You can’t have the pie and eat it, too

Introduction I
Timo­thy Simms
Reinhold Pix
Rein­hold Pix

Ges­tern war ja die Nomi­nie­rungs­ver­samm­lung für den Wahl­kreis Frei­burg-Ost für die Land­tags­wahl. Als Ko-Ver­samm­lungs­lei­ter muss­te ich ges­tern abend ja neu­tral sein (und den­ke, dass mir das auch eini­ger­ma­ßen gelun­gen ist). Als Kreis­vor­stands­mit­glied des KV Breis­gau-Hoch­schwarz­wald freue ich mich sehr, dass unser Abge­ord­ne­ter Rein­hold Pix wie­der nomi­niert wur­de. Trotz – oder viel­leicht auch wegen – all sei­ner Ecken und Kan­ten ist er genau der rich­ti­ge für den oft zitier­ten „länd­li­chen Raum“. Er hat uns im Schwarz­wald in der Tat Türen geöff­net, die vor­her ver­na­gelt und bar­ri­ka­diert waren. Er steht für ein boden­stän­di­ges, manch­mal etwas rup­pi­ges Grün jen­seits der Groß­städ­te. Und genau das brau­chen wir auch in der Landtagsfraktion.

Inso­fern bin froh, dass Rein­hold mit 42 Stim­men der 53 Wahl­be­rech­tig­ten wie­der nomi­niert wur­de. Wenn ich mich im Saal umge­schaut habe, habe ich vie­le Leu­te aus Gun­del­fin­gen, vor allem aber aus dem Dreis­amt­al und aus dem Hoch­schwarz­wald gese­hen. Ich den­ke, dass (fast) alle davon Rein­hold gewählt haben.

Eigent­lich also aller Grund, zufrie­den zu sein. Ganz zufrie­den bin ich nicht, und das hat damit zu tun, dass der Frei­bur­ger Gemein­de­rat Timo­thy Simms nur 11 Stim­men erhal­ten hat. Tim, den ich seit Jah­ren – u.a. aus dem Sozio­lo­gie­stu­di­um und der Hoch­schul­ar­beit – ken­ne und per­sön­lich sehr schät­ze, hat­te sich rela­tiv kurz­fris­tig für die Kan­di­da­tur bewor­ben. Er hat das mit einer sehr urba­nen Bewer­bung getan, mit einem Schwer­punkt auf weit ver­stan­de­ne Kul­tur­po­li­tik und – als Deutsch-Ame­ri­ka­ner – auf Migra­ti­on und Inte­gra­ti­on. Auch das sind The­men, die ich ger­ne in der Frak­ti­on ver­tre­ten gese­hen hät­te. Eben­so wie Rein­hold ist Tim ein unab­hän­gi­ger Geist; eben­falls ein Vorteil. 

Mein liebs­tes Ergeb­nis des Abends wäre also gewe­sen, dass bei­de nomi­niert wor­den wären. Das ist nun aber tat­säch­lich unmög­lich. Ich hät­te also mit bei­den mög­li­chen Ent­schei­dun­gen leben kön­nen – als Kreis­vor­stands­mit­glied des „länd­li­chen“ KVs dann doch mit einer Prä­fe­renz für Rein­hold. Inso­fern bin ich, wie gesagt, froh über das Ergebnis. 

Vor der Ver­samm­lung bin ich davon aus­ge­gan­gen, dass es knap­per wer­den wür­de. Ich bin auch des­we­gen davon aus­ge­gan­gen, weil die Nomie­rungs­ver­samm­lung vor fünf Jah­ren heiß umkämpft war. So unschön das klingt: eine Nomi­nie­rungs­ver­samm­lung ist nur zu gewin­nen, wenn der Kan­di­dat oder die Kan­di­da­tin vor­her par­tei­in­ter­nen „Wahl­kampf“ macht, wenn für die Per­son gewor­ben wird, wenn, kurz gesagt, Leu­te mobi­li­siert wer­den. Ich weiss, dass Rein­hold hier in den Tagen vor der Wahl­ver­samm­lung noch ein­mal gro­ße Anstren­gun­gen unter­nom­men hat, was sich letzt­lich auch aus­ge­zahlt hat. Um nicht falsch ver­stan­den zu wer­den: es geht hier nicht dar­um, Leu­te zu über­re­den, für den einen oder den ande­ren zu stim­men, sich Stim­men in irgend­ei­ner Form zu erkau­fen. Viel­mehr mei­ne ich damit, dass der Kan­di­dat bei den­je­ni­gen Wahl­be­rech­tig­ten, die von ihm und sei­ner Poli­tik über­zeugt sind, dafür wirbt, die Ver­samm­lung zu besu­chen und so die poten­zi­el­le in eine tat­säch­li­che Stim­me umzuwandeln.

