Aus verschiedenen Gründen – unter anderem dem Wunsch nach Vollständigkeit – bin ich im Juni nicht dazu gekommen, etwas zu meiner SF-Lektüre zu schreiben. Dafür wird es heute im Rückblick auf Juni und Juli etwas länger.
Ich fange mal mit zwei Büchern an, die ich vor allem deswegen gelesen habe, weil sie auf der Shortlist für den Hugo („best novel“) stehen. Da ich mich dann doch entschieden habe, die Chance einer Worldcon in Europa zu nutzen und nächste Woche nach Glasgow zu fahren, durfte ich diesmal mit abstimmen – und die anderen vier Romane in der Kategorie „best novel“ kannte ich schon.
Das ist zum einen Martha Wells Witch King (2023), der erste Roman einer neuen Fantasy-Serie. Wells kannte ich bisher vor allem als Autorin der Muderbot-Diaries, ihre vorherigen Fantasy-Romane habe ich glaube ich nicht gelesen. Im Witch King geht es auf zwei miteinander verschränkten Zeitebenen zum einen um eine Revolution gegen ein angriffslustiges Imperium, zum anderen, in der Gegenwart des Romans, um die Frage, wer die beiden Hauptpersonen lebendig begraben hat, und welche Intrigen und politischen Verwicklungen dahinter stecken. Die beiden Hauptpersonen sind zum einen der namensgebende Witch King, ein Dämonenprinz namens Kai, der verschiedene menschliche Körper benutzt, und zum anderen Ziede, eine Hexe, die Windgeister beschwören kann. Neben Dämon*innen und Hexer*innen gibt es in Wells Rising-World-Szenario „normale“ Sterbliche, aber auch ein Volk von Unsterblichen und das bereits genannte Imperium der Hierarchie, über das – bis auf deren blutrünstiges und gewaltsames Vorgehen – wenig bekannt ist. Das eine oder andere Magie-Element funktioniert anders als erwartet (positiv, weil eine Abwechslung), und wie doch sehr unterschiedliche Charaktere zusammenkommen, wird von Wells ebenso gut beschrieben wie die zerstörten Städte und Landschaften, in denen die Geschichte spielt. Besonders gefallen hat mir die alles andere als einfache Innensicht des Erzählers: der Dämonenprinz kämpft mit Zweifeln, Unsicherheiten und Überforderung. (Darin erinnert Witch King trotz komplett anderem Setting an die Murderbot-Reihe).
Ebenfalls gut gefallen hat mir der zweite mir bisher unbekannte Roman auf der Hugo-Shortlist, The Adventures of Amina al-Sirafi von Shannon Chakraborty (2023). Das Buch ist die Ich-Erzählung einer legendären Piratenkapitänin, die einem Schreiber von ihren Abenteuern – und der Geschichte hinter der Geschichte – berichtet. Nach und nach kommt die eine oder andere Verstrickung zu Tage, und was anfangs nach Piratenabenteuer in einem interessanten Setting aussieht, wird zunehmend zu Fantasy mit Djinns, Dämonen und Seeungeheuern, wobei die Grenze zwischen magischer Welt und Alltag dünner ist als heute. Stichwort: interessantes Setting – der Roman spielt rund um den Indischen Ozean, im islamischen Mittelalter. Die Hauptperson ist mehr oder weniger strenggläubige Muslimin, andere Charaktere bringen ihre eigenen Religionen mit dazu. Europa und die Kreuzzüge kommen am Rande vor – als über diese islamische Welt hineinbrechende Katastrophe, zu deren Hinterlassenschaften auch der Hauptantagonist gehört, ein mit Zauberkünsten experimentierender fränkischer Söldner. Und ganz nebenbei ist Amina al-Sirafi auch alleinerziehende Mutter eines kleinen Mädchens, werden Geschlechtsidentitäten und unterschiedliche Formen des Begehrens und der Aufbegehrens abgehandelt, ohne jedoch davon abzulenken, dass wir es mit knalligen und vielfarbigen Abenteuern in einer von hier aus gesehen fremden Vergangenheit zu tun haben.
