Zeit des Virus, Update IV

May

Aus Lan­ge­wei­le bin ich heu­te ein­mal um das Rie­sel­feld, also den Stadt­teil Frei­burgs, in dem ich woh­ne, her­um spa­ziert. Was mir neu war: Das ist fast kom­plett jen­seits von Stra­ßen mög­lich; das, was ich bis­her als Stra­ßen­be­gleit­grün wahr­ge­nom­men habe, sind in Wirk­lich­keit auch am süd­öst­li­chen Rand des Stadt­teils klei­ne licht­durch­flu­te­te Wäld­chen mit viel Holun­der und Robi­nie, durch die sich sanf­te Wege schlängeln.

Anders gesagt: all­mäh­lich gehen mir die Spa­zier­we­ge aus. Das soll nicht hei­ßen, dass mei­ne Tage nicht gut gefüllt wären. Wenn die Kin­der da sind, ist es ein ziem­li­cher Kampf, Home-Office, Unter­stüt­zung der Kin­der und Din­ge wie Essen für alle Kochen unter einen Hut zu brin­gen. Wenn sie nicht da sind, ist der Tag mit Video­kon­fe­ren­zen, Mails und Tele­fo­na­ten (und am Ran­de noch ein biss­chen Par­tei­ar­beit) gut aus­ge­füllt. Über­haupt: dass jetzt auch Men­schen, bei denen ich das gar nicht erwar­tet hät­te – wie etwa unser Minis­ter­prä­si­dent – die Vor­tei­le von Video­kon­fe­ren­zen ent­de­cken, hin­ter­lässt bei mir eine gewis­se Hoff­nung, dass es auch in der Zeit nach Coro­na nicht mehr für jeden Zwei­stun­den­ter­min ein Deutsch­land­rei­se braucht. Oder, etwas loka­ler: vie­le Teilnehmer*innen des grü­nen Kreis­mit­glie­der­tref­fens im Flä­chen­land­kreis Breis­gau-Hoch­schwarz­wald stell­ten am Ende fest: geht so auch, und spart lan­ge Anfahr­ten aus dem Hoch­schwarz­wald oder dem Kai­ser­stuhl. (Und auch die Kin­der haben inzwi­schen ihre regel­mä­ßi­gen Video-Ter­mi­ne: die Pfad­fin­der machen eine Grup­pen­stun­de per Zoom, die Schu­le setzt auf Mood­le beim Lan­des­netz­werk bel­wue, dort ist Big­BlueBut­ton als Video­kon­fe­renz­sys­tem integriert.)

Also, die Tage sind gut gefüllt. Trotz­dem wird die Rou­ti­ne so ganz ohne Abwechs­lun­gen per Orts­wech­sel all­mäh­lich lang­wei­lig. Und ich mache mir Gedan­ken, ob ich mei­ne Bahn­card 100 ver­län­gern soll oder doch noch war­te. Denn auf abseh­ba­re Zeit sind wir, allen Locke­rungs­de­bat­ten zum Trotz, noch in einer vom Virus bestimm­ten Zeit, nicht in der Zeit des Danach. 

Die wird auch kom­men. Aber noch sind wir da nicht. Und ich mache mir Sor­gen, dass es län­ger dau­ert, dort­hin zu kom­men, weil jetzt zu schnell wie­der grö­ße­re Berei­che des öffent­li­chen Lebens geöff­net wer­den. Die Neu­in­fek­ti­ons­zah­len sin­ken nicht mehr, ob sie stei­gen, lässt sich noch nicht genau sagen. Aber mir macht das Angst (und ich schei­ne damit nicht allei­ne zu sein, 54 Pro­zent der Befrag­ten im Deutsch­land­trend begrü­ßen zwar Locke­run­gen, 41 Pro­zent dage­gen wol­len lie­ber an Ein­schrän­kun­gen fest­hal­ten; und wenn ich in mei­ne Time­line schaue, dann sagen rund zwei Drit­tel, dass eine bal­di­ge Kehrt­wen­de auf­grund stei­gen­der Infek­ti­ons­zah­len zu befürch­ten ist). 

Gesi­cher­ter Arbeits­platz, kei­ne mate­ri­el­len Ein­bus­sen, geteil­te Kin­der­be­treu­ung, da lässt sich natür­lich leicht für ein Fest­hal­ten an den Infek­ti­ons­schutz­maß­nah­men plä­die­ren. Und wie ich schrieb – auch mir gehen die­se Maß­nah­men all­mäh­lich auf die Ner­ven. Ich kann also nach­voll­zie­hen, war­um ande­re das anders sehen. Trotz­dem macht es mir Sor­gen. Denn bis­her sind wir halb­wegs gut gefah­ren im welt­wei­ten Ver­gleich, sofern sich das bei zusätz­li­chen Toten und ver­mut­lich vie­len nicht kom­plett Gene­se­nen (und schwe­ren Ver­läu­fen – erst all­mäh­lich wird deut­lich, wie fies Covid19 ist, und wie sehr Gefä­ße im gan­zen Kör­per ange­grif­fen wer­den) über­haupt sagen lässt. Und viel­leicht hät­te es gereicht, noch zwei, drei Wochen wei­ter har­te Kon­takt­be­schrän­kun­gen durch­zu­füh­ren, um zu einem Zustand zu kom­men, bei dem jede ein­zel­ne Neu­in­fek­ti­on zurück­ver­folgt und iso­liert wer­den kann. Da sind wir nicht.

