Heute – na, eigentlich schon gestern – fand im Bundestag die „Zensursula“-Abstimmung statt, also die Abstimmung darüber, ob das Gesetz zur Bekämpfung der Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen angenommen wird. Die Abstimmung fiel mit einer fast einheitlichen Zustimmung der Koalitionsfraktionen erwartungsgemäß aus; auf Antrag der Grünen wurde namentlich abgestimmt, so dass im Detail dokumentiert ist, wer wie abgestimmt hat.
Dabei sind eine Reihe von Überraschungen zu verzeichnen. Positiv: eine Gegenstimme in der CDU, sie gehört Jochen Borchert, dem Vater der WAZ-Online-Chefin, Katharina Borchert. Positiv: drei Nein-Stimmen und drei Enthaltungen in der SPD, dreimal so viele wie ursprünglich erwartet. Na gut – bei sonstiger harter Fraktionseinheitlichkeit ist es vielleicht übertrieben, das positiv zu nennen.
Wie dem auch sei. Es gab auch negative Überraschungen. Und die leider nicht bei FDP oder LINKE, die beide einheitlich – in Fraktionsdisziplin – gegen das Gesetz gestimmt haben, sondern bei Bündnis 90/Die Grünen.
Keine Ja-Stimme, ganz so schlimm ist es nicht, aber doch 15 Enthaltungen, also ein knappes Drittel der grünen Bundestagsfraktion. Das hat in den Stunden nach der Abstimmung in der Netzcommunity ziemlich für Aufregung gesorgt – und aus meiner Sicht etwas zu unrecht die eigentlichen Themen beiseite geschoben (dazu: Thomas Knüwer kommentiert im Handelsblatt pointiert, wie hier „das Netz“ mediale Machtverhältnisse zuungunsten der „Experten“ der Volksparteien verschoben hat; und beim METRONAUT wird klar gemacht, dass trotz verlorener Abstimmung der Kampf um die Bürgerrechte im Netz jetzt erst richtig losgeht).
Trotzdem auch hier noch ein paar Worte zum grünen Abstimmungsergebnis. War es unerwartet? Ja, insofern in den letzten Tagen Grüne in der Öffentlichkeit, eben gerade auch im Kontrast zur SPD, immer als netzpolitisch zugängliche und vernünftigte Partei präsentiert worden sind. Das ist auf gruene.de der Fall, es war auf Twitter etc. der Fall, und es war auch in den etablierten Massenmedien so. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Antreten der PIRATENPARTEI bei den Europawahlen war eines der Argumente für potenzielle Piraten-WählerInnen, dass GRÜNE für eine verlässliche und vernünftige Netzpolitik stehen, und auch sonst keinen Unsinn betreiben (und ja, ich gebe zu: ich habe durchaus auch in diese Richtung argumentiert).
Ich zumindest hatte nicht mit einer geschlossenen Ablehnung gerechnet. Das hat etwas damit zu tun, dass Meinungsfreiheit auch in Hinsicht auf die einzelnen Abgeordneten bei Grünen etwas größer geschrieben wird als in anderen Fraktionen, es hat aber auch etwas damit zu tun, dass es ja durchaus im Vorfeld von einzelnen Abgeordneten eher schwierige Wortmeldungen gab. Ekin Deligöz – als kinderpolitische Sprecherin natürlich aus einer spezifischen Perspektive argumentieren – muss jetzt als Beispiel dafür dienen. Oder auch der Programmparteitag: dort wurde die Kritik an Internetsperren und dem untauglichen Umgang mit Kinderpornographie ins Wahlprogramm geschrieben. Die Debatte war aber durchaus uneinheitlich, auch Applaus gab es für beide Seiten. Mit 15 Enthaltungen hatte ich nicht gerechnet, mit ungefähr fünf aber schon.
Leider liegen die persönlichen Erklärungen der Abgeordneten noch nicht vor – da würde mich schon interessieren, wie das begründet wird.
Was bedeutet das jetzt? Insgesamt haben Grüne als Fraktion sich richtig verhalten. Dass das Bild weniger einheitlich ist, als in anderen Fraktionen, muss erst einmal hingenommen werden. In der Sache waren die Abstimmungsalternativen Nein/Enthaltung unwichtig – es war klar, dass die Mehrheit der Koalition stand. Ärgerlich ist die große Zahl an Enthaltungen trotzdem.