Ich bin davon aus­ge­gan­gen, dass auch Tim in die­sem Sin­ne mobi­li­sie­ren wür­de. Er hat das – wohl bewusst – nicht gemacht, son­dern sich mit sei­ner Bewer­bung der Ver­samm­lung gestellt. Demo­kra­tie­theo­re­tisch ist das vor­bild­haft – fak­tisch hat Poli­tik doch zu viel mit Macht zu tun, als dass die Annah­me, dass die Mehr­zahl der Teil­neh­me­rIn­nen einer Nomi­nie­rungs­ver­samm­lung dort hin­fährt, ohne nicht vor­her schon zum einen oder zum ande­ren zu ten­die­ren. In einem rela­tiv wei­ten Rah­men ist es dann auch egal, wie die Reden aus­fal­len, wel­che Fra­gen gestellt und wel­che Unter­stüt­zungs­state­ments geäu­ßert wer­den. Viel­leicht las­sen sich damit die Mit­glie­der, die ein­fach als Wahl­be­rech­tig­te gekom­men sind, ohne sich vor­her fest­ge­legt zu haben, in die eine oder in die ande­re Rich­tung bewe­gen. Wah­len und Abstim­mun­gen auf Par­tei­ta­gen schei­nen mir aber nur dann zu gewin­nen zu sein, wenn im Vor­feld, schon vor der eigent­li­chen Ver­hand­lung, vie­le von einer Sache oder einer Per­son über­zeugt wor­den sind, sich ihre Mei­nung also schon gebil­det haben – und dann auch teilnehmen. 

In die­ser Per­spek­ti­ve wird eine Nomi­nie­rungs­ver­samm­lung dann zu einem Ort, an dem es weni­ger dar­um geht, wer am Abend bes­ser auf­tritt, span­nen­der spricht, die wich­ti­ge­ren The­men ver­tritt – son­dern zu einem Ort, an dem sich ent­schei­det, wem es vor­her bes­ser gelun­gen ist, in der Par­tei für sich zu wer­ben. Und natür­lich – das hat­te Tim in sei­ner Bewer­bungs­re­de ange­spro­chen – sind die Vor­aus­set­zun­gen dafür nicht gleich. Gera­de in der Situa­ti­on, dass ein neu­er Kan­di­dat oder eine neue Kan­di­dat gegen den oder die amtierende(n) Abgeordnete(n) antritt, scheint es ohne mas­si­ve Wer­bung im Vor­feld nicht klap­pen zu können.

Es lie­ße sich jetzt noch viel dazu sagen, wie unde­mo­kra­tisch es ist, das letzt­lich die – mehr oder weni­ger zufäl­li­ge – Zusam­men­set­zung der Wahl­ver­samm­lun­gen in den aus­sichts­rei­chen Krei­sen dar­über ent­schei­det, wer mit einer hohen Wahr­schein­lich­keit in den Land­tag gewählt wird; dass Macht zu einer geo­ma­the­ma­ti­schen Ange­le­gen­heit wird. Solan­ge wir in Baden-Würt­tem­berg kein Lis­ten­wahl­recht haben, ist die Situa­ti­on aber so. Und natür­lich ist es eine Illu­si­on, zu glau­ben, dass ein Lan­des­par­tei­tag, der eine Lis­te auf­stellt, nach kom­plett ande­ren Regeln abläuft. Auch dort sind es – neben allen ande­ren Fak­to­ren – eben auch die vor­her mobi­li­sier­ten Netz­wer­ke und Grup­pen, die mit dar­über ent­schei­den, wie aus­sichts­reich eine Kan­di­da­tur ist.

