Es ist höchste Zeit, aus meinem unsortierten Notizzettel mit den in diesem Winter gelesenen bzw. angeschauten Büchern und Filmen mal einen ordentlichen Blogeintrag zu machen. Nicht zuletzt deshalb, weil lange Winterabende ja fast schon automatisch nach Tee oder heiße Schokolade, einem bequemen Sessel und meinetwegen auch einer schnurrende Katze verlangen.
Ungefähr so fühlt sich Legends & Latte von Travis Baldree (2022) an – laut Untertitel handelt es hierbei um „high fantasy with low stakes“, und das trifft es ganz gut. Eine Ork-Kämpferin hat genug von Quests und Schlachten und eröffnet ein Café. Das ist eigentlich schon alles. Keine Intrigen, keine Machtspielchen in Palästen, keine verzauberten Prinzen – statt dessen schauen wir zu, wie „Legends & Latte“ entsteht und zu einem Erfolg wird, weil ganz unterschiedliche Persönlichkeiten – alle mit Macken und Eigenheiten – zusammenfinden und zusammenwirken. Ein kleines bisschen „high stakes“ gibt es dann doch noch, und ebenso ein bisschen Liebesgeschichte. Vielleicht beschreibt „solarpunkig“ diesen Stil, obwohl weder Photovoltaik noch Utopien vorkommen. Mir hat’s jedenfalls gut gefallen.
Bleiben wir bei Solarpunk – auf Empfehlung einer Freundin habe ich Emmi Itärantas The Moonday Letters (2022) gelesen. Die Heilerin Lumi aus einem der Reservate der zerstörten Erde, wohl im heutigen Finnland oder Schweden liegend, folgt der Spur ihrer*s Partners*in Sol durch das Sonnensystem, u.a. spielt das Buch auf Jupitermonden, auf dem Mond, im Orbit und auf dem Mars – und entdeckt nach und nach, dass Sols biowissenschaftliche Forschung eine dunklere Seite hat. Geschrieben ist das ganze in Tagebucheinträgen und Briefen. Neben den düsteren und dystopischen Seiten tauchen dabei immer wieder Beschreibungen von Landschaften, Settings und Lebensweisen auf, die dazu führen, dass mir zu diesem Buch Solarpunk als Genre einfällt. Gleichzeitig erinnert mich The Moonday Letters an einige Bücher von Kim Stanley Robinson – gar nicht so sehr seine bekannteren, sondern eher an The Memory of Whiteness (1985) und Galileo’s Dream (2009). Aus dem Leseerlebnis immer wieder herausgerissen haben mich zwei Dinge – zum einen erschien es mir unwahrscheinlich, dass Lumi nichts vom Aktivismus Sols mitbekommen haben soll, auch wenn Itäranta versucht, das plausibel zu machen, und zum anderen fand ich es erst einmal schwierig, damit klarzukommen, dass Lumi eine Heilerin sein soll, die auf schamanistische Trips durch Nebenwelten setzt und mit einem Totemtier verbunden ist. Trotzdem würde ich das Buch weiterempfehlen.
Aber vielleicht ist das auch ungerecht. Bei David Mitchells Utopia Avenue (2022) hat es mich letztlich auch nicht gestört, dass das ganze Buch über offen bleibt, ob Jasper de Zoet an Schizophrenie leidet oder von zeitreisenden Geistern besessen ist. De Zoet verbindet Utopia Avenue lose mit Mitchells The Thousand Autum’s of Jacob de Zoet, andere Elemente ziehen Linien zu anderen seiner Bücher. Gleichzeitig sind die Geistwesen in Jaspers Kopf (und deren mögliche Interpretation als real) auch der einzige Grund, warum dieses Buch unter der Überschrift Fantasy auftaucht. Purist*innen mögen jetzt wegschauen – aber ich hatte viel Freude an dieser fiktiven Geschichte der titelgebenden Band Utopia Avenue, irgendwo zwischen Beatles und Deep Purple, mittendrin in all dem, was 1967/1968 so passiert. Elf, Jasper, Dean und Griff sind die unwahrscheinlichen – und an der einen und anderen Stelle anachronistischen – Mitglieder dieser Band, die wir von ihrer Gründung über den Höhepunkt ihres kurzen Erfolgs bis zum tragischen Ende miterleben. Und durch die Augen der vier dann auch sehr plastisch das Geschehen einer Zeit, in der meine Eltern jung waren. Geordnet ist das Buch nach Platten und Songs der Band Utopia Avenue; selten war fiktive Musik so vorstellbar. Kann ich die Platte haben?