Der Vollständigkeit halber mein Ranking für den Hugo, Best Novel:
- 1. Some Desperate Glory by Emily Tesh (Tordotcom, Orbit UK)
- 2. The Saint of Bright Doors by Vajra Chandrasekera (Tordotcom)
- 3. The Adventures of Amina al-Sirafi by Shannon Chakraborty (Harper Voyager, Harper Voyager UK)
- 4. Translation State by Ann Leckie (Orbit US, Orbit UK)
- 5. Starter Villain by John Scalzi (Tor, Tor UK)
- 6. Witch King by Martha Wells (Tordotcom)
Bei den letzten drei habe ich mich schwer getan, die sind zwar sehr unterschiedlich, ich fand sie aber alle ähnlich gut – Platz 1 war für mich recht klar, und die beiden von mir auf Platz 2 und 3 gelegten Bücher haben wiederum gewisse Ähnlichkeiten. Mal schauen, wie das dann im Gesamtergebnis – mit ranked voting – aussieht.
Dann zu dem, was ich sonst noch gelesen habe. Da wäre zunächst The Ministry of Time von Kaliane Bradley (2024), eine interessante Variante des Zeitreisen-Motivs. Die Hauptperson arbeitet als „Bridge“ für ein geheimes britisches Ministerium. Ihre Aufgabe ist es, eine aus der Vergangenheit geraubten Person zu betreuen und diese an die Gegenwart heranzuführen. Diese Personen werden kurz vor ihrem historischen Tod in die Gegenwart entführt. Hier aus der Mitte der 19. Jahrhunderts Commander Graham Gore, der in unserer Wirklichkeit auf einer Arktisexpedition verschollen ist. Einen Reiz des Buchs macht – zumindest in der ersten Hälfte – die Situationskomik aus, die aus der Zwangs-WG entsteht, in der die junge weibliche „Bridge“ mit kambodschanischen Wurzeln mit dem knorrigen viktorianischen Seefahrer zusammenlebt, und diesen an das Großbritannien einer nahen Zukunft heranführt. Die Herkunftszeiten der kleinen Gruppe der aus der Zeit geraubten reichen vom Mittelalter bis in den zweiten Weltkrieg, und weil Außenkontakte weitgehend verboten sind, entspannend sich in dieser Gruppe aus unfreiwilligen Zeitreisenden und deren Bridges Beziehungen und Konflikte. Im zweiten Teil kippt dann ein Teil der vorher aufgebauten Voraussetzungen – auch das Ministerium für Zeitreisen ist nicht das, was es scheint. Mehr sei hier nicht verraten, es bleibt turbulent und spannend. Durchaus empfehlenswert.
Dann habe ich noch ein kurzes Buch gelesen, The Left Hand of Dog von Si Clarke (2021). Die Hauptperson und ihr Hund wachen nach einer Übernachtung im Nationalpark als Gefangene auf einem Raumschiff auf, lernen allerhand bunte Außerirdische kennen und finden schließlich ein neues Zuhause. Hier bin ich in der Bewertung hin- und hergerissen. Einerseits gut geschrieben, schnell und zum Wohlfühlen gelesen, mit viel SF-Fan-Service und durchaus dem einen oder anderen Douglas-Adams-Moment, andererseits will das Buch unbedingt auch etwas zur sozialen Konstruiertheit von Geschlecht sagen – und das tritt mir dann an der einen oder anderen Stelle trotz Zustimmung zu dieser Haltung zu sehr in den Vordergrund, und hat mich jetzt erst einmal davon abgehalten, die Folgebände zu bestellen (und herauszukriegen, ob Lem und das pferdeartige Wesen Bexley zusammenkommen oder nicht).
