Google-Welt und/oder Wikipedia-Welt

Dandelion world VIII (the dancer)

Heu­te hat das Euro­päi­sche Par­la­ment mehr­heit­lich ent­schie­den, die Emp­feh­lung des Rechts­aus­schus­ses für ein euro­päi­sches Leis­tungs­schutz­recht und Upload­fil­ter nicht direkt anzu­neh­men, son­dern im Sep­tem­ber im Ple­num zu behan­deln und damit auch Ände­rungs­an­trä­ge zu ermög­li­chen. Das passt ganz gut zu einer Unter­schei­dung, die mir vor ein paar Tagen ein­fiel, als es dar­um ging, sich die Zukunft der Medi­en im Jahr 2030 vorzustellen. 

Mei­ne The­se war: wir kön­nen 2030 (naja, eigent­lich heu­te schon) ent­we­der in einer Goog­le-Welt oder in einer Wiki­pe­dia-Welt auf­wa­chen. Bei­de Begrif­fe sind unscharf und erklä­rungs­be­dürf­tig, und statt Goog­le-Welt könn­te da auch Face­book-Welt oder Ama­zon-Welt oder Ten­cent-Welt ste­hen, statt Wiki­pe­dia-Welt auch Linux-Welt oder Open-Know­leg­de-Welt. Unscharf sind die Begrif­fe, weil es fak­tisch nicht um zwei getrenn­te Wel­ten geht, son­dern unzäh­li­ge Quer­ver­bin­dun­gen bestehen. Wiki­pe­dia wäre ohne Goog­le nie zu dem gewor­den, was sie heu­te ist, viel­leicht wäre auch die füh­ren­de Such­ma­schi­ne weni­ger erfolg­reich, wenn sie nicht auch auf das in der Wiki­pe­dia ange­sam­mel­te Wis­sen zurück­grei­fen wür­de. Oder, um einen Blick auf Android zu wer­fen: das Goog­le-Betriebs­sys­tem beruht zu gro­ßen Tei­len auf Open-Source-Soft­ware, und anders­her­um flie­ßen Ent­wick­lun­gen von Goog­le auch in die Open-Source-Welt zurück.

Also: zwei auf den zwei­ten Blick gar nicht so gut geeig­ne­te Begrif­fe, aber trotz­dem glau­be ich, dass sie ide­al­ty­pisch zuge­spitzt zwei kon­kur­rie­ren­de Welt- und Men­schen­bil­der beschrei­ben und damit doch ganz gut geeig­net sind, Aus­sa­gen über mor­gen zu treffen.

Vor der Klam­mer: in bei­den Fäl­len tre­ten Platt­form-Effek­te auf. Dass „das Netz“ sich in den letz­ten Jah­ren mehr und mehr auf eine an zwei Hän­den abzähl­ba­re Zahl an gro­ßen Platt­for­men redu­ziert hat, fin­det da wie dort statt und hat etwas mit Ska­len- und Netz­werk­ef­fek­ten zu tun. 

Was also macht die Goog­le-Welt aus? Für mich wür­de die­ser Begriff ein Netz bezeich­nen, das vor allem durch gro­ße kom­mer­zi­el­le Ein­hei­ten struk­tu­riert ist, die als Gate­kee­per agie­ren. Nutzer*innen sind in zwei­er­lei Hin­sicht inter­es­sant: als Daten- und Con­tent­quel­le für die kom­mer­zi­el­le Ver­wer­tung, und in zwei­ter Hin­sicht als eine Art Kund*innen, die weit­ge­hend pas­siv Inhal­te kon­su­mie­ren. „Eine Art“, weil die Zah­lungs­strö­me anders lau­fen, als wir uns das bei Ver­käu­fer-Käu­fe­rin-Bezie­hun­gen übli­cher­wei­se vor­stel­len. Das Netz wird auf die­ses Nutzer*innen-Bild hin opti­miert. Das führt dann zu Radi­ka­li­sie­rungs­ef­fek­ten in You­Tube, selt­sa­men Debat­ten­bla­sen bei Face­book, und per­so­na­li­siert-opti­mier­ten Ange­bo­ten von der Wer­bung über die Rou­ten­pla­nung bis zum Einkaufswagen.

