Jede und jeder kann was zum Thema Schule sagen, aus eigener Erfahrung, oder aus der Erfahrung der eigenen Kinder heraus. Bildungsreformen sind auch deswegen so schwierig. Das kriegen wir Tag für Tag mit, wenn im Landtag die langsame Einführung der Gemeinschaftsschule und die letztlich doch recht behutsame Reform des baden-württembergischen Bildungswesens auf der Tagesordnung steht. Selbst das führt schon zu heftigen Proteststürmen. Und eigentlich müsste es ja noch viel weiter gehen.
Mein biographischer Zugang zu Schule (Jg. 1975) ist umzugsbedingt durchaus gemischt: Eine städtische, reformorientierte Grundschule im akademischen Milieu in Baden-Württemberg. Eine sozial sehr bunt zusammengesetzte Grund- und Hauptschule in einer hessischen Metropole. Eine eher konservative Vorortgrundschule mit dörflichen Zügen in Baden-Württemberg. Und dann ein staatliches, eher leistungsorientiertes Gymnasium.
In Erinnerung geblieben sind mir allerdings weniger die jeweiligen Strukturen und Stundenpläne (dass in Hessen plötzlich Fremdsprachen auftauchten, weiß ich noch), als vielmehr die Atmosphäre, die Kulturen. Und die hingen maßgeblich an Personen – an Mitschülerinnen und Mitschülern, und an Lehrerinnen und Lehrern. Mit letzteren kam ich bis auf wenige Ausnahmen (ein furchtbarer Sportlehrer …) gut aus, mit ersteren hatte ich eher Probleme. Der Überflieger-Nerd und die Klassengemeinschaft, ein bekanntes Drama.
Während meiner Schulzeit habe ich mich zugleich – ein bisschen paradoxerweise – mit JungdemokratInnen/Junge Linke für die Abschaffung der Noten eingesetzt, und mit der Grün-Alternativen Jugend fast einen Landesparteitag zur Bildungspolitik gesprengt, weil uns die Vorschläge – etwa hinsichtlich der Schüler-Mitbestimmung – nicht weit genug gingen. A.S. Neills Schulexperiment Summerhill fand ich damals faszinierend, und finde das zum Teil noch heute.
Summerhill und verwandte Schulen (in Freiburg etwa die Kapriole) werden auch als „demokratische Schulen“ bezeichnet. Die Schulgemeinschaft inkl. der Schülerinnen und Schüler gibt sich selbst in demokratischer Form ihre Regeln. Wer in diesem Rahmen wann was lernt, muss jede SchülerIn selbst entscheiden. Noten gibt es nicht. Eine sehr sympathische Idee, die an den freien demokratischen Schulen wohl in der Tat gut funktioniert.
Meine eigene Tochter geht trotzdem auf eine städtische Grundschule. Das hat vier Gründe:
Erstens schlicht organisatorische Fragen – die Grundschule liegt nur wenige Meter entfernt, Z. kann zu Fuß hingehen, und niemand muss sich drum kümmern, wie sie wann (in einem eh ziemlich komplexen Tagesablauf zweier getrennter Haushalte) wohin kommt (mal ganz abgesehen vom bestehenden sozialen Netzwerk).
Zweitens kostet eine freie Schule Geld und Zeit – selbstverständliche Arbeitseinsätze der Eltern, beispielsweise. Selbstorganisation ist aufwändig.
Ein drittes Argument war die Frage, ob selbstselektierte Homogenität nicht problematisch ist. Der nach wie vor wunderbare Waldkindergarten, in den Z. vor der Schule gegangen ist, ist ein Beispiel für solche Homogenität – deutlich wird das im Vergleich mit dem städtischen Kindergarten, in den mein Sohn R. geht, der sozial um ein bis zwei Größenordnungen vielfältiger ist. Bei einer freien Schule wäre das Einigeln im eigenen Wertekanon vermutlich noch um einiges pointierter zu spüren.
Und viertens hat uns das Angebot der Clara-Grundwald-Grundschule zugesagt – der Unterricht erfolgt in enger Anlehnung an die Montessoripädagogik in Familienklassen (je sechs SchülerInnen jeder Klassenstufe sind zusammen in einer Klasse); nach einem halben Jahr stelle ich fest, dass das gut funktioniert, und dass Z. gut mit den Freiräumen klarkommt, die durch das Selbstlernprinzip gegeben sind. Zudem ist die Grundschule – wie der ganze Stadtteil – relativ neu und entsprechend gut ausgestattet.
Das mag jetzt ein Extrembeispiel sein, wo Schulen heute stehen. Insgesamt habe ich aber doch den Eindruck, dass viele Schulen – gemessen an den Maßstäben aus der eigenen Schulzeit – sich deutlich weiterentwickelt haben, das Kinder heute deutlich ernster genommen werden und freier lernen können, als dies vor 30 Jahren der Fall war. Das soll nicht heißen, dass es nicht weiter massiven Verbesserungsbedarf geben würde – aber die „Einheitspädagogik“ – frontaler Unterricht und Tests als didaktischer Kern – ist wohl inzwischen in der Tat Vergangenheit.