Trotz­dem hät­te die Lis­ten­wahl den Vor­teil, dass die räum­li­che Begren­zung weni­ger strikt aus­fällt. Natür­lich könn­te Tim – als über­zeug­ter Frei­bur­ger ist das aber sehr unwahr­schein­lich – es noch in einem ande­ren Wahl­kreis ver­su­chen, etwa in Tübin­gen oder in Stutt­gart. Aber dass dort jemand „von außer­halb“ nomi­niert wird, ohne dass es dafür sehr gute Grün­de gibt, kommt kaum vor – schon allei­ne des­halb, weil die Fra­ge, wie groß das poten­zi­ell mobi­li­sier­ba­re Netz­werk inner­halb der loka­len Par­tei ist, eben eine ent­schei­den­de Bedeu­tung hat. Die­se loka­le Begren­zung wür­de also bei einer Lis­ten­wahl auf­ge­weicht (durch das Dele­gier­ten­prin­zip und den Wunsch, die eige­ne Regi­on auch im Par­la­ment ver­tre­ten zu sehen, gibt es de fac­to auch bei der Auf­stel­lung von Lis­ten gewis­se „Pro­por­ze“). Dann könn­te ich mei­nen Kuchen haben und ihn essen. 

So muss ich dabei blei­ben, gleich­zei­tig zufrie­den und unzu­frie­den mit dem Wahl­er­geb­nis zu sein. 

Was mir der Abend aber auch noch­mal gezeigt hat: es ist sehr leicht, und der Zuschnitt des Wahl­krei­ses ver­lei­tet gera­de­zu dazu, Stadt und Land als Bina­ri­tät zu kon­stru­ie­ren; fest­ge­macht an der Zuge­hö­ri­ge­kit zum einen oder zum ande­ren Kreis­ver­band, und dann schnell – ich habe es am Anfang die­ses Tex­tes ja auch getan – pola­ri­sier­bar auf „Land­the­men“ und „Stadt­the­men“. Es ist sehr leicht mög­lich, so zu tun, als wären das sich aus­schlie­ßen­de Gegen­sät­ze; mei­ner Beob­ach­tung nach haben bei­de Kan­di­da­ten sich auch genau so posi­tio­niert. Rein­hold als Agrar- und Tou­ris­mus­po­li­ti­ker, für den selbst Ver­brau­cher­schutz im Boden ver­an­kert ist – und Tim als Groß­stadt­kul­tur­po­li­ti­ker, für den der länd­li­che Raum nur Aus­flugs­ku­lis­se ist. 

Auch des­we­gen bin ich mit dem Ver­lauf der Nomi­nie­rungs­ver­samm­lung nicht ganz zufrie­den: den ich bin fest davon über­zeugt, dass es gera­de wir Grü­ne sind, denen es gelin­gen kann, die­sen schein­ba­ren Gegen­satz zu über­win­den. Kul­tur fin­det auch außer­halb der Stadt­gren­zen statt, und Agrar- und Ver­brau­cher­po­li­tik spielt sich auch im städ­ti­schen Super­markt ab. Dazu kommt die rea­le Unschär­fe der schö­nen Pola­ri­tät. Wer mit der Höl­len­tal­bahn vom Frei­bur­ger Haupt­bahn­hof bis in den Schwarz­wald hoch­fährt, fährt durch ein Kon­ti­nu­um aus Innen­stadt, Grün­der­zeit­stadt­vier­tel, sub­ur­ba­ner Vor­stadt, sub­ur­ba­ner Gemein­de, länd­li­cher Gemein­de. Die Gren­zen sind längst nicht so fest gezurrt, wie man­che das ger­ne hätten.*

Da liegt viel­leicht auch ein The­ma, mit dem ich mich in Zukunft stär­ker beschäf­ti­gen könn­te – nicht nur mit dem poli­ti­schen Hin­ter­grund als Vor­stands­mit­glied des „länd­li­chen“ Kreis­ver­ban­des Breis­gau-Hoch­schwarz­wald, der „urban“ geprägt und in der Stadt Frei­burg wohnt, son­dern auch mit dem, was mir in mei­ner beruf­li­chen Beschäf­ti­gung mit Agrar­so­zio­lo­gie und Forst­po­li­tik so unter die Fin­ger gekom­men ist. Ich wer­de dar­über nachdenken!

