Science Fiction und Fantasy – im Winter 2022/23 gelesen

January forest, dubious, Gundelfingen - III

Es ist höchs­te Zeit, aus mei­nem unsor­tier­ten Notiz­zet­tel mit den in die­sem Win­ter gele­se­nen bzw. ange­schau­ten Büchern und Fil­men mal einen ordent­li­chen Blog­ein­trag zu machen. Nicht zuletzt des­halb, weil lan­ge Win­ter­aben­de ja fast schon auto­ma­tisch nach Tee oder hei­ße Scho­ko­la­de, einem beque­men Ses­sel und mei­net­we­gen auch einer schnur­ren­de Kat­ze verlangen.

Unge­fähr so fühlt sich Legends & Lat­te von Tra­vis Bal­d­ree (2022) an – laut Unter­ti­tel han­delt es hier­bei um „high fan­ta­sy with low sta­kes“, und das trifft es ganz gut. Eine Ork-Kämp­fe­rin hat genug von Quests und Schlach­ten und eröff­net ein Café. Das ist eigent­lich schon alles. Kei­ne Intri­gen, kei­ne Macht­spiel­chen in Paläs­ten, kei­ne ver­zau­ber­ten Prin­zen – statt des­sen schau­en wir zu, wie „Legends & Lat­te“ ent­steht und zu einem Erfolg wird, weil ganz unter­schied­li­che Per­sön­lich­kei­ten – alle mit Macken und Eigen­hei­ten – zusam­men­fin­den und zusam­men­wir­ken. Ein klei­nes biss­chen „high sta­kes“ gibt es dann doch noch, und eben­so ein biss­chen Lie­bes­ge­schich­te. Viel­leicht beschreibt „solar­pun­kig“ die­sen Stil, obwohl weder Pho­to­vol­ta­ik noch Uto­pien vor­kom­men. Mir hat’s jeden­falls gut gefallen. 

Blei­ben wir bei Solar­punk – auf Emp­feh­lung einer Freun­din habe ich Emmi Itär­an­tas The Moon­day Let­ters (2022) gele­sen. Die Hei­le­rin Lumi aus einem der Reser­va­te der zer­stör­ten Erde, wohl im heu­ti­gen Finn­land oder Schwe­den lie­gend, folgt der Spur ihrer*s Partners*in Sol durch das Son­nen­sys­tem, u.a. spielt das Buch auf Jupi­ter­mon­den, auf dem Mond, im Orbit und auf dem Mars – und ent­deckt nach und nach, dass Sols bio­wis­sen­schaft­li­che For­schung eine dunk­le­re Sei­te hat. Geschrie­ben ist das gan­ze in Tage­buch­ein­trä­gen und Brie­fen. Neben den düs­te­ren und dys­to­pi­schen Sei­ten tau­chen dabei immer wie­der Beschrei­bun­gen von Land­schaf­ten, Set­tings und Lebens­wei­sen auf, die dazu füh­ren, dass mir zu die­sem Buch Solar­punk als Gen­re ein­fällt. Gleich­zei­tig erin­nert mich The Moon­day Let­ters an eini­ge Bücher von Kim Stan­ley Robin­son – gar nicht so sehr sei­ne bekann­te­ren, son­dern eher an The Memo­ry of Whiten­ess (1985) und Galileo’s Dream (2009). Aus dem Lese­er­leb­nis immer wie­der her­aus­ge­ris­sen haben mich zwei Din­ge – zum einen erschien es mir unwahr­schein­lich, dass Lumi nichts vom Akti­vis­mus Sols mit­be­kom­men haben soll, auch wenn Itär­an­ta ver­sucht, das plau­si­bel zu machen, und zum ande­ren fand ich es erst ein­mal schwie­rig, damit klar­zu­kom­men, dass Lumi eine Hei­le­rin sein soll, die auf scha­ma­nis­ti­sche Trips durch Neben­wel­ten setzt und mit einem Totem­tier ver­bun­den ist. Trotz­dem wür­de ich das Buch weiterempfehlen.

