Wenn sie später danach gefragt wurde, wie alles angefangen hatte, rückte Rita Klein erst zu fortgeschrittener Stunde damit heraus, wenn überhaupt. Es war der Kunsthistorikerin zugegebenermaßen peinlich, dass sie damals, zu Anfang des Jahres 2012, den Beginn der Epidemie fast verpasst hatte. Wer sie nach dem dritten oder vierten Glas Rotwein danach fragt, konnte dagegen erfahren, dass es einer der hippen jungen Institutsassistenten gewesen war, mit standesgemäßer schwarzer Hornbrille, der ihr den Ausdruck einer Internetseite in die Hand gedrückt hatte.
Prof. Dr. Klein verabscheute die „neuen Medien“, das hatte sich herumgesprochen. „Firlefanz!“, das war noch das freundlichste, was ihr zu Museumsportalen, Kuratoren-Netzwerken oder digitalen Reproduktionen einfiel. „Auch im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit bleibt das Original das Original – und nur am Werk selbst, durch das genaueste Hinsehen, können wir – metaphorisch gesprochen – die letzten Pigmentreste des genialischen Künstlergeistes identifizieren.“ – das war der Kerngedanke eines ihrer meistgelesenen Aufsätze, „Über den Wert des lebendigen Werkes und den Unwert der unbeseelten Kopie“, erschienen 2003. Meistgelesen vor der Stunde Null, wie sie jetzt in Gedanken hinzufügte.
Angefangen hatte es dennoch mit dem Ausdruck einer Internetseite. Wer weiß, ob sie überhaupt etwas von dem Phänomen mitbekommen hätte, wenn es nicht den hippen Assistenten gegeben hätte. Spiegel online, 2. Februar 2012: „Kopie der Mona Lisa entdeckt“. Laut diesem Artikel („So ein Schmarrn!“, war Rita Kleins erster Gedanke) war Restaurateuren aufgefallen, dass ein bisher unbeachtetes Gemälde im Prado in Madrid bei genauerem Hinsehen ein zeitgleich mit der Mona Lisa – dem Original! – entstandenes Bild des gleichen Modells darstellte, von einem Schüler Da Vincis akribisch dem Vorbild nachempfunden – also eine Kopie! Ihr Thema!
Ein paar Tage später berichteten selbst die konservativen und weiterhin auf ehrfurchtsgebietendem Papier gedruckten Feuilletons darüber, und – mit der üblichen Verzögerung von einigen Monaten – erschienen auch in den kunstgeschichtlichen Fachzeitschriften Aufsätze. Aber schon der Ausdruck der Internetseite hatte Rita Kleins Neugierde geweckt. In ihrer Schreibstube, wie sie das Büro im Obergeschoß des badischen Jugendstilgebäudes bei sich nannte, griff sie zum Telefon und schrieb Briefe. Eigentlich war es nicht ihre Epoche, aber das Verhältnis von Original und Kopie war ganz sicher ihr Thema. Dafür war sie bekannt, darauf gründete ihr Renommee. Der Fall Mona Lisa ließ sie nicht mehr los – vielleicht gerade deswegen, weil sie für die Vielzahl der modernen Nachahmer und Parodisten dieses großen Werkes von Malewitsch bis Warhol nur Verachtung empfinden konnte.
* * *
Nach der Ausstellung von Original und Kopie legte sich die Aufregung in der Fachwelt etwas. Eindrucksvoll, sicher ein bewegender Fund, aber letztlich: So etwas kommt vor. Es war ja bekannt, dass die Renaissance-Künstler ganze Werkstätten betrieben hatten, ja fast so etwas wie Warhols Fabrik vorweggenommen hatten. Warum sollte es bei der Mona Lisa anders sein. Rita Klein aber blieb davon gefesselt – und sah sich bestätigt, als ihr Assistent Anfang April mit einem Stapel Internetausdrucke in die Schreibstube stürmte. Italienische Websites, wie sie den Überschriften entnehmen konnte.
