Dauerschleifen

Merry lettuce snails I

Patri­cia Camma­ra­ta hat was über die Gesell­schaft der Live­ti­cker auf­ge­schrie­ben, und ja, da ist eini­ges dran. Ich, eben­falls Jahr­gang 1975, zwar immer schon poli­tisch inter­es­siert, aber eben­falls lan­ge ohne Fern­se­her, kann mich noch gut an die Zeit erin­nern, als Ereig­nis­se am nächs­ten Tag in den Zei­tun­gen stan­den. Oder viel­leicht eine hal­be Minu­te in den Radio­nach­rich­ten ein­ge­nom­men haben. Jour­na­lis­tisch gefil­tert, zwar sicher­lich auch mit Mei­nung, aber nicht in einem Sumpf von Spe­ku­la­ti­on in Dau­er­schlei­fe ausgebreitet.

Es gibt eine Sehn­sucht nach ein­fa­che­ren Zei­ten. In der nost­al­gi­schen Ver­klä­rung der Ver­gan­gen­heit, mit dem Blick auf den eige­nen Erfah­rungs­ho­ri­zont, erscheint 2016 als das Jahr, in dem die Welt ins Cha­os stürzt. Emo­tio­nal geht mir das auch so. 

Die Fak­ten sind kom­pli­zier­ter (Kli­ma­wan­del: allen Mes­sun­gen zu Fol­ge höchst besorg­nis­er­re­gend; Ter­ror im Wes­ten: nach einer zehn­jäh­ri­gen Pau­se seit 2015 wie­der zuneh­mend, und zwar in einer schwer zu fas­sen­den, da trans­na­tio­na­len Form; Krie­ge und Flucht: wir sind direk­ter betrof­fen; Rechts­po­pu­lis­mus welt­weit: ich kann nicht wirk­lich ein­schät­zen, ob ein Prä­si­dent Trump schlim­mer als Rea­gan wäre, und ob die Faschis­mus-Ver­glei­che zie­hen, was der Brexit mit UK macht, und ob die AfD dau­er­haf­ter als die REPs und die CSU der 1990er wirkt – dito: Tür­kei und Erdo­gan; Zer­fall Euro­pas: die EU stand schon mal bes­ser da, ich kann mich aber auch an die lin­ken Debat­ten der 1990er Jah­re über das „Mons­ter Brüs­sel“ erinnern …). 

Anders als in dem Text von Camma­ra­ta beschrie­ben, kann ich mich aller­dings durch­aus dar­an erin­nern, dass auch die 1980er und 1990er Zei­ten der Furcht waren. Kal­ter Krieg. Ras­ter­fahn­dung. Volks­zäh­lung. Die Öko-Apo­ka­lyp­se vor der Tür. Und dann Tscher­no­byl. Neu­er Natio­na­lis­mus nach der deutsch-deut­schen Ver­ei­ni­gung mit Hass und Gewalt. Auch das gehör­te zum Geist die­ser Jahrzehnte.

Aber, und damit sind wir wie­der bei den Live­ti­ckern, es waren doch ins­ge­samt (Tscher­no­byl ist hier eine der Aus­nah­men) eher Stim­mun­gen als Ereig­nis­se. Ich kann mich nicht dar­an erin­nern, dass es damals schon die­ses Gefühl gab, das mor­gen schon die nächs­te Kata­stro­phe kon­kret wer­den könn­te, und jede und jeder fast live dabei. 

Viel­leicht ist das eines der Geheim­nis­se der ein­fa­che­ren Zei­ten: Räum­li­che und zeit­li­che Distan­zen waren grö­ßer, und Bedro­hun­gen wirk­ten auch dadurch weni­ger kon­kret. Erst am nächs­ten Tag davon zu lesen, dass es einen Anschlag in Niz­za, einen Amok­lauf in Mün­chen gege­ben hat, macht die Ereig­nis­se nicht weni­ger grau­sam und berüh­rend, schafft aber doch Distanz.

So aber herrscht bei eini­ger­ma­ßen poli­tisch inter­es­sier­ten Men­schen mit Social-Media-Zugang das Gefühl vor, fast schon die Pflicht zu haben, jede Spe­ku­la­ti­on, jede Wen­dung, jede Theo­rie selbst­er­nann­ter Expert*innen wahr­neh­men und sor­tie­ren zu müs­sen. Ereig­nis­se füh­ren sofort zu mono­the­ma­ti­schen Time­lines. Und die inten­si­ve Beschäf­ti­gung erzeugt Nähe, erzeugt noch viel Stär­ker ein Gefühl des Dabei­seins, der Betei­li­gung, der direk­ten Betrof­fen­heit, auch ein Gefühl des: beim nächs­ten Mal könn­te es hier sein. Und der Ver­such der alten Medi­en, mit Dau­er­schlei­fen, Live­streams und Tickern an die­se dezen­tra­li­sier­ten Exper­ti­se teil­zu­ha­ben, ver­stärkt all die­se Effek­te nur noch. Dazwi­schen sit­zen dann mehr oder weni­ger pro­fes­sio­nell agie­ren­de Spindoktor*innen, die ver­su­chen, den Auf­merk­sam­keits­fo­kus für ihre Zwe­cke zu nutzen. 