Aber viel­leicht ist das auch unge­recht. Bei David Mit­chells Uto­pia Ave­nue (2022) hat es mich letzt­lich auch nicht gestört, dass das gan­ze Buch über offen bleibt, ob Jas­per de Zoet an Schi­zo­phre­nie lei­det oder von zeit­rei­sen­den Geis­tern beses­sen ist. De Zoet ver­bin­det Uto­pia Ave­nue lose mit Mit­chells The Thousand Autum’s of Jacob de Zoet, ande­re Ele­men­te zie­hen Lini­en zu ande­ren sei­ner Bücher. Gleich­zei­tig sind die Geist­we­sen in Jas­pers Kopf (und deren mög­li­che Inter­pre­ta­ti­on als real) auch der ein­zi­ge Grund, war­um die­ses Buch unter der Über­schrift Fan­ta­sy auf­taucht. Purist*innen mögen jetzt weg­schau­en – aber ich hat­te viel Freu­de an die­ser fik­ti­ven Geschich­te der titel­ge­ben­den Band Uto­pia Ave­nue, irgend­wo zwi­schen Beat­les und Deep Pur­ple, mit­ten­drin in all dem, was 1967/1968 so pas­siert. Elf, Jas­per, Dean und Griff sind die unwahr­schein­li­chen – und an der einen und ande­ren Stel­le ana­chro­nis­ti­schen – Mit­glie­der die­ser Band, die wir von ihrer Grün­dung über den Höhe­punkt ihres kur­zen Erfolgs bis zum tra­gi­schen Ende mit­er­le­ben. Und durch die Augen der vier dann auch sehr plas­tisch das Gesche­hen einer Zeit, in der mei­ne Eltern jung waren. Geord­net ist das Buch nach Plat­ten und Songs der Band Uto­pia Ave­nue; sel­ten war fik­ti­ve Musik so vor­stell­bar. Kann ich die Plat­te haben?

(Ist es selt­sam, Fan fik­ti­ver Bands zu sein? Ich habe jeden­falls ein T‑Shirt der Glam­rock-Grup­pe „Deci­bel Jones“ aus Valen­tes wun­der­ba­rer Space Ope­ra – und wäre auch „Uto­pia Avenue“-Merch nicht abgeneigt …) 

Und wenn ich schon von mei­nem selbst­ge­wähl­ten Blog­bei­trags­ti­tel abwei­che: auch die bei­den Roma­ne von Ter­ry Prat­chett – Dod­ger (2012) und Nati­on (2008) – sind nur mit etwas Mühe in die Kate­go­rie Fan­ta­sy zu zwän­gen, die Alter­na­tiv­welt­ge­schich­te Nati­on noch mehr als Dod­ger. Nati­on han­delt von einer Flut­ka­ta­stro­phe und einem Schiffs­un­glück im Süd­pa­zi­fik im 19. Jahr­hun­dert, aus dem her­aus Wis­sen­schaft und Impe­ria­lis­mus einen ande­ren Weg neh­men als in unse­rer Welt. Aus­gangs­punkt dafür sind die weni­gen Über­le­ben­den, die nach der gro­ßen Flut­wel­le auf einer Pazi­fik­in­sel zusam­men­kom­men und mit gelo­cker­ten Bin­dun­gen an die jewei­li­gen Tra­di­tio­nen der bri­ti­schen bzw. der pazi­fi­schen Inseln eine neue Gesell­schaft auf­bau­en. Das Buch ver­mit­telt dabei neben­bei eini­ges über die wis­sen­schaft­li­che Metho­de und die Gren­zen des Den­kens. Dod­ger ist dage­gen eine Art Parodie/Fortschreibung der Roma­ne Charles Dickens (der dort auch auf­tritt) – der titel­ge­ben­de Dod­ger ist ein sich mit klei­nen Gau­ne­rei­en und der Suche nach Wert­sa­chen in der Kana­li­sa­ti­on Lon­dons durch­schla­gen­der Jugend­li­cher, ein Wai­sen­kind, des­sen Leben in ande­re Bah­nen gerät, nach­dem er eine jun­ge Frau ret­tet. Zwei­mal also Prat­chett, der auch jen­seits der Disc­world-Rei­he mit­rei­ßend schreibt, und zwei­mal qua­si-his­to­ri­sche Roma­ne, die zugleich Dickens und Defoe aufs Korn nehmen.

Kei­ne Sor­ge – ich habe auch ganz nor­ma­le Space Ope­ra gele­sen. Ocean’s Echo von Everi­na Max­well (2022) spielt im sel­ben Uni­ver­sum wie der Vor­gän­ger­band Winter’s Orbit, ohne dass es eine direk­te Ver­knüp­fung gibt. Mir hat Ocean’s Echo sogar noch bes­ser gefal­len – die Mischung aus Wel­ten­bau, halb­wegs glaub­wür­di­gen Impe­ri­en, von fer­ne wir­ken­den über­mäch­ti­gen Außer­ir­di­schen und mehr oder weni­ger quee­rer Lie­bes­ge­schich­te passt. In die­sem Buch geht es um Ten­nal­hin Hal­ka­na, einen High-Socie­ty-Play­boy, der von sei­ner Tan­te in die Wüs­te geschickt wird, und um Surit Yeni, der ver­sucht, durch ehr­li­che Arbeit als Sol­dat jeden Ver­dacht los­zu­wer­den, etwas mit der Revol­te sei­ner Mut­ter zu tun zu haben. In der Welt von Max­well gibt es ver­schie­de­ne For­men psy­chi­scher Bega­bung – Tele­pa­thie („Rea­der“) und auf der ande­ren Sei­te Men­schen, die gene­tisch so mani­pu­liert wur­den, dass sie die Gedan­ken ande­rer beein­flus­sen und steu­ern kön­nen („Archi­tect“). Ein Paar aus bei­den hat hohen mili­tä­ri­schen Wert – und Ten­nal­hin und Surit wür­den genau so ein Paar abge­ben. Und natür­lich ist alles anders, als es scheint …