War­um blog­ge ich das? Ich bin mir gar nicht so sicher, ob es legi­tim ist, der­ar­ti­ge Gedan­ken – die ja auch ein biß­chen dem Hei­le-Welt-Bild inner­par­tei­li­cher Mit­be­stim­mung wider­spre­chen – öffent­lich zu machen. Trotz­dem sehe ich es als Auf­ga­be an, über die Gren­zen hin­aus zu den­ken, statt sie zu ver­fes­ti­gen. Und das Nach­den­ken über die gest­ri­ge Nomi­nie­rungs­ver­samm­lung mit ihrem für mich nicht ganz ein­fa­chen Ergeb­nis ist dazu ein Anlass.

* Neben­bei gesagt: auch unter dem Aspekt inter­es­sant, dass die Abgren­zung Stadt/Landkreis ein kla­res sozia­les Kon­strukt mit vie­len Kon­tin­gen­zen ist – zum Bei­spiel gehö­ren zur Stadt Frei­burg auch eini­ge rich­tig länd­li­che Gemein­den am Tuni­berg – die viel damit zu tun hat, wel­cher Gemein­de in den 1960er und 1970er Jah­ren ein Hal­len­bad ver­spro­chen wer­den konn­te und wo ein Bür­ger­haus gebaut wur­de. Die natu­ra­le „Bio­re­gi­on“ zieht dage­gen ganz ande­re Gren­zen, die ihre eige­ne Wirk­mäch­tig­keit haben.

Windup Girl und Peak oil, oder: Nach der Globalisierung

Red tomatoes I

Ein inter­es­san­ter Aspekt von Pao­lo Baci­g­alu­pis neu­em Sci­ence-Fic­tion-Werk „The Win­dup Girl“ – übri­gens zurecht als zeit­ge­nös­si­sches Gegen­stück zu Wil­liam Gib­sons Neu­ro­man­cer-Tri­lo­gie gehan­delt und in einem Atem­zug mit Ian McDo­nald genannt – ist die Tat­sa­che, dass Baci­g­alu­pi sei­ne Erzäh­lung in einer Zukunft statt­fin­den lässt, die nach der Glo­ba­li­sie­rung ange­sie­delt ist. Für „The Win­dup Girl“ ist das mehr oder weni­ger nur der sze­ni­sche Hin­ter­grund einer Geschich­te, in der sich die fins­te­ren Pro­phe­zei­un­gen unkon­trol­lier­ba­rer Gen­ma­ni­pu­la­ti­on, agro­in­dus­tri­el­ler Nah­rungs­mit­tel­mo­no­po­le und der Kli­ma­ka­ta­stro­phe erfüllt haben. Trotz­dem möch­te ich „The Win­dup Girl“ zum Anlass neh­men, die­se Zukunft in den Blick zu nehmen.
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Zehn Sätze zum Hamburger Volksentscheid über die Schulreform

Ham­burg hat gewählt, und sich in allen Bezir­ken (pdf) gegen die Schul­re­form aus­ge­spro­chen; ins­ge­samt mit 58% „JA“ für den Volks­ent­scheid. Wobei: dass der Volks­ent­scheid die Schul­re­form kom­plett gekippt hat, ist natür­lich falsch – wie bei SpOn fest­ge­stellt wird, ging es nur um einen Teil der Schul­re­form, näm­lich um das län­ge­re gemein­sa­me Ler­nen. Mit Julia See­li­ger und Andrea Lind­l­ohr bin ich mir einig, dass das auch damit zu tun hat, dass die län­ge­re gemein­sa­me Schul­zeit „von oben“ ein­ge­führt wer­den soll­te. Inso­fern hof­fe ich, dass es in Nord­rhein-West­fa­len oder viel­leicht dem­nächst in Baden-Würt­tem­berg anders verläuft.