Sehn­sucht nach ein­fa­che­ren Zei­ten, nach geord­ne­ten Infor­ma­tio­nen zu den Sachen, die sind, jen­seits der viel­tau­send­fa­cet­ten­rei­chen Spe­ku­la­ti­on – viel­leicht auch des­we­gen wur­de der Pres­se­spre­cher der Mün­che­ner Poli­zei, der sach­lich und ruhig sei­nen Job mach­te, und sich wei­ger­te, sich auf Spe­ku­la­tio­nen ein­zu­las­sen, fast schon zum Medi­en­star. (Und ja: die Mün­che­ner Poli­zei hat ges­tern auch die sozia­len Medi­en sehr pro­fes­sio­nell bespielt und genutzt. Das ist so.)

In einer ver­netz­ten Welt über­all live dabei sein zu, mul­ti­pli­ziert unse­ren Ereig­nis­ho­ri­zont. Es pas­siert eben nicht mehr genau soviel, dass es in eine Zei­tung passt, son­dern Ereig­nis­se in unbe­grenz­ter Zahl kön­nen gleich­zei­tig auf uns ein­stür­men (und sind kurz dar­auf wie­der ver­ges­sen, von ande­ren Ereig­nis­sen über­la­gert, selbst wenn sie es ein­mal in den Dau­er­schlei­fen-Ruhm geschafft haben). Die lang­fris­ti­ge Ein­ord­nung, die Ana­ly­se, die dar­aus resul­tie­ren­den poli­ti­schen Optio­nen: das fällt dabei her­un­ter. Nicht nur in den Medi­en und Par­la­men­ten, son­dern auch in unse­ren Köp­fen. Was wich­tig und was unwich­tig ist, verschwimmt.

Aller­dings ist Social Media nun ein­mal in der Welt, und wird nicht wie­der ver­schwin­den. Nach­rich­ten­sper­ren und das Abschal­ten der Ser­ver (wie in der Tür­kei …) hel­fen nur bedingt, son­dern füh­ren eher dazu, dass die Bevöl­ke­rung sich Wis­sen dar­über aneig­net, wie natio­na­le Fire­walls zu umge­hen sind. Es wäre aller­dings illu­so­risch, zu glau­ben, dass jede*r in einer sol­chen Situa­ti­on zum Fil­ter­ex­per­ten, zur Fil­ter­ex­per­tin wird. Klar, die For­de­rung nach Medi­en­kom­pe­tenz ist rich­tig, die For­de­rung nach einem bewuss­ten Umgang mit den Infor­ma­tio­nen auch aus sozia­len Netz­wer­ken ist rich­tig – trotz­dem ver­hin­dert all das nicht, das der Mul­ti­pli­ka­ti­ons­ef­fekt sozia­ler Medi­en eben auch Gerüch­te und fal­sche Behaup­tun­gen ver­viel­fäl­tigt und zu All­ge­mein­gut wer­den lässt. 

Alte Medi­en und gesell­schaft­li­che Insti­tu­tio­nen von der Poli­tik bis zur Poli­zei ste­hen damit um so mehr in der Ver­ant­wor­tung, den Ver­su­chun­gen der sen­sa­ti­ons­gie­ri­gen Auf­merk­sam­keits­öko­no­mie nicht nach­zu­ge­ben. Ruhe bewah­ren, selbst lang­wei­li­ge Zusam­men­fas­sung des­sen, „was wir wis­sen und was wir nicht wis­sen“ sind bes­ser als Live­ti­cker, die jedes Schein­ereig­nis zur Nach­richt machen. Und wenn wir nichts wis­sen, dann ist es gut, das zu sagen, ohne sich am Spiel der Spe­ku­la­tio­nen zu betei­li­gen – und ohne dass „wir wis­sen nichts“ selbst zur Dau­er­schlei­fen­nach­richt im Blau­licht zu machen. Sorg­falt, Tren­nung zwi­schen Nach­richt und Mei­nung, Recher­che – sol­che Tugen­den halt. 

Das ist, fin­de ich, der Anspruch, den die­se Insti­tu­tio­nen haben müss­ten. Und klar: jede*r selbst kann auch was dafür tun.

War­um blog­ge ich das? Weil ich von dem Anschlag in Niz­za (oder war’s der Putsch in der Tür­kei?) erst eini­ge Stun­den spä­ter erfah­ren habe, und das Smart­phone nicht an hat­te – und dann das selt­sa­me Gefühl hat­te, Welt­ge­schich­te zu ver­pas­sen. Und weil ich doch ges­tern stun­den­lang den Twit­ter­mel­dun­gen aus Mün­chen gefolgt bin, obwohl die Zusam­men­fas­sun­gen heu­te mor­gen viel infor­ma­ti­ver waren.

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