„Diesmal sind es gleich drei Stücke – alle drei in norditalienischen Archiven gefunden“, fasste der Assistent die unglaubliche Nachricht zusammen. Der Assistent blättere den Stapel mit den Ausdrucken durch: „Hier: eine Rötel-Zeichnung in einem seit Jahrzehnten nicht benutzten Archiv der Universität Bologna, wohl eine bisher unbekannte, aber sehr exakte Vorstudie. Laut der Pressemeldung der Uni stammt das Papier aus dem Jahr 1499.“
Rita Klein schluckte. Die Mona Lisa war angeblich 1502 entstanden. „Das muss eine Fälschung sein!“
„Es ist irritierend, ja. Aber zumindest laut dem hier“ – dabei wedelte der Assistent mit dem Ausdruck – „ist das ganze exakt datierbar und liegt auf jeden Fall vor 1500.“
„Und es wird noch kurioser, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“
Die Kunsthistorikerin zog eine Augenbraue hoch. „Wir haben heute nicht den ersten April!“
Ihr Assistent verzog das Gesicht. „Keine Sorge. Ich will sie nicht auf den Arm nehmen. Ich konnte es auch nicht glauben. Das hier ist aus dem Blog eines Antiquars in aus “ – er schaute aufs Blatt – „Castellarano. Winziges Kaff, ich hab’s extra nachgeschaut, aber das Antiquariat gibt’s wirklich. Wenn ich das richtig interpretiere, steht da so in etwa, ein Unbekannter habe ihm eine Kiste mit Taschenbüchern geschenkt. Ganz zu unterst habe er einen wertvoll wirkenden Folianten gefunden, aus dem Jahr 1497. Der Foliant sei inzwischen sicher in seinem Banktresor eingeschlossen, da er dort eine der Mona Lisa verblüffend ähnliche Zeichnung gefunden habe.“
Der dritte Fund war aus Genua und wurde von einem der vielen Berlusconi-Sender auf der Website unter „Buntes & Vermischtes“ als Kuriosität beschrieben: Eine seit Jahrhunderten existierende Fischwirtschaft wurde geschlossen; alles, was irgendwie von Wert war, versteigert. Auf der Rückseite einer Hafenansicht tauchte wiederum die Mona Lisa auf. Der letzte Spross der Familie, der die Wirtschaft gehört hatte, inzwischen 82 Jahre alt, wurde befragt, und meinte nur, dass Bild habe schon immer dort gehangen, sei wohl nie abgenommen, höchstens einmal abgestaubt worden. Aber das sei sicherlich nur einer der unzähligen Kopien, wie sie immer wieder in Mode kamen, nichts von Bedeutung.
Rita Klein stellte einen Antrag auf eine Forschungsreise, um die verschiedenen Vorstudien der Mona Lisa selbst in Augenschein zu nehmen. Es dauerte mehrere Wochen, in denen sie mehrfach Unterlagen nachliefern musste, dann musste sie noch das Semesterende abwarten, dann konnte sie sich endlich nach Norditalien aufmachen.
Als sie im Frühherbst wieder in dem badischen Städtchen zurück war, wartete schon ein Stapel Ausdrucke auf ihrem Schreibtisch. Trotz ihrer Medienabstinenz hatte sie mitbekommen, dass weitere Vorläufer des Mona-Lisa-Originals aufgetaucht waren.
Noch im Reisemantel blättere sie den Stapel durch (ihr Assistent hatte fürsorglich bereits gelb markiert, was er für wichtig hielt): Nationalmuseum Warschau, 15. August 2012. Ein Mausoleum aus der K&K‑Zeit in Lviv, 27. August. Gleich drei Funde im Grenzgebiet zwischen Rumänien und Moldawien, in mit Blei versiegelten Kisten im Wald versteckt, scheinbar Reste von Kunstrauben aus dem zweiten Weltkrieg (1. September 2012). Eine Schubladen in einem antiken Schreibtisch in einem Derwisch-Haus in Istanbul, 2. September. Und so weiter.
Rita Klein ließ den Stapel wieder auf ihren Schreibtisch sinken. Wenn das stimmte, was hier stand, dann waren unter den neuen Fundstücken einige Werke, die definitiv keine Vorstudie oder Skizze darstellten, sondern in ihrer Machart der Prado-Kopie entsprachen – aber aus dem 14. Jahrhundert stammten. Von wem hatte da Vinci abgezeichnet?
Sie zog ihren Mantel aus, warf ihn auf den Lesesessel, setzte Wasser für eine Tasse Tee auf. Ihr Blick fiel auf ein weiteres Blatt, auf dem Boden der Schreibstube. Es musste aus dem Stapel gefallen sein, als sie diesen aufgehoben hatte. Diesmal kein Ausdruck, sondern eine Notiz in der eckigen Schrift des Assistenten: Er habe von Gerüchten darüber gehört, dass ein Experte für Mikropigmente behaupte, dass es auf der Insel Rhodos eine altgriechische Tempelanlage gäbe, deren mit neuster Technik rekonstruierte Innenbemalung frappierende Ähnlichkeit mit dem Gesicht der Lisa del Giocondo habe. Er versuche, der Sache nachzugehen. Rita Klein runzelte die Stirn.