Unab­hän­gig davon sind drei Punk­te am Aus­gang des Volks­ent­scheids bemerkenswert. 

Ers­tens: die Wahl­be­tei­li­gung war stark abhän­gig vom sozia­len Sta­tus; gera­de bei die­sem The­ma natür­lich fatal. 

Zwei­tens: Volks­ent­schei­de schei­nen mir ein gutes Ver­hin­de­rungs­in­stru­ment zu sein, aber kein gutes Instru­ment, um gesell­schaft­lich etwas vor­an­zu­brin­gen – also die Fra­ge danach, wo die Gren­zen direk­ter Demo­kra­tie liegen. 

Und drit­tens: Was bedeu­tet so eine 60–40-Entscheidung (mal unab­hän­gig von der Wahl­be­tei­li­gung, wenn die mit hin­ein gerech­net wird, war’s viel­leicht eher eine 50–50-Entscheidung …) eigent­lich poli­tisch? Ich kenn das ja von Par­tei­ta­gen (und zwar bei­de Sei­ten); auch da kom­men in der Par­tei umstrit­te­ne Posi­tio­nen ger­ne mal in 60–40-Entscheidungen (oder noch knap­per) durch, was aber letzt­lich immer auch bedeu­tet, dass knapp die Hälf­te der Abstim­men­den bzw. Wäh­le­rIn­nen die letzt­lich zum Zuge kom­men­de Poli­tik falsch fin­det und in die­ser Ableh­nung über­gan­gen wird. Anders gesagt: ist das Mehr­heits­prin­zip in einer stark frag­men­tier­ten Gesell­schaft eigent­lich noch zeitgemäß?

Homöopathie und die Deutsche Bahn im Sommerloch

Vor­ne­weg: Die­se Woche gibt es unge­fähr drei Din­ge, die eine Dead­line haben; des­we­gen kann ich das fol­gen­de Argu­ment nicht wirk­lich aus­führ­lich dar­le­gen. Trotz­dem kann ich sowohl das Pro­blem der Bahn mit ihren ICEs als auch die anschwel­len­de Homöo­pa­thie­de­bat­te nicht ganz außen vor las­sen – das juckt doch in den Fin­gern … und ist deut­lich län­ger gewor­den als geplant. 

Powerful buttons

Zur Bahn-Debat­te: Ich fah­re gern und viel Bahn, trotz­dem oder gera­de des­we­gen fin­de ich das Kri­sen­ma­nage­ment der Bahn bedenk­lich. Letzt­lich geht’s um die Fra­ge, wie­viel tech­ni­sche Red­un­danz – ein gro­ßes Sicher­heits­merk­mal der Eisen­bahn – weg­op­ti­miert wer­den kann, um betriebs­wirt­schaft­lich erfolg­reich zu sein. Darf ein für ein geschlos­se­nes Sys­tem im Extrem­fall lebens­not­wen­di­ges Teil wie eine Kli­ma­an­la­ge so gestal­tet sein, dass sie aus­fal­len kann? Oder muss ein Aus­fall­ri­si­ko hin­ge­nom­men wer­den – und was ist dann jen­seits der Tech­nik zu tun (War­tungs­in­ter­val­le, ein Wagen­park, der groß genug ist, um Ersatz­zü­ge bereit­zu­stel­len …)? Wie das gan­ze poli­tisch ein­zu­schät­zen ist, ver­rät Win­ne Her­mann MdB in einem Inter­view mit tagesschau.de.

Etwas all­ge­mei­ner: wie muss ein gro­ßes tech­ni­sches Sys­tem, eine Infra­struk­tur, gestal­tet und regu­liert sein, um auch bei Win­ter­wet­ter und Hoch­som­mer­hit­ze zu funktionieren?