Meine Schlussfolgerung: Grüne sind sehr offen, was die Nutzung neuer Medien angeht – auch einige der Enthaltungsstimmen sind z.B. aktiv bei Facebook unterwegs, persönlich und nicht nur im Sinne eines Pressemitteilungsverteilers. Dazu zählt auch die Nutzung neuer Medien als Wahlkampfinstrument. Und prinzipiell und insgesamt würde ich auch weiterhin sagen, dass es eine große Offenheit für netzpolitische Forderungen gibt. Die Zahl derer, die sich damit aktiv auseinandersetzt, ist in der Partei allerdings relativ klein. Es sind absolut wie prozentual vielleicht mehr Köpfe als in der SPD, wo der Weggang – mal schauen, ob’s noch zum Parteiwechsel kommt – von Tauss schwarze Löcher reißt. Aber die große Mehrheit der Partei mag gerne im Netz kommunizieren, ist prinizipiell auch dafür, den jungen bzw. junggebliebenen Leuten hier ihre politische Spielwiese zu lassen, hat aber den Ernst der Lage noch nicht erkannt. Und nimmt sich im Zweifel die Freiheit, sich nicht in sein Abstimmungsverhalten reinreden zu lassen.
Es geht also darum, aus der netzaffinen Partei auch eine netzpolitisch kompetente Partei zu machen. Allerdings wäre es völlig falsch, darunter nur „Kommunikations“- oder Vermittlungsprobleme innerhalb der Partei zu verstehen. Vielmehr brauchen wir eine echte innerparteiliche Diskussion darüber, wie weit der grüne Einsatz für eine zukünftige Gesellschaft geht, in der informationelle Infrastrukturen mehr Einfluss auf Wertschöpfung und Produktivität haben als Autobahnen, um’s mal pathetisch zu formulieren. Es geht nicht (nur) um Aufklärung, sondern um Überzeugung – und möglicherweise bei dem einen oder anderen Punkt auch darum, innerparteiliche Einigungen zu finden, die nicht 100%ig dem „Netzkonsens“ entsprechen.
Parteien machen sowas nicht im Wahlkampf. Das Bundestagswahlprogramm steht, und es steht für netzpolitisch sinnvolle Ziele.
Wer möchte, dass Bündnis 90/Die Grünen beim nächsten Ernstfall besser abschneiden, muss dennoch jetzt die Weichen dafür stellen, dass in der im September neugewählten Fraktion ebenso wie in der Partei – vielleicht auch: mal wieder – ernsthaft inhaltlich über das Netz gestritten wird. Und muss das so organisieren, das dort nicht nur die üblichen Verdächtigen aus Netz- und Bürgerrechtspolitik auftauchen, und vielleicht noch die, die jetzt gerne schöne bunte Wahlkampfseiten haben wollen – sondern auch die „Mitte der Partei“, die sich „eigentlich“ nur für ganz andere Dinge interessiert: für Umweltpolitik, für Gleichberechtigung, für Bildung, für Kinderpolitik. Die müssen wir mitnehmen. Anders gesagt: organisationelles Lernen organisieren, statt sich von Piraten entern zu lassen!
Warum blocke ich das? Eigentlich wollte ich warten, bis klar war, warum die 15 so abgestimmt haben, wie sie abgestimmt haben; aber nachdem ich in den letzten Tagen doch ziemlich auf die SPD eingehauen habe, fand ich’s ein Gebot politischer Ehrlichkeit, jetzt auch hier zu sagen, was Sache ist. Aber nota bene: für Netzzensur hat kein einziger Grüner, keine einzige Grüne gestimmt, das waren andere! Und für sowas – kurz nach der Abstimmung kam die erste CDU-Ankündigung, über eine Ausweitung nachzudenken – erst recht nicht.
Update: (19.6.2009, mittags) Das vorläufige Plenarprotokoll (pdf) der gestrigen Sitzung (BT-Drucksache 16/16227) liegt inzwischen vor. Die Debatte um das Netzsperren-Gesetz ist dort ab S. 127 wiedergegeben – falls jemand nochmal wörtliche Zitate etc. sucht. Die persönlichen Erklärungen sind als Anlagen erwähnt, die aber dem vorläufigen Protokoll noch nicht beiliegen.
Update 2: Hier die persönliche Erklärung von Ekin Deligöz zu ihrem Abstimmungsverhalten.
Update 3: Sylvia Kotting-Uhl hat die persönliche Erklärung jetzt auch auf ihre Homepage gestellt; wenn ich das richtig sehe, ist diese wortgleich mit der von Ekin.
Wenn ich mir die 15 AbweichlerInnen nochmal anschaue, dann bleibt der Eindruck einer Mischung – die 15 würden sonst nicht unbedingt gemeinsam unter einem Antrag o.ä. stehen.