Gleichzeitig stelle ich fest, dass weiterhin viel an einzelnen Personen hängt. Kindergruppen entwickeln ihre Hackordnungen und bilden Cliquen, egal, wie gut die Schule ist. Ein innovatives Konzept bleibt auf der Strecke, wenn es nicht von engagierten LehrerInnen umgesetzt wird. Die politischen Rahmenbedingungen sind wichtig, aber sie sind vor allem Ermöglichung, die dann mit Leben gefüllt werden kann. Gleichzeitig ist der Bildungsbereich teuer. Und das paradoxerweise – auf der einen Seite stehen Unmengen an Personalstellen und Aus‑, Fort- und Weiterbildungseinrichtungen, auf der anderen Seite wird über fehlende Stunden und Arbeit am Rande von Belastungsgrenzen geklagt. Und dann will noch jede und jeder mitreden.
Apropos Demokratie. Was mir da vor Augen steht, ist der Hamburger Volksentscheid zur Bildungsreform. Die war ambitioniert – und wurde, platt gesagt, von den wohlhabenden Hamburger Vororten gestoppt, die um die guten Gymnasien fürchteten. Soll heißen: Wenn Eltern über Schule mitbestimmen, dann sind das halt nicht nur die idealtypischen, idealistischen grün-rot WählerInnen, sondern alle. Auch die, die Schule nicht so wichtig finden. Auch die, die ihr Kind im Kindergarten bereits in x Förderkurse gesteckt haben, und denen es nur darum geht, ob die Schule optimalst auf große Karrieren vorbereitet. Dass Kinder mitentscheiden sollen können, finde ich auch abstrakt sehr sinnvoll. Bei Eltern kann ich mir viele vorstellen, die ich lieber nicht über die Bildung meines Kindes entscheiden lassen wollte – was wahrscheinlich umgekehrt genauso ist. Insofern bin ich hier sehr skeptisch, was direkte Demokratie angeht.
Mitbestimmung funktioniert dann, wenn alle in etwa die gleichen Ziele und Visionen haben, aber nicht, wenn Grundsatzkonflikte nicht lösbar sind.
Gleichzeitig geht mein Vertrauen in das Schulsystem nicht so weit, dass ich alles, was LehrerInnen machen, per se richtig finde. Ich frage kritisch nach, ich bin neugierig, ich will informiert werden. Aber Eltern selbst entscheiden lassen? Dann doch lieber die Schule demokratischer gestalten, und sie so ausstatten, dass gute LehrerInnen ihre SchülerInnen bestmöglich beim Lernen begleiten können. Und politisch SchülerInnen (und Eltern) ((und LehrerInnen?)) so viel Freiheiten geben wie möglich, ohne dabei das Wohl der Kinder zu gefährden.
Warum blogge ich das? Aus einer angeregten Twitterdebatte um die Frage, ob Steuergelder in Schulen gut angelegt sind, heraus.
Es ist ein bekanntes Problem der Schulpolitik: Die Betroffenheitsperspektive der Akteur_innen dominiert. Allerdings kann ich aus meiner Erfahrung nicht alle der von Dir geschilderten Sorgen teilen. Ich habe ja nun beruflich seit zwei Jahren viel mit Schulpolitik zu tun und gehöre zu den Exot_innen, die eine Sicht jenseits einer unmittelbaren Betroffenheit nutzen können. Die Positionen der Lehrer_innen, Schüler_innen und Eltern dabei stets kritisch zu hinterfragen ist da oft einfacher.
Überwiegend lässt sich das Engagement von Eltern in meiner Region allerdings auf die Sorge um die Qualität der schulischen Bildung bzw. der Schulen selbst zurückführen. Sowohl baulich als auch pädagogisch haben wir in meinem Bundesland (MV) viel zu viele schlechte Schulen, was alle, die die Negativbeispiele kennen, unabhängig voneinander bestätigen. Das führt dort, wo es auch gute Angebote freier Träger gibt, auch mal zu einer „Abstimmung mit den Füßen“. In den Fällen, die ich meine, würde ich mich aber aus den genannten Gründen davor hüten, da ein „Einigeln im eigenen Wertekanon“ als dominierendes Motiv anzunehmen. Ich sehe das vielmehr als ein notwendiges Übel, auf verschiedenen Wegen, Druck auszuüben, damit wir bessere Schulen bekommen. Und dass unser Kultusminister darauf meist in der Weise reagiert, dass er zusätzliche bürokratische und finanzielle Hürden für die freien Träger einzieht, kann ja auch kein Anlass sein, auf Möglichkeiten, Druck auszuüben, zu verzichten.
„Bei Eltern kann ich mir viele vorstellen, die ich lieber nicht über die Bildung meines Kindes entscheiden lassen wollte“
Umgekehrt könnte ich auch anmerken: Auch Lehrer_innen liegen in ihrem Urteil gerne mal daneben (gerade wenn es um Schullaufbahnempfehlungen geht, worum sich in Baden-Württemberg ja eine aktuelle Debatte dreht).
Die Schlussfolgerung, dem Urteil der Schüler_innen selbst müsse stärker vertraut werden, teile ich daher. Das bedeutet natürlich: Die anderen Akteur_innen – Lehrerkräfte, Eltern, Kultusbürokratie – müssen dieses Vertrauen gewähren, indem sie selbst Kontrolle abgeben. Das scheitert möglicherweise nicht zuletzt daran, dass die Schulpolitik insgesamt zu sehr von den Akteur_innen dominiert wird, die dafür zurückstecken müssten. Weniger Betroffenheitsperspektive wäre an dieser Stelle daher nicht schlecht.