Zum The­ma Homöo­pa­thie: Unter gro­ßem Bei­fall der Natur­wis­sen­schafts­com­mu­ni­ty brin­gen SPD und cDU die Idee ins Spiel, Homöo­pa­thie aus dem Leis­tungs­ka­ta­log der Kran­ken­kas­sen zu strei­chen. Rena­te Kün­ast macht die Sache nicht bes­ser, indem sie Homöo­pa­thie und Natur­heil­kun­de gleich­setzt. Auf Twit­ter hau­en sich die Leu­te kräf­tig die Köp­fe ein – Fak­ten fin­de ich nur weni­ge. (Ja, es gibt hun­der­te Stu­di­en, dass Homöo­pa­thie nicht funk­tio­niert, und es gibt viel­fäl­ti­ge Argu­men­ta­ti­ons­li­ni­en von Leu­ten, die trotz­dem möch­ten, dass die Kran­ken­kas­sen Homöo­pa­thie bezah­len*). Aber das mei­ne ich nicht. Viel­mehr ist die eigent­li­che Fra­ge doch ers­tens, wie groß das Ein­spar­po­ten­zi­al eigent­lich ist, über das hier gere­det wird – es hat ja sei­nen Grund, war­um die­se Debat­te gera­de im begin­nen­den Som­mer­loch auf­bricht. Rich­tig hand­fes­te Zah­len sind schwer zu fin­den, es scheint sich aber um unge­fähr 1 bis 5% des Kran­ken­kas­sen­bud­gets zu handeln.

Und zwei­tens geht es für mich auch um die Beob­ach­tung, dass hier unter­schied­li­che Logi­ken auf­ein­an­der pral­len. Die eine Sei­te sieht sich im Besitz der wis­sen­schaft­li­chen Wahr­heit, das heißt sie ope­riert im Bezugs­sys­tem Wis­sen­schaft mit der Unter­schei­dung wahr/falsch, um den guten alten Luh­mann her­aus­zu­ho­len. In die­ser Logik ist „klar“, dass Homöo­pa­thie falsch ist, und des­we­gen kein ratio­nal den­ken­der Mensch auf die Idee kom­men könn­te, dafür öffent­li­che Leis­tun­gen ein­zu­for­dern. Die­se Posi­ti­on wird ganz gut vom heu­ti­gen xkcd-Comic illustriert:


Quel­le: xkcd, Lizenz

Poli­tik ope­riert nicht im Phi­lo­so­phen­kö­nig-Modus wahr/falsch, son­dern im Medi­um Macht. Und auch die öffent­li­che Mei­nung (das Sys­tem der Mas­sen­me­di­en) hat ande­re Leit­dif­fe­ren­zen. Von der Wirt­schaft – und den Kran­ken­kas­sen als Orga­ni­sa­ti­ons­sys­te­men – gar nicht erst zu spre­chen (Zahlung/keine Zah­lung). Inso­fern fin­de ich es über­haupt nicht ver­wun­der­lich, dass die natur­wis­sen­schaft­li­che Logik eben nicht 1:1 in Poli­tik umge­setzt wird. ((Wer sich umschaut, wird eine gan­ze Rei­he von Bele­gen dafür fin­den, dass auch vie­le ande­re poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen irra­tio­nal sind.))

Oder noch ein­mal anders ange­setzt, und Luh­mann bei­sei­te gelas­sen: wir kön­nen auch unter­schei­den zwi­schen dem wis­sen­schaft­li­chen Wis­sen, in dem es Mög­lich­kei­ten gibt, die Wirk­sam­keit von Homöo­pa­thie zu tes­ten, dem „eso­te­ri­schen“ Wis­sen der Homöo­pathIn­nen selbst – und dem All­tags­wis­sen der Men­schen, die davon über­zeugt sind, dass Homöo­pa­thie ihnen hilft (war­um auch immer sie davon über­zeugt sind: auch das All­tags­wis­sen von Men­schen folgt eben nicht der wis­sen­schaft­li­chen wahr/­falsch-Logik, son­dern lässt sich zunächst ein­mal ein­fach nur so beschrei­ben, wie es eben ist bzw. wie es sich eben beob­ach­ten lässt). 

