Man kann sich auch auf Mastodon wunderbar in die Haare kriegen. Und manchmal ist das sogar produktiv. Beispielsweise ist das Ergebnis einer solchen Posting-Schlacht gestern, dass ich seitdem darüber nachdenke, wie das mit Projekten und der Mitte ist, und ob der Mainstream sich umleiten lässt.
Oberflächlich ging’s in der Debatte um soziale Netzwerke. Unabhängig davon kann ich dazu empfehlen, was Dejan Mihajlović heute morgen zu sozialen Netzwerken zwischen Demokratie und Dienstleistung geschrieben hat. Das hat allerdings nur tangential mit dem zu tun, um was es mir geht. Nämlich um die Frage, wie im weitesten Sinne „linke“ Netzwerkprojekte mit Inklusion und Exklusion umgehen. Und diese Frage geht weit über soziale Netzwerke und Open-Source-Digitalprojekte hinaus.
Mir scheint es hier zwei Herangehensweisen zu geben, die – zumindest in ihren Extremen gedacht – nicht, zumindest nur schlecht miteinander zu vereinbaren sind. Und ich bin mir nicht sicher, ob allen immer klar ist, in welchem dieser Modi sie gerade unterwegs sind.
Projekte
Die eine Herangehensweise ist das „Projekt“. Projekt meint hier eine Abkapselung von der „bösen“ Welt da draußen. Die Menschen, die an einem Projekt teilnehmen, ähneln sich in bestimmten, zentralen Kategorien. Insbesondere teilen sie bestimmte Werte, und gehen zudem oft davon aus, dass diese Werte allgemeingültig sein sollten. Sie ähneln sich zudem oft soziodemografisch – haben also beispielsweise einen ähnlichen Bildungshintergrund, einen bestimmten sozialen Status. (Paradoxerweise gilt dies insbesondere oft auch für Projekte, die Diversität besonders groß schreiben …)
Nicht jedes Projekt zieht die selbe Sorte Menschen an, und nicht jedes zieht die selben Grenzen. Allen gemeinsam ist aber ein klares Bewusstsein, dass bestimmte Regeln zur „Identität“ des Projektes dazu gehören. Es gibt eine gewisse etablierte Kultur, und wer dabei sein will, hält sich gefälligst daran. „Wir machen das hier so“ – und natürlich gibt es dafür gute, ja meist sogar sehr gute Gründe, die allen, die dabei sein wollen, ausführlich erklärt werden. „Wir machen das hier so“ ist ein Teil der Grenzziehung. Wer es anders macht, der gehört nicht dazu – und das wird teilweise implizit, teilweise sehr explizit verdeutlicht.
In dieser Allgemeinheit kann sowohl der, sagen wir, selbstorganisierte Umsonstladen, das autonome Kulturzentrum oder die Baugemeinschaft als Projekt bezeichnet werden wie auch viele politische Vereine – über Parteien rede ich jetzt mal nicht – oder eben, um den Bogen zum digitalen Raum zu schlagen – auch die von einem Verein betriebene Fediverse-Instanz, der Chaos-Computer-Club-Ableger oder in gewisser Weise sogar das eine oder andere Open-Source-Projekt.
Mitte-Orientierung
Herangehensweise Nummer zwei habe ich mal „Mitte“ getauft (ob das eine gute Bezeichnung ist, darüber lässt sich natürlich streiten). Was ich damit meine, ist der Versuch, Plattformen, Politiken, Räume so auszurichten, dass die Hürden, daran teilzunehmen, für möglichst alle gering sind. Niederschwelligkeit wird als Wert beschrieben.
(Und weil das schnell zu dieser Debatte führt, ein Exkus dazu: die Gestaltung von User Interfaces ist bei großen kommerziellen Softwareprodukten etwas, in das sehr viel Zeit und Geld gesteckt wird, bis hin zu A/B‑Tests für bestimmte Optionen. Das führt im Idealfall dazu, dass die Nutzung komplett hürdenlos möglich ist. Die Nutzererfahrung bei Apple steht da sprichwörtlich. Und ich glaube, ein guter Teil des Reizes von Bluesky – jenseits von FOMO und begrenzter Einladungspolitik – besteht in der Hoffnung, dort auf eine soziale Plattform zu stoßen, die im doppelten Sinne einfach benutzbar ist: ohne große Hürden, ohne Auswahl von Apps, Instanzen, Protokollen usw. einfach loszulegen, und sie bedienen, ohne groß darüber nachzudenken, was da passiert.
