Nach vierzehn Jahren, in denen Twitter mich begleitet hat – manchmal Zeit geraubt hat, manchmal schneller und näher als andere über Ereignisse informiert hat, manchmal den Tag mit interessanten Essays und Gedanken aufgewertet hat – fühlt sich Twitter jetzt sehr nach Untergang an.
Im April sah es schon einmal so aus, als die ersten Nachrichten zu Elon Musks Kaufabsichten heiß liefen – doch jetzt hat er das tatsächlich umgesetzt. Und prompt begonnen, den milliardenteuren Kauf (nicht sein Geld …) dazu zu nutzen, um im Rhythmus seiner täglichen Stimmungsschwankungen aus einer halbwegs funktionierenden Plattform (mit ihren eigenen Problemen) ein Geisterhaus zu machen: Rauswurf der Konzernspitze; Entlassungen großer Teile der Belegschaft inklusive Kommunikation, Content Monitoring, Ethik-Abteilung und so weiter, dabei zum Teil gegen das Arbeitsrecht nicht nur anderer Staaten, sondern auch einzelner US-Bundesstaaten verstoßend; halbstündlich neue Ankündigungen und öffentliche Nervenzusammenbrüche; halbgare Pläne, Verifizierungshaken jetzt zu verkaufen; Geschrei darüber, dass böse linke Aktivist*innen die Werbekunden vertreiben, die nicht neben ungefilterten Hasspostings stehen wollen, etc. etc.
Der Niedergang der Plattform geht schneller, als viele das vermutet haben. Das macht sich auch in Nutzerzahlen bemerkbar, bei großen Accounts geht die Zahl der Follower Tag für Tag um einige Prozent runter – Leute, die Twitter verlassen, weil sie auf die Musk-Plattform keine Lust haben.
Auf der anderen Seite ist es vor allem Mastodon, wo Leute hingehen, zum Teil als doppelgleisige Strategie (noch bei Twitter bleiben, aber schon mal anfangen, auf Mastodon-Instanzen ein neues Netzwerk aufzubauen). Unterstützt wird das durch Luca Hammers Fedifinder. Das ist ein kleines Tool, das automatisch durchschaut. wer von den eigenen Followern in seinem/ihren Profil oder in angehefteten Tweets Angaben zu Mastodon-Accounts gemacht hat. Die Ergebnisse werden in einer übersichtlichen, nach Mastodon-Instanzen geordneten Liste zusammengestellt und können dort einfach importiert werden. So ist es möglich, einen großen Teil der Menschen wiederzufinden, die überlegen, von Twitter zu Mastodon zu wechseln – sehr hilfreich.
Mastodon selbst ist in der einen oder anderen Hinsicht gewöhnungsbedürftig. Kleiner, nerdiger, teilweise umständlicher – und vom Prinzip dezentral kommunizierender Instanzen, also so wie bei E‑Mail, anders und vermutlich zukunftssicherer aufgebaut. Gleichzeitig nimmt damit die Macht der Instanzen-Admins zu – wer eine Instanz betreibt, kann nicht nur mitlesen, was da kommuniziert wird (das ist bei Musk und Twitter-DMs nicht anders), sondern auch von heute auf morgen entscheiden, diese zu zu machen.
Eigentlich würde ich erwarten, dass Medienunternehmen die Gunst der Stunde nutzen und sich als Betreiber interoperabler Plattformen auf Mastodon/Fediverse-Basis profilieren. Bisher macht das allerdings nur Jan Böhmermann, der det.social hochgezogen hat. Wo bleiben die entsprechenden Angebote von WELT bzw. BILD (igitt, aber müsste aus Springer-Sicht eigentlich logisch sein …), ZEIT, SZ, SPIEGEL usw.?
Ich selbst habe mir auf der großen Plattform mastodon.social unter https://mastodon.social/@_tillwe_ einen Account angelegt, der bisher vor allem noch Beiträge aus meinem Twitter-Account spiegelt, sich aber nach und nach mit eigenem Leben füllt. Statt der 4000 Leute, die mir auf Twitter folgen, sind’s hier erst rund 200, ähnlich sieht es bei den Zahlen derjenigen aus, denen ich folge. Trotzdem passiert einiges – und es gibt deutlich spürbare Wachstumsschmerzen. Technischer Art: Immer mal wieder ist der Server offline, oder es dauert, bis Bilder geladen werden, aber auch kultureller Art: für diejenigen, die immer schon Mastodon als gegenkulturelle Alternative genutzt haben, beginnt mit dem zunehmenden Wechsel von Twitter-Nutzer*innen, die ihre eigene Kultur und ire eigenen Praktiken mitbringen, eine Art „ewiger September“.
Wo das hinführt – bleibt abzuwarten. Auch mit Blick auf die Frage der Betreiberkosten. Twitter hat es ja geschafft, eine in den letzten Jahren technisch nahezu reibungslose Kommunikationsplattform mit globaler Reichweite zu betreiben. Das geht nicht mal eben so, und das ist nicht billig. Twitter hat sich dabei vor allem über Werbung finanziert, allerdings nicht immer erfolgreich. Und die Folgen einer werbefinanzierungszentrierten Sicht auf z.B. die Einführung neuer Features oder das Pochen auf eine algorithmisch gerankte Timeline waren durchaus nicht nur positiv.
Ob Mastodon-Instanzen über Spenden oder Abo-Modelle finanzierbar sind, oder – wie oben von mir vermutet – zu einem Teil der Community-Strategien von Medienkonzernen werden, die ja technisch problemlos eigene Instanzen aufsetzen könnten, bleibt abzuwarten.
Bis dahin wird Social-Media-Town mehr und mehr zur Geisterstadt. Facebook ist zu großen Teilen nur noch als Geburtstagskalender nutzbar. Xing schaue ich mir einmal im Quartal an – eigentlich könnte ich meinen Account da auch löschen. Flickr ist als persönliches Fotoarchiv besser als als Community. Und dazu kommt jetzt das Geisterhaus Twitter, in dem es spukt, in dem Zombies rumlaufen, das ganz zu verlassen aber auch nicht geht. You’ll never leave …
P.S.: Vermutlich hätte ich, wenn ich mehr darüber nachgedacht hätte, doch lieber einen Account bei gruene.social oder freiburg.social angelegt als bei der Großinstanz mastodon.social. Theoretisch lässt sich das auch umziehen, praktisch ist’s mir grade zu viel Aufwand.