* * *
Der Herbst kam mit heftigen Stürmen. Nächtelang hatte Rita Klein nun über die Mona-Lisa-Epidemie nachgedacht und noch immer keinen Satz darüber zu Papier gebracht, der ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden wollte. Natürlich: die junge, heißblütige und schnelllebige Generation hatte schon die wildesten Thesen aufgestellt und gleich darauf heftig widerlegt. Rita Klein war der festen Überzeugung, dass sie der wissenschaftlichen Qualität ihrer eigenen Auseinandersetzung nichts Gutes tun würde, wenn sie sich auf diese Eintagsfliegen einließ. Die hatten doch keinen Bestand!
Wenn überhaupt, dann war es nun Aufgabe ihres Assistenten, den Mist zu durchpflügen und ihr die wenigen scheinbaren Perlen vorzulegen, die dort zu finden waren. Die Kunde über die dreiundzwanzigste Mona-Lisa-Erscheinung war ebenfalls über diesen bewährten Weg zu ihr gelangt.
Rita Klein hatte eine große Weltkarte in ihrer Schreibstube aufgehängt. „Jetzt also auch noch in Kairo“, murmel¬te sie. Der Assistent mit der Hornbrille hob an, die Umstände des neuesten Fundes zusammenzufassen. Er habe es selbst erst nicht glauben können, und mehrere Stunden lang versucht, jemand aus dem ägyptischen Nationalmuseum ans Telefon zu bekommen. Letztlich sei es ihm gelungen, und er habe nun aus erster Hand die Versicherung, dass die Papyrus-Mona-Lisa genauso echt sei wie die anderen Fundstücke. Stark verblasste Pigmente hätten dazu geführt, dass diese altägyptische Schriftrolle über Jahrzehnte hinweg ignoriert worden sei, aber mit neuen Methoden konnte nun unzweifelhaft nachgewiesen worden, dass bereits hier, vor mehr als 3000 Jahren, eine nahezu mit dem Original identische Mona-Lisa-Ikonographie zu Papier gebracht worden sei.
Während der Assistent sie diesbezüglich informierte, schritt Rita Klein in der Schreibstube auf und ab. Zielsicher platzierte sie ein Fähnchen bei Kairo in die Karte.
Der Institutsassistent unterbrach seinen Bericht mitten im Satz und stand auf. „Darf ich?“, fragte er. Rita Klein zögerte, nickte – ihr war nicht klar, was er im Schilde führte. „Sehen Sie es nicht?“
Hastigen Schrittes lief er zur Weltkarte, hängte sie mit der Umsicht des Kunsthistorikers ab, bedacht darauf, dass kein Fähnchen seinen Platz verlor, und drehte sie dann. Verwirrt und mit einer gewissen Ungeduld verfolgte Rita Klein diese Performance.
„Hier, ein Smiley!“
Die Kunsthistorikerin sah den Assistenten einen Moment lang begriffsstutzig an, bis sie sah, auf was er sie hinweisen wollte. Ja, jetzt, mit der leicht gedrehten Karte, war es deutlich zu erkennen: Punkt, Punkt, Komma, Strich – die Fähnchen bildeten ein Mondgesicht. Rita Klein hatte den Eindruck, dass ihr dieses Gesicht zuzwinkern wollte. Ein schelmisches Grinsen, das jetzt auch ihre normalerweise ernsten Gesichtszüge erfasste.
Sie scheuchte ihre Assistenten aus der Schreibstube, griff zu ihrem schwarzen Notizbuch und zu ihrem Lieblingsfüllfederhalter. Im Hinausgehen betrachtete ihr Assistent sein Werk zufrieden. Der Wendepunkt in Rita Kleins Oeuvre war erreicht, jetzt würde „Vom Wert der Kopie: Mona Lisa als zeitloser Archetyp“ entstehen, der vielzitierte letzte Stein im Grabmal des alten Kunstbegriffs. Er wusste, dass seine Aufgabe hier und jetzt erfüllt war. Er blickte sich kurz um und betätigte dann den Feldgenerator. Gespannt, in welche Zeit ihn seine Arbeit für die retikulanische Informationsbefreiungsfront als nächstes treiben würde, entschwand er.
Sehr sehr spannend :-)