Ohne näher hin­zu­se­hen, könn­te die Wiki­pe­dia-Welt mit der Goog­le-Welt ver­wech­selt wer­den. Auch hier gibt es domi­nie­ren­de gro­ße Pro­jek­te wie eben die Wiki­pe­dia, oder die gro­ßen Linux-Dis­tri­bu­tio­nen, oder Open Street Maps, oder … Und die­se Ange­bo­te kön­nen eben­so genutzt wer­den wie die der Goog­le-Welt: kos­ten­frei und weit­ge­hend pas­siv. Trotz­dem steckt ein ande­res Bild der Nutzer*innen dahin­ter. Auch wenn die gro­ße Mehr­zahl davon im pas­siv-kon­su­mie­ren­den Modus ver­bleibt, ist doch immer das Poten­zi­al da, zu einem der gro­ßen Pro­jek­te bei­zu­tra­gen, es zu ver­bes­sern und mit­zu­ge­stal­ten. (In der Pra­xis ist das mög­li­cher­wei­se weni­ger ein­fach, als es auf dem Papier klingt – aber mir geht’s jetzt um das Poten­zi­al, nicht um die tat­säch­li­che Nut­zungs­pra­xis). Auch die Wiki­pe­dia kann kom­mer­zi­ell genutzt wer­den (ihre Lizenz ermög­licht das). Aber die betei­lig­ten Men­schen wer­den nicht in ers­ter Linie als opti­mier­ba­re Ziel­grup­pe betrach­tet. Wenn die Grund­hal­tung in der Goog­le-Welt kom­mer­zi­ell und pas­siv ist, dann ist sie hier par­ti­zi­pa­tiv und aktiv. 

Wäh­rend das Netz in einem Modus groß gewor­den ist, der stark der Wiki­pe­dia-Welt ähnelt, domi­niert in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung heu­te das Bild der Goog­le-Welt. Mäch­ti­ge Kon­zer­ne ver­wer­ten Inhal­te und bestimm­ten, wer was zu sehen bekommt. Empi­ri­sche Daten wie Zugriffs­zah­len bestä­ti­gen die­se Deutung. 

Ent­spre­chend reagiert die Poli­tik und setzt auf Regu­lie­run­gen, die kom­pa­ti­bel zu einer Goog­le-Welt sind: in die­ser Sicht­wei­se geht es dar­um, Tritt­brett­fah­rer­tum zu unter­bin­den und sicher­zu­stel­len, dass bei­spiels­wei­se Urheber*innen krea­ti­ver Wer­ke am digi­ta­len Reich­tum par­ti­zi­pie­ren. Wei­ter­ge­dacht, kom­men dann Ver­trä­ge mit Ver­wer­tungs­ge­sell­schaf­ten, Leis­tungs­schutz­rech­te, Upload-Fil­ter und der­glei­chen mehr dabei her­aus. Das kom­mer­zi­el­le Netz wird durch gro­ße, oli­go­po­lis­ti­sche Kon­zer­ne gestal­tet, und Poli­tik heißt, deren Macht ein­zu­he­gen und zu regulieren.

Dum­mer­wei­se kol­li­diert die­se Art der Regu­lie­rung mit der Wiki­pe­dia-Welt. Wie gesagt, ober­fläch­lich könn­te sie mit der Goog­le-Welt ver­wech­selt wer­den. Aber die Motiv­la­gen und Men­schen­bil­der sind ande­re. Wer sich an der Wiki­pe­dia betei­ligt, tut das nicht, um reich zu wer­den, son­dern um etwas zu kor­ri­gie­ren, was falsch im Netz steht. Open Source ist die Grund­la­ge eines flo­rie­ren­den Wirt­schafts­zweigs – aber Open Source kann eben auch ein­fach so genutzt, ver­än­dert und ver­bes­sert wer­den. Und in die­ser Welt pas­sen die Regu­lie­rungs­an­sät­ze der Goog­le-Welt nicht, und auch die Aus­nah­me für den nicht­kom­mer­zi­el­len Bereich trifft den Kern der Unter­schei­dung nicht.

Poli­tisch erscheint mir – aber das ist wie­der­um mein Men­schen­bild – die Wiki­pe­dia-Welt als das bes­se­re Leit­bild für 2030. Ich glau­be übri­gens, dass auch vie­le Men­schen, die kom­mer­zi­el­le Platt­for­men nut­zen, dies nicht der Mone­ta­ri­sie­rung, der SEO-Opti­mie­rung oder der Klick­reich­wei­te wegen tun, son­dern weil sie sich mit­tei­len wol­len, weil sie etwas tei­len wol­len, viel­leicht sogar, weil sie die Welt ver­bes­sern wol­len. Und wie schon ange­spro­chen: auch tech­nisch, auch orga­ni­sa­to­risch sind die­se Wel­ten nicht so getrennt, wie ich sie jetzt dar­ge­stellt habe.

Kurz­fris­tig heißt das für mich: jede Form der Inter­net­re­gu­lie­rung ist nur dann gut, wenn sie die Fol­gen für die Wiki­pe­dia-Welt mit­denkt. Län­ger­fris­tig stellt sich die Fra­ge (auf die ich auch kei­ne gute Ant­wort habe), wie Poli­tik dazu bei­tra­gen kann, das Inter­net als Reich der Frei­heit zu erhal­ten, ohne es ein paar gro­ßen Kon­zer­nen zu über­las­sen. Und erst recht nicht, wenn das als glo­ba­le und nicht als euro­päi­sche Fra­ge dis­ku­tiert wird.

War­um blog­ge ich das? Weil die heu­ti­ge Abstim­mung ein will­kom­me­ner Anlass ist, um die­sen Gedan­ken mal auszuformulieren.

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