Bei Aufräumen – ja, das mit dem Wegwerfen ist nicht so einfach – bin ich auf eine Broschüre des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung gestoßen. A5, mit CD (keine Ahnung, wo die hingekommen ist), 75 Seiten – mit dem verheißungsvollen Titel „Chancen durch Multimedia – Was bringt die neue Technik?“. Für die Nachgeborenen: die Broschüre stammt aus dem Jahr 1996. Und was damals als Multimedia bezeichnet wurde, war kurz darauf so normal, dass es keiner besonderen Bezeichnung mehr bedurfte.
Zum Kontext: 1996 war ich im dritten Semester an der Universität. Computer kannte ich schon, aber die waren bis dahin nicht wirklich multimedial, zumindest die meisten PCs nicht. Da überwog noch die Orientierung an Text; die PCs in der Schule, auf denen ich Turbo Pascal gelernt hatte, hatten monochrome Bildschirme (also grün auf schwarz), mein Amiga konnte zwar viele Farben, aber kein Internet, und das 1992 1991 erfundene World Wide Web steckte noch in den Kinderschuhen. Auf neueren PCs lief Windows 3.1, auf ganz neuen das schon halbwegs wie heutige Betriebssysteme aussehende Windows 95. Dass Hausarbeiten an der Uni auf dem PC geschrieben wurden, wurde erwartet, war aber eine Neuerung. Und Videokameras, moderne Browser wie Mosaic und Netscape waren noch eine Besonderheit – ich erinnere mich jedenfalls daran, dass das eines der Alleinstellungsmerkmale der SUN-Workstations in der Informatik war. Was ich sagen will: in den 1990er Jahren gab es einen rasanten Umbruch dessen, was als Computertechnologie als selbstverständlich galt. Maus und Fenster waren gerade erst dabei, sich flächendeckend durchzusetzen, Datenfernübertragung und Mail war zum Teil noch Hobby eher seltsamer Gestalten. In dieser Situation also die vermutlich bei der CeBIT 1996 verteilte Broschüre der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung.
Wenn ich sie heute durchblättere, ist das teilweise deprimierend, weil einige der damals gemachten Versprechungen und Prognosen heute, 25 Jahre später, noch längst nicht eingetroffen sind. Bei anderen Dingen wird deutlich, dass damals die falschen Weichen gestellt wurden. Dazu gleich mehr.
Hintergrund der Broschüre war wohl der Bericht „Info 2000 – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“, Ziel die Sensibilisierung der Bevölkerung dafür, dass der „Weg in die Informationsgesellschaft“ mit einigen Veränderungen verbunden sein wird.
Gleich auf Seite 9 in der Einleitung wird dargestellt, was die Bundesregierung verwirklichen will – zwölf schöne Bulletpoints.
- Wachstums- und Beschäftigungschancen nutzen
- wettbewerblichen Ordnungsrahmen stärken [also auf Markt statt auf Staat setzen]
- wirtschaftlich-gesellschaftlichen Dialog ausbauen
- Multimedia-Kompetenzen im Bildungswesen stärken [hm, kommt mir bekannt vor …]
- Forschungs- und Wissenschaftsstandort Deutschland sichern
- Infrastruktur für Information und Kommunikation sicherstellen
- Informationstechnik für bürgernahe und effiziente Verwaltung nutzen [hm, …]
- Multimedia in Wirtschaft sowie in Verkehr, Umweltschutz, Gesundheit und Bildung einsetzen [könnte mit etwas anderer Begriffswahl auch aus der aktuellen Digitalisierungsstrategie kommen …]
- Schutz der Rechte einzelner garantieren
- aktuelle Daten aus Wissenschaft, Technik und Wirtschaft frei zugänglich machen [ja, auch das kommt mir bekannt vor …]
- nationale Maßnahmen mit der EU-Politik abstimmen
- internationale Kooperation und Abstimmung mit dem Ziel einer globalen Informationsgesellschaft [damals gab es noch die Idee, dass so etwas wie das weltumspannende Internet auch eine entsprechende Governance bräuchte …]
Die Broschüre geht dann auf einzelne dieser Punkte näher ein und zeigt nach einem Serviceteil, in dem es vor allem darum geht, was Multimedia ist, was für ein PC dafür nötig ist, wie der Anschluss ans Netz funktioniert und so weiter auf, welche Veränderungen in einzelnen Sektoren die Bundesregierung erwartet.