Ich mag Mastodon. Aber einfach in diesem Sinne ist Mastodon, ist das Fediverse nicht. Da hilft es auch nichts, haarklein zu erklären, warum das technisch gesehen alles total einfach ist und warum auch anderswo Hürden bestehen. Letztlich zählt der Eindruck, die gemachte Erfahrung. Und die ist bei vielen, die Mastodon mal ausprobieren, eben nicht „einfach loslegen“, sondern komplizierter. Und ich würde behaupten, dass ähnliches z.B. für Linux auf dem Desktop gilt. Alles, wo ich erst mal im Handbuch (in der Online-Dokumentation, der man-Page) nachgucken muss, wie etwas geht, ist nicht hürdenlos in dem Sinne, um den es mir hier geht …
Und als Exkurs im Exkurs: das viele Geld, das bei kommerziellen Vorhaben in User Interfaces und die User Experience gesteckt wird, führt nicht in allen Fällen zu schwellenlosen Produkten in diesem Sinne. Und im schlimmsten, leider gar nicht so seltenen Fall ist ein großer Teil der Optimierung der User Experience eine Optimierung im Sinne von „möglichst viel Werbung anzeigen“ und „Nutzer*innen dazu bringen, auf die falschen Knöpfe zu drücken“ (dark pattern). Das finde ich nicht gut, gehört aber zu diesem Thema dazu.
Soweit der Exkurs. Zurück zur Mitteorientierung von Projekten.)
Sich daran zu orientieren, dass „alle“ dabei sein können, und eben nicht nur die, die aus dem selben Milieu kommen, oder die den selben (technischen) Hintergrund haben – was das bedeutet, lässt sich plausibler machen, wenn konkrete Beispiele gewählt werden.
Wenn ich davon spreche, die Zivilgesellschaft zu beteiligen, denke ich an ehrenamtlich Engagierte, an die Flüchtlingshilfe oder die Tafelläden. Ich denke da nicht zuerst an den Sportverein, das technische Hilfswerk oder den Jagdverband. Meine Aussagen zur Zivilgesellschaft sollten allerdings auch dann noch passen, wenn ich letztere einsetze.
Als Test für zum Beispiel soziale Netzwerke (oder Umsonstläden und Hausprojekte), wenn die Orientierung an Niederschwelligkeit da ist: gehört zu „alle“ auch der*die typische CDU-Wähler*in? Konservatives Wertemuster, eher älter, mittlere Bildung, Einfamilienhäuschen im Grünen mit gepflegtem Rasen, zwei Autos in der Garage und Affinität zum Dialekt?
Wie muss eine Software, ein soziales Engagement, eine Politik gestaltet sein, die sich an „alle“ richtet, die auch für diesen Personenkreis niederschwellig akzeptier- und nutzbar ist? Welche Kompromisse können gemacht werden – und wo clasht eine Orientierung an der Mitte, an allen mit eigenen Wertvorstellungen?
Ein typisches Beispiel für einen solchen Clash könnte bei Mastodon die Kultur sein, relativ oft und weitreichend „Content Warnings“ zu verwenden (über Pronomen, Gender-Sternchen und ähnliches will ich gar nicht reden). Oder die abfälligen Bemerkungen über „Schmunzeltwitter“. Wie sieht’s mit Fleischkonsum aus – und wie vehement wird der bekämpft?
Um das deutlich zu sagen: mir geht es hier nicht darum, zum Beispiel Alltagsrassismen zu akzeptieren. Und mir geht es auch nicht darum, in vorauseilendem Gehorsam eine Plattform, ein soziales Engagement oder eine Politik an den imaginierten Werten und Vorstellungen einer „Mitte“ auszurichten. Vor allem deswegen nicht, weil diese oft viel weiter ist, als „wir“ uns das vorstellen. Die deutsche Normalität ist nicht mehr in den 1980er Jahren zu finden.