Inso­fern Poli­tik auf Wah­len rekur­riert, ist das die popu­lis­ti­sche Fra­ge danach, ob ein Ver­bot von Homöo­pa­thie als (Zusatz-)Kassenleistung anschluss­fä­hig an das All­tags­wis­sen ist. Ich ver­mu­te: eher nein. Es ist daher auch die Fra­ge nach dem Pro­jekt der Auf­klä­rung: wie wis­sen­schaft­li­che Ratio­na­li­tät ins All­tags­wis­sen brin­gen. Und es ist nicht zuletzt die Fra­ge danach, wie­so die­se Debat­te gera­de jetzt eini­gen Poli­ti­ke­rIn­nen als hin­rei­chend anschluß­fä­hig erscheint, um sie in Gang zu brin­gen. (Und wie­so gera­de die­se, und kei­ne der ande­ren vie­len mög­li­chen Debat­ten um Unzu­läng­lich­kei­ten des Gesundheitssystems).

Aber ich schwei­fe ab: Was hat nun das groß­tech­ni­sche Sys­tem Bahn und die sozio­tech­ni­schen Pro­ble­me, die eine Aus­rich­tung an öko­no­mi­scher Logik mit sich brin­gen, mit der Homöo­pa­thie-Debat­te zu tun? Ich sehe eine Gemein­sam­keit, und die liegt letzt­lich in den Lücken. Mit der Fra­ge nach der sozio­tech­ni­schen Red­un­danz ist das für die Bahn schon ange­spro­chen: wie groß sind die Spiel­räu­me, um auf Feh­ler reagie­ren zu kön­nen? Gibt es Ersatz­sys­te­me? Gibt es Ersatz­zü­ge? Sehen die Fahr­plä­ne so aus, dass auch ein anhal­ten­der Zug nicht gleich alles durch­ein­an­der bringt? Je fes­ter gekop­pelt das Sys­tem ist, um das mal so zu sagen, des­to wahr­schein­li­cher ist die Gefahr eines Aus­falls, wenn etwas ausfällt.

Auch unse­re Kran­ken­kas­sen sind eine Infra­struk­tur, ein gro­ßes (sozio-)technisches Sys­tem. Noch dazu eines, das extrem schwer­fäl­lig zu steu­ern und zu ver­än­dern ist. Auch hier kann über die Neben­ef­fek­te betriebs­wirt­schaft­li­cher Effi­zi­enz dis­ku­tiert wer­den (u.a. im Bereich Pfle­ge, aber auch im Hin­blick auf die For­ma­li­sie­rung von Hand­lun­gen durch infor­ma­ti­ons­tech­ni­sche Abrech­nungs­sys­te­me – und deren Kon­se­quen­zen). Aber die eigent­li­che Gemein­sam­keit in den Lücken, die ich sehe, ist eine ande­re: Wie weit darf sich das Sys­tem von Ide­al­pa­ra­me­tern (Wet­ter ohne Extrem­ereig­nis­se, Bezah­lung nur des neu­es­ten Stan­des der Wis­sen­schaft) ent­fer­nen, um noch zu funk­tio­nie­ren? Wie­viel Spiel­raum für „Quatsch“ ist not­wen­dig, um ein weit­ge­hend rei­bungs­lo­ses Funk­tio­nie­ren des Gesamt­sys­tems zu ermög­li­chen? Wie­viel Res­sour­cen dür­fen „ver­schwen­det“ wer­den (in Red­un­dan­zen, in wohl wir­kungs­lo­se Therapien)?

Die wis­sen­schaft­lich-wah­re Ant­wort der Öko­no­mie lau­tet ver­mut­lich: kei­ne. Aber ein Just-in-time-Sys­tem ist stör­an­fäl­lig. Inso­fern kann ich mir vor­stel­len, dass das Gesund­heits­sys­tem sei­ne Leis­tung bes­ser erbringt, wenn ein gewis­ses Maß – 5%, 10% – an Spiel­raum, an Red­un­dan­tem, gar an Aber­glau­ben vor­han­den ist. Da passt Homöo­pa­thie rein, da passt auch nicht­ab­rech­nungs­fä­hi­ge Gesprächs­zeit rein. 

