Herzkammern der Partei in der Wachstumsphase

Ich kom­me gera­de von mei­ner letz­ten BAG-Akti­vi­tät – der Grund­satz­aka­de­mie der Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaf­ten (BAGen) von Bünd­nis 90/Die Grü­nen. Auch wenn ich seit Mai nach zwölf Jah­ren jetzt nicht mehr Spre­cher der Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft Wis­sen­schaft, Hoch­schu­le, Tech­no­lo­gie­po­li­tik bin – da muss­te ich jetzt doch noch hin.

Seit Frei­tag bis heu­te Mit­tag haben unge­fähr 400 grü­ne Mit­glie­der am Wer­bel­lin­see in Bran­den­burg getagt. Ehren­amt­lich und selbst­or­ga­ni­siert. Gegen­stand des Gan­zen war ins­be­son­de­re der Zwi­schen­be­richt für das neue grü­ne Grund­satz­pro­gramm, auch wenn das bei wei­tem nicht das ein­zi­ge The­ma war, das in den Ple­nen und Work­shops hoch und run­ter dis­ku­tiert wur­de. 2019 ging es natür­lich auch um die Fra­ge, wie radi­kal grü­ne Kli­ma­po­li­tik sein muss – und um das gan­ze Spek­trum grü­ner The­men, von glo­ba­ler Gerech­tig­keit bis zur Fra­ge, wie eine viel­fäl­ti­ge Gesell­schaft gestal­tet sein kann.

Ins­be­son­de­re die bei­den Sprecher*innen des BAG-Sprecher*innen-Rats, Katha­ri­na Beck und Jens Par­ker, haben einen rie­sen­gro­ßen Anteil dar­an, dass die­se Grund­satz­aka­de­mie zustan­de gekom­men ist – und dass sie von einem Geist des kon­struk­ti­ven Aus­tau­sches durch­tränkt war.

Beson­ders span­nend fand ich in die­ser Hin­sicht ein Panel u.a. mit Ricar­da Lang und Jür­gen Trit­tin zur grü­nen Kul­tur, hier zu ver­ste­hen als Orga­ni­sa­ti­ons­kul­tur. Das war durch­aus auf­schluss­reich. Wer ist bei uns ver­tre­ten? Wie soli­da­risch sind wir als – letzt­lich im Medi­um Macht ope­rie­ren­de – Par­tei? Und vor allem auch: Wie orga­ni­sie­ren wir den Wan­del, der mit dem der­zeit extrem schnel­len Wachs­tum der Mit­glieds­zah­len ver­bun­den ist? Von 60.000 auf 90.000 seit der Bun­des­tags­wahl, das ist in etwa die Dimen­si­on, über die wir hier reden.

Das betrifft auch die BAGen. Ich weiß nicht, wie deren Gegen­stück in ande­ren Par­tei­en orga­ni­siert ist. Bei uns sind die BAGen rund zwei Dut­zend Arbeits­ge­mein­schaft, über­wie­gend jeweils einem poli­ti­schen The­men­feld zuge­ord­net. Die BAGen arbei­ten vor allem nach innen, indem sie – etwa in den drei bis vier Mal im Jahr statt­fin­den­den Sit­zun­gen – den Aus­tausch inner­halb der Par­tei orga­ni­sie­ren, indem sie the­ma­ti­sche Posi­tio­nie­run­gen ent­wi­ckeln oder fort­schrei­ben, und indem sie Anträ­ge an die Bun­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz – also unse­ren Par­tei­tag – stellen.

Das geschieht kom­plett ehren­amt­lich. Jede BAG hat ein Bud­get für z.B. Referent*innen-Fahrtkosten oder Kos­ten für Tagungs­räu­me. Dane­ben erstat­ten die Lan­des­ver­bän­de den Dele­gier­ten, die an BAG-Sit­zun­gen teil­neh­men, Fahrt- und Unter­brin­gungs­kos­ten. That’s it.

Mit­glie­der der BAGen sind je zwei Dele­gier­te je Land, die zumeist von Lan­des­ar­beits­ge­mein­schaf­ten ent­sandt wer­den (zwei, weil wir quo­tie­ren). Dazu kom­men Vertreter*innen der Frak­tio­nen (Euro­pa, Bund, Land­ta­ge) und der Grü­nen Jugend. Manch­mal schau­en auch Bun­des­vor­stands­mit­glie­der vor­bei. Zudem kön­nen in begrenz­tem Umfang Fach­leu­te koop­tiert wer­den. Die BAGen orga­ni­sie­ren sich selbst. Unter ande­rem wäh­len sie Sprecher*innen (die sich dann wie­der­um im Sprecher*innen-Rat zusam­men set­zen, um unter ande­rem gemein­sa­me Aktio­nen wie die ein­gangs erwähn­te Grund­satz­aka­de­mie zu planen).