Sehr viel kon­ven­tio­nel­ler die Pra­xis-Rei­he von Wal­ter Jon Wil­liams – dar­aus habe ich The Acci­den­tal War (2018), Fleet Ele­ments (2020) und Impe­ri­um Res­to­red (2022) gele­sen, die letzt­lich zusam­men einen Hand­lungs­bo­gen umfas­sen. Schön aus­ge­schmückt, aber so ganz real erscheint mir sei­ne Welt eines durch Wurm­lö­cher ver­bun­de­nen Reichs, in der unter­schied­li­che Lebens­for­men zusam­men­wir­ken, und in der Men­schen viel­leicht nur am Rand ste­hen, seit sie unfrei­wil­lig Teil der Pra­xis gewor­den sind, nicht. Sula ist eine schil­lern­de Haupt­per­son, deren Geschich­te die drei Bän­de zusam­men­hält. Und die Geschich­te ist durch­aus packend. Trotz­dem sind die unter­schied­li­chen Lebens­for­men am Schluss doch recht kli­schee­haft gezeich­net, und wir­ken ein biss­chen so, als wären sie Men­schen in Kos­tü­men. Die mili­tä­ri­schen Erfol­ge wie­der­ho­len sich, die lang­wie­ri­gen Schlacht­be­schrei­bun­gen ner­ven irgend­wann, und – na gut – auch mit Wil­liams poli­ti­scher Aus­rich­tung habe ich so mei­ne Schwie­rig­kei­ten, nicht erst hier. In den Büchern ist Demo­kra­tie etwas, das von dem Mul­ti­spe­zies­reich Pra­xis expli­zit ver­bo­ten wur­de – an die Stel­le rücken impe­ria­le bis faschis­ti­sche Herr­schafts­for­men, es gibt eine kla­re Hier­ar­chie sozia­ler Klas­sen, die irgend­wie auch gerecht­fer­tig wird. Sula wür­de am liebs­ten eine Mili­tär­dik­ta­tur errich­ten – um mit der Kor­rup­ti­on der „Ade­li­gen“ (zu denen sie irgend­wie auch gehört) auf­zu­räu­men. Und ein ähn­li­ches Men­schen­bild habe ich auch schon in frü­he­ren Büchern Wil­liams schwie­rig gefun­den. [Da habe ich ihn mit John C. Wright verwechselt …]

Last but not least ein Roman, viel­leicht auch eine Geschich­ten­samm­lung – der tem­po­ra­le Zusam­men­hang der ein­zel­nen Kapi­tel ist nicht so ganz klar – mit dem schö­nen Titel The­re Is No Anti­me­me­tics Divi­si­on von qntm, das in Ver­bin­dung mit dem SCP-Foun­da­ti­on Wiki steht. Dar­auf gesto­ßen bin ich im Blog von Charles Stross. Letzt­lich geht es um uner­klär­li­che Phä­no­me­ne (das ist die aus­ge­dach­te Ver­schwö­rungs­theo­rie hin­ter SCP), die hier noch die beson­de­re Eigen­schaft haben, anti­me­me­tisch zu sein, also bei­spiels­wei­se mit Fel­dern ver­bun­den zu sein, die es unmög­lich machen, sich an die­se Phä­no­me­ne zu erin­nern. Und man­che davon sind alt, groß und gefähr­lich – der Kampf dage­gen ist die Auf­ga­be der Anti­me­me­tics Divi­si­on. Sofern sie denn exis­tiert. Und sich dar­an erin­nert, was ihre Auf­ga­be ist. Das klingt dann manch­mal wie Doc­tor Who oder Akte X auf die logi­sche Spit­ze getrie­ben, ist teil­wei­se ziem­lich blu­tig und … interessant?

January forest, dubious, Gundelfingen - V

Ach ja – Fil­me. Da gab es eini­ge. Kni­ves out und Glass oni­on habe ich genos­sen, und mich über die detail­rei­che Insze­nie­rung vol­ler Anspie­lun­gen gefreut. Bezü­ge zu SF oder Fan­ta­sy wären aller­dings eher rand­stän­di­ger Art.