(Da ließe sich jetzt ein zweiter Exkurs zum Thema Mainstream anschließen: die Rechten jammern über die „links-grüne Hegemonie“. Aus linksgrüner Sicht ist es nicht weit her mit dieser. Trotzdem wird deutlich, dass die mediale Herstellung von Öffentlichkeit und das als „normal“ akzeptierte Werte- und Erfahrungsmuster etwas sind, das beweglich und fluide ist. Über Rauchverbote in Züge und Kneipen wurde erbittert gestritten. Heute sind sie normal. Möglicherweise sind autofreie Wohngebiete oder vegetarische Standardoptionen – Ikea macht’s vor – bald ebenso normal. Der Mainstream fließt zwar träge, aber er fließt, und er lässt sich verschieben und umleiten.)
Projekte und Mitte-Orientierung doch zusammendenken?
Ich bin damit eingestiegen, dass ich „Projekt“ und eine Orientierung an der „Mitte“ als zwei gegensätzliche Pole dargestellt habe. Das stimmt, und es stimmt nicht so ganz. Vielleicht ist es klüger, sich das als ein Kontinuum vorzustellen. Auf der einen Seite stehen sehr individualistische Projekte, die aus wenigen Personen bestehen. Vielleicht sogar sowas wie eine Beziehung, eine Familie. Hier ist sehr klar, wer dazugehört und wer nicht, und es gibt überhaupt keinen Anspruch, offen für alle zu sein.
Auf der anderen Seite stehen Organisationen und Systeme, die z.B. qua Grundgesetz für alle nutzbar sein müssen, und denen dementsprechend daran gelegen sein muss, so gestaltet zu sein, dass alle mitmachen können, egal, welches Milieu und welche Werte gelebt werden. Groß gedacht gehören Verwaltungen ganz klar auf diesen Pol, und auch Polizei und Feuerwehr (wobei diese beiden möglicherweise in Wirklichkeit eher in der Mitte des Kontinuums stehen …). Und kommerzielle Systeme, die den Wunsch haben, ihre Nutzer*innen-Zahl zu maximieren, landen ebenfalls auf dieser Seite des Kontinuums.
Alles andere liegt irgendwo dazwischen. Und sollte sich halt klar darüber sein, wo. Zu welchem Grad eine Offenheit für „alle“ da ist, und wo dann doch Grenzen gezogen werden. Welche kulturellen, technischen, praktischen Hürden und Grenzziehungen existieren, und welche davon zu Identitätsbildung verwendet werden.
Klar ist allerdings auch: je mehr sich etwas auf der Seite „Mitte-Orientierung“ (oder „niederschwellige Nutzbarkeit für alle“) verortet, desto wichtiger wird die Frage, wie Konflikte gelöst werden, wer auf was für einer Grundlage Entscheidungen trifft – und dass zum Selbstverständnis eben auch gehören muss, aufeinanderprallende unterschiedliche Welten auszuhalten und diskursiv damit umzugehen.
So ein bisschen passend dazu: eine qualitative Befragung auf Bluesky zu Gründen, warum Leute Mastodon wieder verlassen haben
Hier Nachricht aus der „feeling empty group“. Ich habe nach längerer Anfangsfrustration meinen monumentalen Vogelmann „Wirksamkeit des Wissens“ – Lektürethread (auf Xitter sind das inzwischen nach 8 Kapiteln ca. 50 Tweets seit August) auf Mastodon gepostet, das verhallt resonanzlos. Bestätigt für mich den Eindruck, da falsch zu sein.
Vermutlich folgen interessante Timelines auch einem Power-Law (vgl. László-Barabási). Soll heißen: die Interaktion mit einigen wenigen Leuten ist entscheidend – und wenn genau die fehlen, sieht es mau aus.
Kommt halt, wie immer, auch auf die Vernetzung an. Ich habe ein Nischenthema (alte Computer) auf Twitter seit 2009 bis letztes Jahr gepflegt, etwa 250 Follower gesammelt, rein organisch.
Seit 1 Jahr auf Mastodon, poste zu den selben Thema, 500 Follower, mit Interaktionen auf fast jeden Post hin. Top, would buy again, ^W^W^W^WMacht Spaß so.