(Ist es seltsam, Fan fiktiver Bands zu sein? Ich habe jedenfalls ein T‑Shirt der Glamrock-Gruppe „Decibel Jones“ aus Valentes wunderbarer Space Opera – und wäre auch „Utopia Avenue“-Merch nicht abgeneigt …)
Und wenn ich schon von meinem selbstgewählten Blogbeitragstitel abweiche: auch die beiden Romane von Terry Pratchett – Dodger (2012) und Nation (2008) – sind nur mit etwas Mühe in die Kategorie Fantasy zu zwängen, die Alternativweltgeschichte Nation noch mehr als Dodger. Nation handelt von einer Flutkatastrophe und einem Schiffsunglück im Südpazifik im 19. Jahrhundert, aus dem heraus Wissenschaft und Imperialismus einen anderen Weg nehmen als in unserer Welt. Ausgangspunkt dafür sind die wenigen Überlebenden, die nach der großen Flutwelle auf einer Pazifikinsel zusammenkommen und mit gelockerten Bindungen an die jeweiligen Traditionen der britischen bzw. der pazifischen Inseln eine neue Gesellschaft aufbauen. Das Buch vermittelt dabei nebenbei einiges über die wissenschaftliche Methode und die Grenzen des Denkens. Dodger ist dagegen eine Art Parodie/Fortschreibung der Romane Charles Dickens (der dort auch auftritt) – der titelgebende Dodger ist ein sich mit kleinen Gaunereien und der Suche nach Wertsachen in der Kanalisation Londons durchschlagender Jugendlicher, ein Waisenkind, dessen Leben in andere Bahnen gerät, nachdem er eine junge Frau rettet. Zweimal also Pratchett, der auch jenseits der Discworld-Reihe mitreißend schreibt, und zweimal quasi-historische Romane, die zugleich Dickens und Defoe aufs Korn nehmen.
Keine Sorge – ich habe auch ganz normale Space Opera gelesen. Ocean’s Echo von Everina Maxwell (2022) spielt im selben Universum wie der Vorgängerband Winter’s Orbit, ohne dass es eine direkte Verknüpfung gibt. Mir hat Ocean’s Echo sogar noch besser gefallen – die Mischung aus Weltenbau, halbwegs glaubwürdigen Imperien, von ferne wirkenden übermächtigen Außerirdischen und mehr oder weniger queerer Liebesgeschichte passt. In diesem Buch geht es um Tennalhin Halkana, einen High-Society-Playboy, der von seiner Tante in die Wüste geschickt wird, und um Surit Yeni, der versucht, durch ehrliche Arbeit als Soldat jeden Verdacht loszuwerden, etwas mit der Revolte seiner Mutter zu tun zu haben. In der Welt von Maxwell gibt es verschiedene Formen psychischer Begabung – Telepathie („Reader“) und auf der anderen Seite Menschen, die genetisch so manipuliert wurden, dass sie die Gedanken anderer beeinflussen und steuern können („Architect“). Ein Paar aus beiden hat hohen militärischen Wert – und Tennalhin und Surit würden genau so ein Paar abgeben. Und natürlich ist alles anders, als es scheint …
Sehr viel konventioneller die Praxis-Reihe von Walter Jon Williams – daraus habe ich The Accidental War (2018), Fleet Elements (2020) und Imperium Restored (2022) gelesen, die letztlich zusammen einen Handlungsbogen umfassen. Schön ausgeschmückt, aber so ganz real erscheint mir seine Welt eines durch Wurmlöcher verbundenen Reichs, in der unterschiedliche Lebensformen zusammenwirken, und in der Menschen vielleicht nur am Rand stehen, seit sie unfreiwillig Teil der Praxis geworden sind, nicht. Sula ist eine schillernde Hauptperson, deren Geschichte die drei Bände zusammenhält. Und die Geschichte ist durchaus packend. Trotzdem sind die unterschiedlichen Lebensformen am Schluss doch recht klischeehaft gezeichnet, und wirken ein bisschen so, als wären sie Menschen in Kostümen. Die militärischen Erfolge wiederholen sich, die langwierigen Schlachtbeschreibungen nerven irgendwann, und – na gut – auch mit Williams politischer Ausrichtung habe ich so meine Schwierigkeiten, nicht erst hier. In den Büchern ist Demokratie etwas, das von dem Multispeziesreich Praxis explizit verboten wurde – an die Stelle rücken imperiale bis faschistische Herrschaftsformen, es gibt eine klare Hierarchie sozialer Klassen, die irgendwie auch gerechtfertig wird. Sula würde am liebsten eine Militärdiktatur errichten – um mit der Korruption der „Adeligen“ (zu denen sie irgendwie auch gehört) aufzuräumen. Und ein ähnliches Menschenbild habe ich auch schon in früheren Büchern Williams schwierig gefunden. [Da habe ich ihn mit John C. Wright verwechselt …]
Last but not least ein Roman, vielleicht auch eine Geschichtensammlung – der temporale Zusammenhang der einzelnen Kapitel ist nicht so ganz klar – mit dem schönen Titel There Is No Antimemetics Division von qntm, das in Verbindung mit dem SCP-Foundation Wiki steht. Darauf gestoßen bin ich im Blog von Charles Stross. Letztlich geht es um unerklärliche Phänomene (das ist die ausgedachte Verschwörungstheorie hinter SCP), die hier noch die besondere Eigenschaft haben, antimemetisch zu sein, also beispielsweise mit Feldern verbunden zu sein, die es unmöglich machen, sich an diese Phänomene zu erinnern. Und manche davon sind alt, groß und gefährlich – der Kampf dagegen ist die Aufgabe der Antimemetics Division. Sofern sie denn existiert. Und sich daran erinnert, was ihre Aufgabe ist. Das klingt dann manchmal wie Doctor Who oder Akte X auf die logische Spitze getrieben, ist teilweise ziemlich blutig und … interessant?