Die zwei­te Staf­fel der sich über Ver­schwö­rungs­theo­rien lus­tig machen­den Ani­ma­ti­ons­se­rie Insi­de job war noch etwas tra­shi­ger als die ers­te Staf­fel. Eher okay als eine ech­te Emp­feh­lung. Für die drit­te Staf­fel wür­de ich emp­feh­len, sich an die Ver­fil­mung der oben erwähn­ten Anti­me­me­tics zu machen … 

Unser Weih­nachts­film (wie wohl in vie­len Fami­li­en) war Ava­tar II – als visu­el­les Erleb­nis (im 3D-Kino), ohne näher auf Unstim­mig­kei­ten im Plot zu ach­ten, toll. Im Detail schwie­rig, dann doch irgend­wie eine mit noch mehr Waf­fen und noch mehr Explo­sio­nen ver­se­he­ne Wie­der­ho­lung des ers­ten Teils. Und immer noch eine Grund­idee, die in der SF-Lite­ra­tur der 1980er (u.a. bei Le Guin) schon mal bes­ser umge­setzt wurde. 

Mit mei­nen Kin­dern habe ich Schlum­mer­land ange­schaut, die Net­flix-Ver­fil­mung, die sich wohl ein biss­chen an die klas­si­sche Comic­se­rie Litt­le Nemo in Slum­ber­land anlehnt bzw. die­se wei­ter­denkt. Auch hier visu­ell vie­les ein­drucks­voll, die Geschich­te selbst aber letzt­lich ziem­lich düs­ter und trau­rig – Nemo (hier ein Mäd­chen) lebt mit ihrem Leucht­turm­wär­ter-Vater auf einer ein­sa­men Insel. Der Vater wird ins Meer geris­sen, Nemo muss mit des­sen ent­frem­de­ten und sehr lang­wei­li­gen Bru­der anfreun­den, der nun ihr Erzie­hungs­be­rech­tig­ter ist. Nur Träu­me bie­ten einen Aus­weg – aber auch ganz neue Gefah­ren. Wie alle Traum- und Zeit­rei­se­be­hör­den ist auch die im Schlum­mer­land im Look der 1950er/60er gehal­ten. Gejagt wer­den Träu­men­de, die sich wei­gern, zu ent­wa­chen. Flip ist so einer – und war mal der bes­te Kum­pel von Nemos Vater. 

Ästhe­tik schlägt Plot gilt dann auch für The Peri­phe­ral, Ama­zons Ver­fil­mung des gleich­na­mi­gen Buchs von Wil­liam Gib­son, die aber in eini­gen wich­ti­gen Punk­ten deut­lich von der Vor­la­ge abweicht. Von der Klei­dung bis hin zu futu­ris­ti­schen Inter­faces und einer rea­lis­tisch erschei­nen­den länd­li­chen USA der nahen Zukunft – die ein­zi­gen Jobs gibt es ent­we­der bei Mili­tär, beim ört­li­chen Dro­gen­ma­fia­boss oder im 3D-Druck-Shop – ist das her­vor­ra­gend gestal­tet. Flyn­ne, die Haupt­per­son sowohl des Romans wie auch der Serie, ist nah­bar und klug. Schon im Roman ist die Qua­si-Zeit­rei­se zwi­schen zwei unter­schied­li­chen Abzwei­gun­gen der Rea­li­tät – dem Post-Jack­pot-Lon­don der fer­nen Zukunft mit Oligarch*innen und AIs – und der Drit­te­welt-USA ein kom­pli­zier­tes Kon­zept. Letzt­lich ist das Para­dig­ma, das Daten zwi­schen die­sen Rea­li­tä­ten wan­dern kön­nen, aber kei­ne Per­so­nen. Aber Daten kön­nen im Lon­don der fer­nen Zukunft men­schen­ar­ti­ge Robo­ter steu­ern – und kön­nen aus der nahen Zukunft her­aus über eine Art Head­set gesteu­ert wer­den. Für Flyn­ne ist Lon­don 2099 damit auch zunächst ein Video­spiel – bis nach und nach klar wird, dass es um deut­lich mehr geht. In der Serie wird das alles durch diver­se Neben­hand­lun­gen noch kom­pli­zier­ter, das Ende fin­de ich nach wie vor nicht nach­voll­zieh­bar (klar, es muss eine zwei­te Staf­fel geben), und die Art und Wei­se, wie sich hoch­in­tel­li­gen­te Sicher­heits­sys­te­me durch ein biss­chen Gewalt oder blu­ti­ge OPs aus­trick­sen las­sen, … naja. Als Spiel mit unter­schied­li­chen Wirk­lich­keits­ebe­nen gut anschau­bar, als Insze­nie­rung mög­li­cher Zukünf­te auch – an Stel­le einer wirk­lich inter­es­san­ten Geschich­te tritt dann doch zu oft rohe Gewalt und noch eine Ver­wick­lung mehr. 

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