Natür­lich hilft einem die Öff­nung von Spiel­räu­men nicht bei poli­ti­schen Grund­satz­fra­gen wei­ter. Es ist gut mög­lich, dass Homöo­pa­thie wis­sen­schaft­lich weit­ge­hend wider­leg­bar ist, oder dass der eigent­li­che Wirk­me­cha­nis­mus bei denen, die glau­ben, dass das funk­tio­niert, das Gespräch mit den Ärz­tIn­nen und letzt­lich die Über­zeu­gung sind, dass es wirkt.

Inso­fern ende ich mit einem etwas para­do­xen Plä­doy­er: Dafür, einer­seits einen gewis­sen Spiel­raum für (schein­ba­ren?) Unsinn, für Feh­ler zuzu­las­sen, ande­rer­seits die­sen aber auch zu begren­zen. Spiel­raum für Feh­ler bei der groß­tech­ni­schen Infra­stru­kur Bahn heißt: den Fahr­plan nicht gleich durch­ein­an­der brin­gen, wenn tech­ni­sche Kom­po­nen­ten aus­fal­len. Also (mög­li­cher­wei­se mit prä­zi­ser Tech­nik unter­stütz­te) Feh­ler­to­le­ranz statt Abhän­gig­keit von der Prä­zi­si­on. Aber in Maßen: die Attrak­ti­vi­tät des Ver­kehrs­sys­tems Bahn hängt ja auch davon ab, dass die­se pünkt­lich ist, dass die­se stan­dar­di­siert und „prä­zi­se“ genutzt weren kann.

Spiel­raum für Feh­ler beim Gesund­heits­sys­tem heißt: sich damit abfin­den, dass medi­zi­ni­sche Prak­ti­ken nicht durch­gän­gig wis­sen­schaft­lich sind (auch in der All­o­pa­thie gibt es da ver­mut­lich bei genau­em Hin­se­hen viel an nicht­wis­sen­schaft­li­chem Wis­sen in der Wis­sen­schaft). Ein opti­mier­tes und finan­zi­ell trag­fä­hi­ges Sys­tem schaf­fen, aber nicht um den Preis, jeg­li­che lose Kopp­lung aus­zu­mer­zen und jeg­li­che Pra­xis zu stan­dar­di­sie­ren. Und auch hier: die Begren­zung der Feh­ler­to­le­ranz im Sin­ne einer poli­ti­schen Regu­lie­rung der Gren­zen (aber eben bit­te nicht zu eng). 

Das wäre jeden­falls, so mei­ne ich zumin­dest, ein sozio­lo­gisch-wah­res Wis­sen über gesell­schaft­li­che Sys­te­me und deren Gestal­tung. Um das para­do­xe Plä­doy­er abzu­schlie­ßen: es geht dar­um, die­ses Wis­sen eben auch zur Kennt­nis zu neh­men, es anzu­wen­den, sich bewusst zu sein, dass es auch bei der Anwen­dung sozio­lo­gi­schen Wis­sens Neben­ef­fek­te gibt – und trotz­dem wei­ter­hin für Auf­klä­rung zu kämp­fen (aber eben nicht über die Köp­fe der Leu­te hinweg).

War­um blog­ge ich das? Weil ich ver­su­chen woll­te, mein Unbe­ha­gen an der und mei­ne ambi­va­len­te Posi­ti­on in der Homöo­pa­thie-Debat­te irgend­wie auf den Punkt zu brin­gen. Wer möch­te, darf’s aber auch als schlich­ten Ver­such lesen, die Exis­tenz eso­te­ri­scher Wis­sens­be­stän­de im grü­nen Pro­gramm zu rationalisieren.

* Die Homöo­pa­thie-Debat­te hat auch einen inner­grü­nen Aspekt – dazu habe ich vor einem Jahr was gebloggt; inter­es­sant ist vor allem die Debat­te in den Kommentaren.

P.S.: Wer sich eher für Infra­struk­tu­ren als sozio­tech­ni­sche Netzwerke/Systeme denn für die Homöo­pa­thie-Debat­te inter­es­siert, soll­te bei ihld weiterlesen.