Ach ja – Filme. Da gab es einige. Knives out und Glass onion habe ich genossen, und mich über die detailreiche Inszenierung voller Anspielungen gefreut. Bezüge zu SF oder Fantasy wären allerdings eher randständiger Art.
Die zweite Staffel der sich über Verschwörungstheorien lustig machenden Animationsserie Inside job war noch etwas trashiger als die erste Staffel. Eher okay als eine echte Empfehlung. Für die dritte Staffel würde ich empfehlen, sich an die Verfilmung der oben erwähnten Antimemetics zu machen …
Unser Weihnachtsfilm (wie wohl in vielen Familien) war Avatar II – als visuelles Erlebnis (im 3D-Kino), ohne näher auf Unstimmigkeiten im Plot zu achten, toll. Im Detail schwierig, dann doch irgendwie eine mit noch mehr Waffen und noch mehr Explosionen versehene Wiederholung des ersten Teils. Und immer noch eine Grundidee, die in der SF-Literatur der 1980er (u.a. bei Le Guin) schon mal besser umgesetzt wurde.
Mit meinen Kindern habe ich Schlummerland angeschaut, die Netflix-Verfilmung, die sich wohl ein bisschen an die klassische Comicserie Little Nemo in Slumberland anlehnt bzw. diese weiterdenkt. Auch hier visuell vieles eindrucksvoll, die Geschichte selbst aber letztlich ziemlich düster und traurig – Nemo (hier ein Mädchen) lebt mit ihrem Leuchtturmwärter-Vater auf einer einsamen Insel. Der Vater wird ins Meer gerissen, Nemo muss mit dessen entfremdeten und sehr langweiligen Bruder anfreunden, der nun ihr Erziehungsberechtigter ist. Nur Träume bieten einen Ausweg – aber auch ganz neue Gefahren. Wie alle Traum- und Zeitreisebehörden ist auch die im Schlummerland im Look der 1950er/60er gehalten. Gejagt werden Träumende, die sich weigern, zu entwachen. Flip ist so einer – und war mal der beste Kumpel von Nemos Vater.
Ästhetik schlägt Plot gilt dann auch für The Peripheral, Amazons Verfilmung des gleichnamigen Buchs von William Gibson, die aber in einigen wichtigen Punkten deutlich von der Vorlage abweicht. Von der Kleidung bis hin zu futuristischen Interfaces und einer realistisch erscheinenden ländlichen USA der nahen Zukunft – die einzigen Jobs gibt es entweder bei Militär, beim örtlichen Drogenmafiaboss oder im 3D-Druck-Shop – ist das hervorragend gestaltet. Flynne, die Hauptperson sowohl des Romans wie auch der Serie, ist nahbar und klug. Schon im Roman ist die Quasi-Zeitreise zwischen zwei unterschiedlichen Abzweigungen der Realität – dem Post-Jackpot-London der fernen Zukunft mit Oligarch*innen und AIs – und der Drittewelt-USA ein kompliziertes Konzept. Letztlich ist das Paradigma, das Daten zwischen diesen Realitäten wandern können, aber keine Personen. Aber Daten können im London der fernen Zukunft menschenartige Roboter steuern – und können aus der nahen Zukunft heraus über eine Art Headset gesteuert werden. Für Flynne ist London 2099 damit auch zunächst ein Videospiel – bis nach und nach klar wird, dass es um deutlich mehr geht. In der Serie wird das alles durch diverse Nebenhandlungen noch komplizierter, das Ende finde ich nach wie vor nicht nachvollziehbar (klar, es muss eine zweite Staffel geben), und die Art und Weise, wie sich hochintelligente Sicherheitssysteme durch ein bisschen Gewalt oder blutige OPs austricksen lassen, … naja. Als Spiel mit unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen gut anschaubar, als Inszenierung möglicher Zukünfte auch – an Stelle einer wirklich interessanten Geschichte tritt dann doch zu oft rohe Gewalt und noch eine Verwicklung mehr.