Interessant sind die Themenfelder: Ekin Delingöz ist kinder- und familienpolitische Sprecherin, Irmingard Schewe-Gerigk ist frauenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion. Cornelia Behm, Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell und Ulrike Höfgen sind ExpertInnen der Fraktion in verschiedenen umweltpolitischen Feldern. Thilo Hoppe ist Entwicklungsexperte und Vorsitzender dieses Ausschusses. Thea Dückert ist eine der parlamentarischen GeschäftsführerInnen und sitzt im Aussschuss für Wirtschaft und Technologie, der den Gesetzentwurf federführend betreut hat. Im klassischen Sortiermechanismus „Flügel“ reicht das Spektrum von ganz links (z.B. Kotting-Uhl, Schewe-Gerigk, Hoppe) bis ganz realoistisch (z.B. Christine Scheel, Katrin Göring-Eckardt). Was ich damit sagen will: hier wird mehr oder weniger das ganze Spektrum der Partei abgebildet.
Nicht bei den „EnthalterInnen“ dabei sind (glücklicherweise) die Fachleute für Innenpolitik und Bürgerrechte (z.B. Volker Beck, Wolfgang Wieland, Jerzey Montag, Hans-Christian Ströbele, Monika Lazar). Schade, dass deren Expertise hier nicht mehr Gewicht erhalten hat.
Update 4: Der Website von Priska Hinz ist zu entnehmen, dass die bisher bekannte persönliche Erklärung von ihr, von Ekin Deligöz, Christine Scheel, Katrin Göring-Eckardt, Kerstin Müller, Sylvia Kotting-Uhl, Thea Dückert, Cornelia Behm, Harald Terpe und Hans-Josef Fell unterstützt wird.
Bleiben also noch fünf (Marieluise Beck, Rainder Steenblock, Thilo Hoppe, Ulrike Höfken und Irmingard Schewe-Gerigk) die sich – soweit mir bisher bekannt – nicht zu den Gründen für ihr Abstimmungsergebnis geäußert haben.
Update 5: Musste ja so kommen ;-) – inzwischen gibt’s die Facebook-Gruppe Grüne Pirat_innen. Mit hoffentlich deutlich mehr Rückenwind als bei den Piraten in der SPD (das gleichnamige Blog wurde übrigens inzwischen gelöscht). Und zumindest schon mal mit ’nem Gender_Gap im Namen.
Update 6: (20.6.2009) Per Twitter wird vermeldet, dass das heute stattgefundene „Camp Netzbegrünung“ mehr netzpolitische Kompetenz – auch in der grüne Bundestagsfraktion einfordert. Was auch immer das konkret bedeutet.
Und nochmal zum Abstimmungsverhalten der grünen Fraktion – es war wohl erst kurz vor der Abstimmung klar, dass es eine große Zahl von Enthaltungen geben würde. Wie zu hören war, gab es keine Probeabstimmung, und auch die namentliche Abstimmung war in der Fraktion nicht abgesprochen. Einerseits schade, weil ein geschlosseneres und klareres Bild vielleicht besser gelungen wäre, wenn die Fraktionsführung früher die Brisanz der Sache wahrgenommen hätte, bzw. wenn die „EnthalterInnen“ früher Wort gegeben hätten. Anderseits liegt damit ein sonst in der Programmposition verdeckter Konflikt in der Partei in der Öffentlichkeit – das ist im Wahlkampf nicht toll, ist aber Voraussetzung dafür, dass der Konflikt jetzt angegangen wird.
In other news: die heutigen Mahnwachen waren wohl überwiegend gut besucht, auch von Grünen (dass es in Freiburg eine geben sollte, habe ich leider zu spät erfahren). Jörg Tauss hat, wie gestern bereits als Gerücht zu hören, heute seinen Übertritt zur Piratenpartei verkündet – da passt er hin, denke ich.
Update 7 (21.06.2009): Die politische Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke der Grünen stellt in ihrem Blog nochmal klar da, was die offizielle Parteilinie ist – und sagt auch deutlich, dass sie die 15 Abweichungen davon falsch findet. Im HR-Blog wird die persönliche Erklärung von Priska Hinz et al. verrissen. Und „Was war, was wird“ bei heise online zitiert diesen Blogeintrag, wenn auch nicht ganz vorteilhaft ;-) – „Mit 15 Enthaltungen zeigten die Grünen ihre bekannte Geschmeidigkeit der kohlkraftigen Interpretation, die schon immer die FDP für Besseresser auszeichnete.“
Update 8 (22.06.2009): „Claudia Roth ist mit dem grünen bundesvorstand einstimmig gegen internetsperrung.“ schreibt sie auf ihrer Facebook-Seite. Und auch die Grüne Jugend hat auf ihrem gestrigen Bundesausschuss einen entsprechenden Beschluss gefasst (noch nicht online). Schließlich noch der Hinweis auf die innergrüne Unterschriftensammlung mit Bitte an die Fraktion, das Thema ernst zu nehmen.
Update 9: Wer sowas mag, kann sich den grünen Bundesvorsitzenden Cem Özdemir zum Thema Ablehnung der Netzsperren auch im Bewegtbild anschauen.