Wäh­rend hier also ein Dele­ga­ti­ons­prin­zip gilt – das dadurch auf­ge­weicht ist, dass auch BAG-Sit­zun­gen par­tei­öf­fent­lich sind – gilt das nicht für die dele­gie­ren­den Lan­des­ar­beits­ge­mein­schaf­ten oder Lan­des­ar­beits­krei­se. Grö­ße­re Kreis­ver­bän­de haben mög­li­cher­wei­se fach­li­che Arbeits­krei­se, aber selbst die größ­ten KVs kön­nen nicht die The­men­viel­falt der BAGen abbil­den. In gewis­sem Maß gilt das auch für Lan­des­ver­bän­de. Man­che BAGen haben kei­ne Ent­spre­chung in jedem Land, teil­wei­se sind The­men zusam­men­ge­legt oder anders zuge­schnit­ten. Gera­de in den Flä­chen­län­dern ist die Teil­nah­me an LAGen zudem mit Hür­den ver­se­hen: Oft fin­den Sit­zun­gen am Abend statt, Tagungs­or­te müs­sen erreicht wer­den – eine Sit­zung unter der Woche abends in Stutt­gart ist mit Kos­ten und Zeit­be­dar­fen ver­se­hen. Die tat­säch­li­che Zahl an Akti­ven in einer LAG ist daher oft über­schau­bar. Wer an die­sen Sit­zun­gen teil­nimmt, macht das oft, weil er oder sie für ein The­ma brennt. Und auch hier: Ehrenamt.

Die LAGen wäh­len dann aus ihrer Mit­te Dele­gier­te, die an den BAG-Sit­zun­gen teil­neh­men. Das ist einer­seits ein inter­es­san­tes Par­tei­amt, ande­rer­seits aber wie­der­um damit ver­bun­den, eini­ges an Zeit zu inves­tie­ren. Spe­sen wer­den erstat­tet, eine Auf­wands­ent­schä­di­gung gibt es nicht – dafür meh­re­re Wochen­en­den im Jahr mit Sit­zun­gen und Exkur­sio­nen; in eini­gen BAGen ger­ne in Ber­lin, ande­re wan­dern mit ihren Tagungs­or­ten durch die Republik.

Kurz gesagt: BAG-Dele­gier­te sind Men­schen, die Herz­blut in ein bestimm­tes fach­li­ches Feld ste­cken, und die die Mög­lich­keit haben, ihre Zeit da rein zu ste­cken. Dabei gibt es kei­ne Kon­kur­renz zwi­schen gewähl­ten Abge­ord­ne­ten und „Basis­mit­glie­dern“, weil erst­ge­nann­te eige­ne Dele­gier­ten­plät­ze in den BAGen haben (teil­wei­se gibt es kon­kur­rie­rend zum BAG-Prin­zip auch Tref­fen der fach­lich ver­bun­de­nen Abge­ord­ne­ten aus Bund und Län­dern, dar­um soll es hier aber nicht gehen). Enga­ge­ment in einer BAG ist eine gute Mög­lich­keit, sich in der Par­tei fach­lich einen Namen zu machen.

Es gibt sicher­lich unter­schied­li­che Ein­schät­zun­gen, wie wich­tig die BAGen inner­par­tei­lich sind. Das Spek­trum reicht von „bes­ser igno­rie­ren“ und „läs­tig“ bis „wert­voll“. Ten­den­zi­ell sit­zen in den BAGen die­je­ni­gen, die fach­li­che Exper­ti­se (und die Nähe etwa zu NGOs aus dem jewei­li­gen Feld) wich­ti­ger fin­den als stra­te­gi­sche Erwä­gun­gen. Ent­spre­chend passt das Bild von den inhalt­li­chen Herz­kam­mern der Par­tei, die – recht unge­bun­den – unse­re inhalt­li­che Wei­ter­ent­wick­lung auch gegen Wider­stän­de vor­an­trei­ben. Das zeigt sich etwa beim Blick auf Ände­rungs­an­trä­ge zu Wahlprogrammen.

