Aus Langeweile bin ich heute einmal um das Rieselfeld, also den Stadtteil Freiburgs, in dem ich wohne, herum spaziert. Was mir neu war: Das ist fast komplett jenseits von Straßen möglich; das, was ich bisher als Straßenbegleitgrün wahrgenommen habe, sind in Wirklichkeit auch am südöstlichen Rand des Stadtteils kleine lichtdurchflutete Wäldchen mit viel Holunder und Robinie, durch die sich sanfte Wege schlängeln.
Anders gesagt: allmählich gehen mir die Spazierwege aus. Das soll nicht heißen, dass meine Tage nicht gut gefüllt wären. Wenn die Kinder da sind, ist es ein ziemlicher Kampf, Home-Office, Unterstützung der Kinder und Dinge wie Essen für alle Kochen unter einen Hut zu bringen. Wenn sie nicht da sind, ist der Tag mit Videokonferenzen, Mails und Telefonaten (und am Rande noch ein bisschen Parteiarbeit) gut ausgefüllt. Überhaupt: dass jetzt auch Menschen, bei denen ich das gar nicht erwartet hätte – wie etwa unser Ministerpräsident – die Vorteile von Videokonferenzen entdecken, hinterlässt bei mir eine gewisse Hoffnung, dass es auch in der Zeit nach Corona nicht mehr für jeden Zweistundentermin ein Deutschlandreise braucht. Oder, etwas lokaler: viele Teilnehmer*innen des grünen Kreismitgliedertreffens im Flächenlandkreis Breisgau-Hochschwarzwald stellten am Ende fest: geht so auch, und spart lange Anfahrten aus dem Hochschwarzwald oder dem Kaiserstuhl. (Und auch die Kinder haben inzwischen ihre regelmäßigen Video-Termine: die Pfadfinder machen eine Gruppenstunde per Zoom, die Schule setzt auf Moodle beim Landesnetzwerk belwue, dort ist BigBlueButton als Videokonferenzsystem integriert.)
Also, die Tage sind gut gefüllt. Trotzdem wird die Routine so ganz ohne Abwechslungen per Ortswechsel allmählich langweilig. Und ich mache mir Gedanken, ob ich meine Bahncard 100 verlängern soll oder doch noch warte. Denn auf absehbare Zeit sind wir, allen Lockerungsdebatten zum Trotz, noch in einer vom Virus bestimmten Zeit, nicht in der Zeit des Danach.
Die wird auch kommen. Aber noch sind wir da nicht. Und ich mache mir Sorgen, dass es länger dauert, dorthin zu kommen, weil jetzt zu schnell wieder größere Bereiche des öffentlichen Lebens geöffnet werden. Die Neuinfektionszahlen sinken nicht mehr, ob sie steigen, lässt sich noch nicht genau sagen. Aber mir macht das Angst (und ich scheine damit nicht alleine zu sein, 54 Prozent der Befragten im Deutschlandtrend begrüßen zwar Lockerungen, 41 Prozent dagegen wollen lieber an Einschränkungen festhalten; und wenn ich in meine Timeline schaue, dann sagen rund zwei Drittel, dass eine baldige Kehrtwende aufgrund steigender Infektionszahlen zu befürchten ist).
Gesicherter Arbeitsplatz, keine materiellen Einbussen, geteilte Kinderbetreuung, da lässt sich natürlich leicht für ein Festhalten an den Infektionsschutzmaßnahmen plädieren. Und wie ich schrieb – auch mir gehen diese Maßnahmen allmählich auf die Nerven. Ich kann also nachvollziehen, warum andere das anders sehen. Trotzdem macht es mir Sorgen. Denn bisher sind wir halbwegs gut gefahren im weltweiten Vergleich, sofern sich das bei zusätzlichen Toten und vermutlich vielen nicht komplett Genesenen (und schweren Verläufen – erst allmählich wird deutlich, wie fies Covid19 ist, und wie sehr Gefäße im ganzen Körper angegriffen werden) überhaupt sagen lässt. Und vielleicht hätte es gereicht, noch zwei, drei Wochen weiter harte Kontaktbeschränkungen durchzuführen, um zu einem Zustand zu kommen, bei dem jede einzelne Neuinfektion zurückverfolgt und isoliert werden kann. Da sind wir nicht.