Bei der Infrastruktur wird es gleich am Anfang bitter. Denn dazu heißt es: „Deutschland hat eine hervorragende Kommunikationsinfrastruktur. Die Glasfaserkabel de Telekom, die Daten mit Hilfe von Licht übertragen, erstrecken sich heute schon über eine Länge, die dem zweieinhalbfachen Erdumfang entspricht. Mit der Liberalisierung (Marktöffnung und ‑freigabe) der Telekommunikation ab 1998 werden die Netze privater Anbieter hinzukommen.“ (S. 9)
Das hat nicht so ganz geklappt, wenn ich mir die heutigen Debatten über Breitbandausbau und Fiber to the home anschaue. Wäre interessant, das mal im Detail aufzuarbeiten. (Im übrigen empfiehlt die Broschüre dann auf S. 11, dass ein Anschluss per Standleitung sich nur für Behörden und Unternehmen lohne, denn „wer nur sporadisch durch das Netz ›surfen‘ möchte, der kann seinen PC mittels Modem und Telefonleitung mit einem Großrechner verbinden, der wiederum Teil des Internets ist.“ – S. 11).
Anders dagegen ist gleich geblieben. Auf den S. 16/17 geht es darum, wie wichtig „Medienkompetenz“ ist. „Das Kind immer allein vor dem Computer sitzen zu lassen, ist zu wenig. Nur im Gespräch oder beim gemeinsamen ‚Surfen‘ können die Chancen der Informations- und Kommunikationsdienste aufgezeigt werden.“ (S. 16). Und als eherner Grundsatz deutscher Digitalpolitik steht fest: „Die virtuelle Welt kann das Gespräch und das menschliche Miteinander nur ergänzen, niemals ersetzen.“ (ebd.).
Auch die Gefahr, in der virtuellen Welt „verloren zu gehen“, wird breit thematisiert. Schließlich die klare Empfehlung: „Wenn zu Hause ein Telearbeitsplatz eingerichtet ist, dann empfiehlt es sich, Arbeit und Familie räumlich und auch zeitlich voneinander abzugrenzen. Die Vermischung beider Bereiche kann zu Problemen führen.“ (S. 17).
In der Broschüre werden im Serviceteil eine ganze Reihe neuer Praktiken vorgestellt – die Foren der Online-Dienste (auch zur Partnersuche, S. 18), E‑Mail, das ISDN-gestützte Bildtelefon [huch?] und die Möglichkeit, eine Bestellung per Mausklick aufzugeben. Ebenso gibt es neue Formen der Werbung – „Die elektronische Form der Werbung bekommt der Online-Surfer nur zu Gesicht, wenn er sie gezielt anwählt.“ (S. 22). Onlinebanking startet, und das Weltwissen gibt es zwar noch nicht in der Wikipedia oder per Suchmaschine, sondern noch auf CD-ROM, aber immerhin.
Interessant auf Seite 29 eine Repräsentativbefragung zur damaligen Computernutzung – 6 % der Frauen und 19 % der Männer befassten sich in ihrer Freizeit mindestens einmal pro Woche mit dem PC. Genutzt wurde der private PC von 31 % der Befragten zum Briefeschreiben, von 11 % zum Spielen – nur 2 % nutzen ihn für Internet und Online-Dienste.
Kommen wir zu den großen Versprechungen. Bis das angepriesene „interaktive Fernsehen“ (Video on Demand, aber auch Einflussnahme auf Handlungen oder Kameraperspektiven) tatsächlich breit nutzbar wurde, sollten noch ein paar Jahre ins Feld ziehen.
Auf S. 32 geht es dann um „Schulen ans Netz“, zumindest 10.000 der 41.000 damaligen Schulen sollten 1996 in einem Joint Venture aus BMBF und Telekom innerhalb von drei Jahren ans Netz gebracht werden. Ziel war es, dass Schulen „Telelearning“ betreiben können. Und für die berufliche Bildung wurde die Kontaktaufnahme zwischen „Tele-Azubi“ und „Ausbilder“ per Videokonferenz angekündigt (S. 34). Klingt auch heute noch nach Zukunftsmusik … und bis aus dem „Teleteaching“-Pilotversuch an den Unis Mannheim und Heidelberg (S. 39) eine Selbstverständlichkeit wurde, brauchte es eine Pandemie und 25 Jahre.
