Das, was selbstverständlich ist, sehen wir nicht. Aber trotzdem prägt es unser Denken und unser Handeln. Diese simple Feststellung hat erhebliche Auswirkungen auf jede Politik, die darauf zielt, individuelles Handeln, individuelle Praktiken zu verändern.
Mir fällt das, was ich als selbstverständlich annehme, immer dann auf, wenn ich in einer anderen Stadt bin. Und ich meine damit zunächst noch nicht einmal den besonderen Zeitgeist, das Lebensgefühl, das Freiburg auszeichnet, sondern einfache Dinge, die technisch gerne als „Nahversorgung“ bezeichnet werden.
Wenn ich in meinem Stadtteil einen Umkreis um meine Wohnung ziehe, dann kann ich innerhalb von fünf Minuten Fußweg fast alles finden, was ich täglich brauche. Mehrere Bäckerketten, einen Bioladen, einen gut sortierten Edeka. Der Markt, zweimal in der Woche. Die öffentliche Bibliothek, diverse Jugendeinrichtungen. Die Grundschule, auf die meine Kinder gegangen sind. Die Kita des einen Kindes war fußläufig, der Waldkindergarten des anderen nur wenige Minuten Radweg weiter weg. Der Wald, das Naturschutzgebiet – all das liegt fußläufig. Und auch bis zur Straßenbahnhaltestelle sind es nur wenige Minuten. Bis zur Schule der Kinder sind es weniger als zehn Minuten Straßenbahnfahrt, bis in die Innenstadt und zum Bahnhof vielleicht zwanzig Minuten mit dem Rad oder mit der Straßenbahn. Inzwischen gibt es auch wieder eine Poststelle im Stadtteil. Ein Fahrradladen ist da, ein Optiker, mein Zahnarzt, eine Station des Leihradbetreibers der Stadt, oder, für mich ohne Führerschein weniger interessant, diverse Carsharing-Stellplätze …
Zusammen mit einer recht schnellen VDSL-Anbindung und Straßen, die im ganzen Stadtteil auf Tempo 30, teilweise auf Tempo 20 begrenzt sind oder Spielstraßen sind, bildet das alles die (soziale) Infrastruktur, die ich inzwischen selbstverständlich finde. (Über die Miethöhe rede ich jetzt mal nicht …).
Diese soziale Infrastruktur macht es leicht, sich ökologisch zu verhalten. Ein kleines Beispiel: vegetarische Produkte finde ich nicht nur im Bioladen, sondern auch im Edeka, ein großes Regal voll. Dass das nicht überall so ist, habe ich gemerkt, als ich bei meiner Schwester in einem der Bonner Stadtteile in den örtlichen Edeka gegangen bin. Mit etwas Glück war dort, irgendwo versteckt, eine Sorte Tofuwürstchen zu finden. Diesmal hatte ich beim Besuch dort deswegen welche im Gepäck. Das gleiche Spiel ließ sich mit regionalem Gemüse durchspielen. Oder mit Bio-Milch.
Ich erzähle das nicht, weil ich alle davon überzeugen möchte, Vegetarier*innen zu werden. Sondern, weil diese Art der infrastrukturellen Verfügbarkeit in gewisser Weise ein Privileg ist. Es ist relativ einfach, einen ökologischen Lebensstil zu pflegen, wenn der Aufwand, sich dafür zu entscheiden, gering ist.
Dazu zählt nicht nur die „materielle“ Infrastruktur, sondern selbstverständlich auch, etwas weicher, die Frage, was als selbstverständlich anerkannt ist, wofür sich jemand rechtfertigen muss, was erwartet wird. Das steht allerdings in Wechselwirkung zu dem, was gewohnheitsmäßig möglich ist. Und erst beides zusammen schafft und stärkt immer wieder die Voraussetzungen dafür, dass sich individuelles Verhalten verändert.
Ein Verzicht auf das Auto fällt in der Stadt leicht, erst recht in einer Stadt, die ein gutes Radverkehrsnetz und ein hervorragendes Straßenbahnnetz hat. Das macht eine Stadt nicht autofrei, senkt aber doch den Anteil der Autobesitzer*innen erheblich.
Aber, deswegen das Wort vom Privileg: wenn schon in derartigen Verhältnissen, sich nicht alle für ökologische Optionen entscheiden, obwohl die Verhältnisse geradezu dazu drängen, wäre es vermessen, solche Entscheidungen da zu erwarten, wo die Fallhöhe und der Aufwand erheblich größer sind. Da, wo der Bus nur alle zwei Stunden fährt, da, wo „Seitan“ ein seltsames Fremdwort ist und kein Supermarktprodukt.
Die politische Moral daraus ist eine doppelte: zum einen hilft es, sich immer mal wieder bewusst zu machen, dass nicht jeder und jede in den gleichen Selbstverständlichkeiten lebt. Und zum anderen scheint mir der Aufbau und die Unterstützung einer derartigen Infrastruktur ein sehr wirksamer Hebel dafür zu sein, die notwendigen Veränderungen zu beschleunigen – von pionierhaften Anfängen zu sich selbst verfestigenden Strukturen. Das ist dann politische Aufgabe!
P.S.: Und nebenbei unterstreicht das nochmal, dass es falsch ist, nur oder in erster Linie auf Verbrauchermacht zu setzen – der tieferliegende Teil des Eisbergs beruht auf politischen Entscheidungen über Rahmenbedingungen, über Ordnungsrecht, über Förderprogramme – erst daraus entsteht der Raum, in dem Angebot und Nachfrage erst spielen können.