen umzusetzen.
Das historische Fenster hierfür – eine hohe Akzeptanz für Klimaschutzmaßnahmen in der Bevölkerung, Druck von der Straße, breite Mehrheiten im Parlament – hat die Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD nicht genutzt.
Entsprechend hoch ist der Druck auf die Partei, die sich schon immer durch hohe Kompetenzzuschreibungen in ökologischen Fragen auszeichnet, also auf Bündnis 90/Die Grünen: zwischen Physik und Politik zu vermitteln, und dabei weder die Demokratie noch das Weltklima vor die Hunde gehen zu lassen – das scheint die Aufgabe zu sein, die jetzt der kleinsten Bundestagsfraktion zuwächst.
(Und ja, es gibt Länderregierungen mit grüner Beteiligung, und ja, es gibt die grün-geführte Regierung in Baden-Württemberg – aber zu den Regeln des Politischen gehört eben auch, dass ein großer Teil der für das Pariser Klimaziel notwendigen Maßnahmen in Bundeskompetenz liegen würden, und das der Bundesrat ein Gremium ist, das Gesetze verzögern oder aufhalten kann, aber kaum selbst gestalterisch tätig werden kann.)
In dieser Situation bricht nun eine innergrüne Debatte über evidenzbasierte Politik los. Zur Unzeit?
In eigener Sache: Wissenschaftspolitik im BasisPod
Jan und Paula fassen im BasisPod die wichtigsten grünen Themen als Podcast zusammen. In der aktuellen Ausgabe #13 bin ich (etwa ab Minuten 27) zugeschaltet, und beantworte ein paar Fragen zur Rolle der Wissenschaftspolitik im grünen Grundsatzprozess.
(Die Telefonschalte lief über ZenCastr, was mich erstmal vor einige technische Herausforderungen stellte – das Ergebnis klingt jetzt trotz Headset und Tontechnikkunst doch ziemlich nach gutem alten Analogtelefon … authentisch, würde ich sagen)
In eigener Sache: Plädoyer für ein enges und kritisches Verhältnis zur Wissenschaft
Auf den ersten Blick denkt man: Grüne und Wissenschaftlichkeit – wo ist das Problem? Grüne laufen mit beim March for Science, wir geben Pressemitteilungen zur Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit heraus und laden Wissenschaftler_innen zu unseren Bundesdelegiertenkonferenzen ein. Im Gespräch mit Wissenschaftler_innen merkt man aber sehr schnell, dass unser Verhältnis zu Forschung und Forscher_innen kein ganz unkompliziertes ist: Zwar haben viele Wissenschaftler_innen eine grundlegende Sympathie für einige Ansätze unserer Politik. Ökologische Fragen sind vielen wichtig, ebenso unser liberales und emanzipatorisches Gesellschaftsbild, unsere Vorstellung einer beteiligungsorientierten Politik. Bald taucht dann jedoch ein großes Aber auf – denn noch immer erscheinen wir als technikfeindlich: Grüne seien die, die in Talkshows die „Schulmedizin“ verteufeln und öffentlich gegen Impfungen agieren.
So fängt ein Diskussionsbeitrag für den laufenden grünen Grundsatzprogrammprozess an, den ich gemeinsam mit Paula Louise Piachotta verfasst habe. Wer weiterlesen will, wie es um das Verhältnis von Grün und Wissenschaft bestellt ist, und wie eine zugleich enge und kritische Anbindung an Wissenschaftlichkeit für unsere Partei aussehen könnte, findet den kompletten Text auf gruene.de.
Kurz: Tagungsband zur NGU-Tagung 2010 erschienen
Seit wenigen Tagen ist der Kongressband zur 7. Tagung der Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie (NGU) online („Entscheidungen mit Umweltfolgen zwischen Freiheit und Zwang“). Ich habe an diesem Band in zwei verschiedenen Funktionen mitgewirkt habe: zum einen als Mitorganisator der Tagung und damit dann auch als Mitherausgeber (die allerallermeiste Arbeit mit dem Band hatte allerdings Fenn, der deswegen auch zurecht an erster Stelle steht) – und als Vortragender. Wer schon immer mal wissen wollte, was eigentlich mit meiner Diss. so vor sich geht, und in welche Richtung ich mich damit bewege (naja, Richtung Ende …), kann im Tagungsband meinen Beitrag „Mobilfunknutzung in Nachhaltigkeitsmilieus zwischen Freiheit und Zwang“ finden, der darüber, wie ich meine, ganz gut Auskunft gibt.
Ganz unabhängig davon gibt der Band eine ganze Reihe Einblicke in die Themen und Arbeitsansätze junger UmweltsozialwissenschaftlerInnen. Im Call for Papers der Tagung hatten wir relativ breit nach Arbeiten gefragt, die sich in irgendeiner Weise mit den Spielräumen und Zwängen von Handeln mit Umweltfolgen befassen. Die Bandbreite der im Tagungsband enthaltenen Beiträge reicht nun vom Umgang mit gentechnisch modifzierten Organismen über deliberative Zugänge zu Umweltproblemen bis hin zur generellen Debatte der Tragfähigkeit einer Effizienzstrategie. Also ein breites und anregendes Feld.
Wir haben den Tagungsband bei FreiDok publiziert (dem Online-Repository der UB Freiburg), d.h. er ist über diesen Link online zugänglich. In einer kleinen Stückzahl wird er wohl auch gedruckt werden. Das Institut für Forstökonomie der Uni Freiburg hat es dankenswerterweise möglich gemacht, den Band in FreiDok in die Arbeitsberichte-Reihe des Instituts zu stellen.
Faber, Fenn; Jay, Marion; Reinecke, Sabine; Westermayer, Till (Hrsg.) (2011): Entscheidungen mit Umweltfolgen zwischen Freiheit und Zwang. Tagungsband der 7. Tagung der Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie (NGU). Arbeitsbericht 55–2011, Freiburg: Institut für Forstökonomie. Elektronisches Dokument, URL: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/7944/.