Auch die prognostizierten Änderungen der Arbeitswelt (S. 42 ff.) klingen auch heute noch futuristisch. Der ausführlich vorgestellte Beruf des Infobrokers bleibt eine Nische. Mobile Telearbeit brauchte eine Pandemie, um sich auf breiter Basis durchzusetzen. Dabei wurde bereits vor 25 Jahren über Chancen und Risiken von Telearbeitsplätzen, den Investitionsbedarf, die Frage der Vereinbarkeit sowie die rechtliche Absicherung und Regelung diskutiert, wie der Broschüre zu entnehmen ist. Aber auch hier ging es sehr lange um Modellversuche (zehn Telearbeitsplätze im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung) und Pilotvorhaben.
Ebenso breit angepriesen wurden erste Modellvorhaben, um Bürgerinnen und Bürger einen digitalen Zugang zu Dienstleistungen zu bieten. Der 1996 angekündigte Aufbau „elektronischer Ämter“, um „Zugang zu allen Dienstleistungen des Staates zu schaffen und den Gang zu Behörden zu ersetzen – zumindest für diejenigen, die dies wollen.“ (S. 48) ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Aber immerhin: die 1996 gestartete Website der Bundesregierung („Die Bundesregierung informiert im Netz der Netze“, S. 49) besteht weiterhin. Wenn auch in leicht modernisiertem Layout.
Dann geht es weiter mit der schönen neuen Internetwelt. Beispielsweise arbeiten 1996 viele Ärzte (und Ärztinnen, die werden aber in der Broschüre nicht genannt) bereits „telemedizinisch“ (S. 52). Gemeint ist hier der Datenaustausch zwischen Praxen und Kliniken. Und ja – Modellversuche dafür gibt es, und wenn ich richtig informiert bin, ist die elektronische Patientenakte inzwischen fast einsatzbereit.
Was sich tatsächlich durchgesetzt hat – aber letztlich eher als privates Angebot, nicht als öffentliche Dienstleistung – sind Verkehrsleitsysteme, miteinander verknüpfte Fahrplanauskünfte (hier noch als „Infosäule“ in ausgewählten Städten) und digitale Karten (S. 56).
Museen sind seit 1996 auf dem Weg ins Digitale – die auf S. 61/62 angegebenen, teilweise sehr abenteuerlichen Museums-URLs funktionieren aber natürlich nicht mehr alle – und Computer-Animation in der Filmkunst hat sich bekanntermaßen tatsächlich breit durchgesetzt.
Bleibt zum Schluss das rechtliche Rahmenwerk. Hier setzt die damalige schwarz-gelbe Regierung auf „liberale Regelungen des Staates und freiwillige Selbstkontrolle der Online-Dienste“ (S. 66). Dabei gilt:
- Wie bisher auch sind die Verbraucher zu Wachsamkeit und ‚gesunder Skepsis‘ aufgerufen.
- Für Anbieter muß die freiwillige Selbstkontrolle ‚Ehrensache‘ sein.
- Jeder, der im Netz aktiv wird, muß sein Handeln nach den moralischen und ethischen Grundsätzen ausrichten, auf denen unsere Gesellschaft beruht.
- Die Internet-Gemeinde (!) kann solidarisch Front machen gegen alle, die beleidigende und unwahre Inhalte ins Netz einspeisen.
- Auch die Presse steht in der Pflicht, verantwortungsbewußt über pornographische und neonationalsozialistische Internet-Angebote zu berichten: Oft machen (gut gemeinte, kritische) Artikel diese Seiten erst bekannt. Durch die Adreßangabe sind sie anwählbar und auffindbar. (S. 69)
Tja, hat nicht ganz so funktioniert.
P.S.: Der derzeitige Kanzlerkandidat der CDU nennt als eines der wichtigsten zwei Themen „Digitalisierung“.