Stattdessen stagnieren derzeit die Neuinfektionszahlen mit leichter Tendenz nach oben. Vielleicht liegt das an veränderten Testregimes, an „Hotspots“ wie Pflegeheimen und Fleischfabriken – oder doch daran, dass viel mehr Menschen sich jetzt wieder begegnen, und dass bei vielen auch das Verständnis für diese Maßnahmen weg ist. Die ja immer zu einem großen Teil auf Freiwilligkeit und dem Mitmachen der Bürger*innen beruhten. Recht behalten möchte ich damit nicht, aber es würde mich nicht wundern, wenn wir in zehn Tagen vor einem neuen steilen Anstieg stehen, und dann nicht nur in einzelnen Landkreisen, sondern generell wieder Kontaktverbote und Einschränkungen verhängt werden müssen.
Gleichzeitig erleben wir sehr seltsame Demonstrationen. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu verstehen, was da eigentlich vor sich geht.
„Die kritische Situation, auf die man sich eingestellt habe, sei ja schließlich nie eingetreten“, sagt einer von einer dieser Demos beim SWR, und ich befürchte, dass das ein Kernsatz ist.
Also erstens, weil hier jemand in das Präventionsparadox reinläuft: dass es nicht zu noch mehr Toten, noch mehr schweren Fällen, überlaufenen Krankenhäusern kam, ist ein Erfolg der Maßnahmen. (Und Maßnahmen sind hier nicht nur staatliche Kontaktverbote und Schließungen, sondern auch freiwillige Vorsicht seit Mitte März.) Die Person scheint dies aber nicht zu sehen, nicht sehen zu wollen. Sie legt sich deswegen eine andere Erklärung zurecht. In der ist das Virus weitgehend harmlos, die Maßnahmen unnötig. Jetzt kommt es aber zu Erklärbedarf, denn die Maßnahmen wurden ja erlassen und umgesetzt. Warum, so denkt sich diese Person, handelt ein Staat so? Da braucht es einen anderen Grund. Welcher andere Grund die kognitive Lücke füllt, die das als harmlos angesehene Virus füllt, wird vom Weltbild der Person abhängen. Aber irgendein Grund muss gefunden werden.
Wenn dann drittens noch anschlußfähige „Informationen“ dazu kommen, die begierig aufgenommen werden, und viertens eine bereits vorhandene Staatsskepsis dazu kommt, links-aktivistisch, esoterisch, bildungsbürgerlich abgehoben oder eben rechtsradikal bis reichsbürgerisch, dann ist die Mischung perfekt, und es bestätigt sich die Vermutung: der Staat erlässt all diese Verbote nur, weil … – das Motiv ist gefunden, die Empörung groß, dagegen muss auf die Straße gegangen werden, und mediale Kritik trägt nur dazu bei, das alles noch zu verdichten zu verfestigen und zu einem Brei zu verrühren. Genauso wie Berichterstattung anderen Anschlüsse liefert, um deren eigene Zweifel zu nähren. Und so wächst binnen Tagen eine Verschwörungsbewegung heran. (P.S.: und ja, mag auch was mit gekränkter Männlichkeit zu tun haben …).
Zu beachten ist dabei, dass ja insgesamt die Akzeptanz der Maßnahmen recht groß ist; auch wenn nach Zustimmung zur Politik von Bundeskanzlerin Merkel gefragt wird, gibt es sehr hohe Werte. Diese „Bewegung“ macht also nur einen kleinen Teil der Bevölkerung aus. Aber sie ist da, und sie schafft es, die Legitimität einer an Infektionsschutz orientierten Politik in Frage zu stellen. Das scheint mir die eigentliche Gefahr zu sein, die davon ausgeht.
Teil einer Serie. Alle Beiträge seit Mitte März hier nachlesen.
Eine Antwort auf „Zeit des Virus, Update IV“