(Selbst­ver­ständ­lich kann es auch vor­kom­men, dass fach­li­che Per­spek­ti­ven unter­schied­li­cher BAGen kon­flik­tär auf­ein­an­der pral­len – etwa in einem Feld wie der Gen­tech­nik. Umso bemer­kens­wer­ter und wich­ti­ger sind daher auf der Basis eines respekt­vol­len Umgangs mit­ein­an­der ste­hen­de Austauschprozesse.)

Um nach die­sem lan­gen Bogen wie­der zurück­zu­kom­men: In einer rela­tiv klei­nen Par­tei funk­tio­niert die­se ehren­amt­li­che Säu­le inhalt­li­cher Arbeit (neben den Akti­vi­tä­ten der Vor­stän­de, der Frak­tio­nen und der Böll-Stif­tung) gut, auch wenn im Pro­zess, in eine BAG zu kom­men, auch unge­wünsch­te Selek­ti­ons­ef­fek­te wir­ken. Die­ser Effek­te soll­ten wir uns bewusst sein. Geschlecht ist dabei nur ein Faktor.

Was aber, wenn wir eines Tages ein­mal 100.000 oder gar 200.000 Mit­glie­der haben soll­ten? Wie sehen dann die Kanä­le aus, mit denen das mit einer sol­chen Zahl ver­bun­de­ne Wis­sen in die inhalt­li­che Ent­wick­lung von Bünd­nis 90/Die Grü­nen einfließt?

Dis­ku­tiert wer­den kann bei­spiels­wei­se über digi­ta­le Tools, um Dis­kus­sio­nen brei­ter auf­zu­stel­len. Aber viel­leicht lenkt das auch eher ab. Jeden­falls wür­de dazu auch gehö­ren, zu klä­ren, wie das Ver­hält­nis zwi­schen BAG-inter­nen Debat­ten (auf Mai­ling­lis­ten oder ande­ren Tools) und all­ge­mei­nen par­tei­in­ter­nen Debat­ten­tools aussieht.

Bis­her kom­men in den BAGen 20, 30, bei den ganz gro­ßen viel­leicht auch ein­mal 40 Leu­te zur Sit­zung. Damit lässt sich kom­mu­ni­ka­tiv arbei­ten. Anders wür­de es aus­se­hen, wenn zum Bei­spiel die Zahl der Dele­gier­ten ins­ge­samt oder für die gro­ßen Lan­des­ver­bän­de ver­grö­ßert wür­de. Dann wür­de der Cha­rak­ter schnell von „run­der Tisch“ zu „par­la­men­ta­ri­sche Sit­zung“ kip­pen. Ob so etwas gewünscht wäre, müss­te gut abge­wo­gen werden.

Dis­ku­tiert wer­den könn­te auch dar­über, ob die LAGen – die in jedem Land anders auf­ge­stellt sind – wei­ter­ent­wi­ckelt wer­den müss­ten. Wer sich fach­lich inter­es­siert, stößt schnell auf die BAG, und ist dann mög­li­cher­wei­se ent­täuscht, wenn vor einer Teil­nah­me jen­seits eines Gast­sta­tus Hür­den wie die Dele­gier­ten­wahl ste­hen. Je attrak­ti­ver und sicht­ba­rer die LAGen sind, des­to stär­ker dürf­te auch das Inter­es­se an einer fach­li­chen Mit­ar­beit auf Lan­des­ebe­ne sein. Dazu gehört dann auch die (im zeit­li­chen Ablauf manch­mal schwie­ri­ge) Rück­kopp­lung aus der BAG in die LAG.

Jeden­falls bin ich über­zeugt davon, dass Bünd­nis 90/Die Grü­nen ohne die­se Säu­le des Ehren­amts ärmer dran wären – im Hin­blick auf das stän­di­ge fach­li­che Getrie­ben­wer­den, aber auch, weil damit ein drit­ter Ort der Sozia­li­sa­ti­on und Rekru­tie­rung jen­seits von Kreis­ver­bän­den und Frak­tio­nen feh­len wür­de. Des­we­gen fin­de ich es – als ein Ding, das ich von der Grund­satz­aka­de­mie mit­neh­me – wich­tig, jetzt dar­über nach­zu­den­ken, wie BAGen orga­ni­sa­to­risch und kul­tu­rell wei­ter­ent­wi­ckelt wer­den kön­nen und müssen.

War­um blog­ge ich das? Um eini­ge Punk­te aus ver­schie­de­nen Debat­ten auf der Grund­satz­aka­de­mie der BAGen mal zu Papier zu bringen.

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