Statt­des­sen sta­gnie­ren der­zeit die Neu­in­fek­ti­ons­zah­len mit leich­ter Ten­denz nach oben. Viel­leicht liegt das an ver­än­der­ten Test­re­gimes, an „Hot­spots“ wie Pfle­ge­hei­men und Fleisch­fa­bri­ken – oder doch dar­an, dass viel mehr Men­schen sich jetzt wie­der begeg­nen, und dass bei vie­len auch das Ver­ständ­nis für die­se Maß­nah­men weg ist. Die ja immer zu einem gro­ßen Teil auf Frei­wil­lig­keit und dem Mit­ma­chen der Bürger*innen beruh­ten. Recht behal­ten möch­te ich damit nicht, aber es wür­de mich nicht wun­dern, wenn wir in zehn Tagen vor einem neu­en stei­len Anstieg ste­hen, und dann nicht nur in ein­zel­nen Land­krei­sen, son­dern gene­rell wie­der Kon­takt­ver­bo­te und Ein­schrän­kun­gen ver­hängt wer­den müssen. 

Gleich­zei­tig erle­ben wir sehr selt­sa­me Demons­tra­tio­nen. Ich habe eine Wei­le gebraucht, um zu ver­ste­hen, was da eigent­lich vor sich geht.

„Die kri­ti­sche Situa­ti­on, auf die man sich ein­ge­stellt habe, sei ja schließ­lich nie ein­ge­tre­ten“, sagt einer von einer die­ser Demos beim SWR, und ich befürch­te, dass das ein Kern­satz ist. 

Also ers­tens, weil hier jemand in das Prä­ven­ti­ons­pa­ra­dox rein­läuft: dass es nicht zu noch mehr Toten, noch mehr schwe­ren Fäl­len, über­lau­fe­nen Kran­ken­häu­sern kam, ist ein Erfolg der Maß­nah­men. (Und Maß­nah­men sind hier nicht nur staat­li­che Kon­takt­ver­bo­te und Schlie­ßun­gen, son­dern auch frei­wil­li­ge Vor­sicht seit Mit­te März.) Die Per­son scheint dies aber nicht zu sehen, nicht sehen zu wol­len. Sie legt sich des­we­gen eine ande­re Erklä­rung zurecht. In der ist das Virus weit­ge­hend harm­los, die Maß­nah­men unnö­tig. Jetzt kommt es aber zu Erklär­be­darf, denn die Maß­nah­men wur­den ja erlas­sen und umge­setzt. War­um, so denkt sich die­se Per­son, han­delt ein Staat so? Da braucht es einen ande­ren Grund. Wel­cher ande­re Grund die kogni­ti­ve Lücke füllt, die das als harm­los ange­se­he­ne Virus füllt, wird vom Welt­bild der Per­son abhän­gen. Aber irgend­ein Grund muss gefun­den werden. 

Wenn dann drit­tens noch anschluß­fä­hi­ge „Infor­ma­tio­nen“ dazu kom­men, die begie­rig auf­ge­nom­men wer­den, und vier­tens eine bereits vor­han­de­ne Staats­skep­sis dazu kommt, links-akti­vis­tisch, eso­te­risch, bil­dungs­bür­ger­lich abge­ho­ben oder eben rechts­ra­di­kal bis reichs­bür­ge­risch, dann ist die Mischung per­fekt, und es bestä­tigt sich die Ver­mu­tung: der Staat erlässt all die­se Ver­bo­te nur, weil … – das Motiv ist gefun­den, die Empö­rung groß, dage­gen muss auf die Stra­ße gegan­gen wer­den, und media­le Kri­tik trägt nur dazu bei, das alles noch zu ver­dich­ten zu ver­fes­ti­gen und zu einem Brei zu ver­rüh­ren. Genau­so wie Bericht­erstat­tung ande­ren Anschlüs­se lie­fert, um deren eige­ne Zwei­fel zu näh­ren. Und so wächst bin­nen Tagen eine Ver­schwö­rungs­be­we­gung her­an. (P.S.: und ja, mag auch was mit gekränk­ter Männ­lich­keit zu tun haben …).

Zu beach­ten ist dabei, dass ja ins­ge­samt die Akzep­tanz der Maß­nah­men recht groß ist; auch wenn nach Zustim­mung zur Poli­tik von Bun­des­kanz­le­rin Mer­kel gefragt wird, gibt es sehr hohe Wer­te. Die­se „Bewe­gung“ macht also nur einen klei­nen Teil der Bevöl­ke­rung aus. Aber sie ist da, und sie schafft es, die Legi­ti­mi­tät einer an Infek­ti­ons­schutz ori­en­tier­ten Poli­tik in Fra­ge zu stel­len. Das scheint mir die eigent­li­che Gefahr zu sein, die davon ausgeht.

Teil einer Serie. Alle Bei­trä­ge seit Mit­te März hier nachlesen.

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