Die meiste Lesezeit in diesen beiden Sommermonaten habe ich mit Gregory Benford verbracht, der mir bisher wenig sagte. Zum einen habe ich endlich mal The Berlin Project (2017) zu Ende gelesen. Dieser Alternativwelt-Roman handelt im Prinzip vom Manhattan-Projekt, bleibt sehr nah an der historischen Realität und bringt diese durch die Augen eines jüdischen Expat-Wissenschaftlers auch gut rüber, mit viel Alltag, Biografie und Lokalkolorit. Letztlich gibt es eine kleine Abweichung zu unserer Zeitlinie (die Frage, mit welcher Methode das waffenfähige Uran getrennt wird) – mit dann doch sehr deutlichen Folgen auf den Verlauf des zweiten Weltkriegs und der Weltgeschichte. Berlin steht dabei nicht zufällig im Titel.
Nach der Lektüre dieses Romans wollte ich dann ein bisschen mehr über Benford erfahren und habe mir den Galactic-Center-Zyklus herausgegriffen. Dieser besteht aus sechs Romanen – In the Ocean of Night (1976), Across the Sea of Suns (1984), Great Sky River (1987), Tides of Light (1989), Furious Gulf (1994) sowie Sailing Bright Eternity (1995) – und spannt einen Zeitraum von etwa 30.000 Jahren auf. Zu den vielen Seltsamkeiten dieser Mischung aus Hard SF und dem einen oder anderen surrealistischen Element gehört die Tatsache, dass dank Kälteschlaf und der einen oder anderen Technologie am Ende des Zyklus die selbe Person eine tragende Rolle spielt wie ganz am Anfang; zwischendrin lernen wir auch drei Generationen der in die Nähe des schwarzen Lochs im Mittelpunkt unserer Galaxis Menschenkultur kennen. Der erste Band war per se noch ganz amüsant, weil er eine Zukunft (in den 1990er bzw. 2010er Jahren) beschreibt, die durch und durch den Klischees der 1970er entspricht. Unsere nahe Vergangenheit kennt hier noch keine Personalcomputer, dafür 3D-Fernsehen, bemannte Raumfahrt, Triaden als anerkanntes Beziehungsmodell, Nacktheit als Modestatement, Privatflüge, aber Busse statt PKW (in den USA) und insgesamt eine eher krisenhafte globale Lage mit Hungersnöten und Verarmung. Das mal systematisch anzuschauen, also z.B. das Jahr 2015 als Bezugspunkt zu nehmen und zu gucken, welche Fantasien dazu wann entwickelt wurden, wäre sicher interessant. Hier jedenfalls geht es um den Erstkontakt mit den Hinterlassenschaften von Außerirdischen, um einen sich über Jahrzehntausende hinziehenden Krieg zwischen Mechanoiden und organischen Lebensformen, und am Schluss um das Leben in einem aus verdichteter Raumzeit errichteten Zufluchtsort – hier schlägt der Surrealismus dann vollends zu. Für mich dann letztlich doch eher eine seltsame Mischung. Die ersten beiden Bände fand ich – mal abgesehen von den aus heutiger Sicht anachronistischen Punkten – durchaus lesbar und spannend, die mittleren beiden Bände waren für sich genommen auch ganz ok, die letzten beiden waren eher schwierig. Letzten Endes war es bei mir dann eher der Wunsch, das komplett gelesen zu haben, als eine durch den Plot oder die Charaktere hervorgerufene Vorwärtsbewegung, die mich dazu brachte, bis zum Schluss durchzuhalten.
Und damit noch kurz zum Bildschirm: angeguckt habe ich mit meinen Teenagern Suzume (2022), ein eindrucksvolles Anime, das über eine magische Parallelwelt das Trauma von Fukushima aufarbeitet. Alleine angeguckt habe ich mir Three thousand years of longing (2022) – was zufällig ganz gut zu Al-Sirafi und zum Ministry of Time passte – sowie die beiden zweiten Staffeln von Star Trek Prodigy (sehr gut!) und Foundation (hm, hübsche Bilder, eindrucksvolle Welten, aber so ganz glücklich war ich damit nicht).