Der Fortschritt der SPD. Eine Exegese

Ich gebe zu: einen Moment lang war ich ziem­lich erschro­cken, als ich gele­sen habe, dass die SPD jetzt auch in Fort­schritt machen will. Erschro­cken vor allem des­we­gen, weil ich mir seit gerau­mer Zeit Gedan­ken dar­über mache, dass es doch eigent­lich drin­gend not­wen­dig wäre, mal eine grü­ne Debat­te dar­über zu initi­ie­ren, was denn nun eigent­lich unser Ver­hält­nis zum Fort­schritt sei. 

Das Erschre­cken hat sich dann aller­dings schnell wie­der gelegt. Zum einen, weil mir wie­der ein­ge­fal­len ist, dass die SPD und ihr der­zei­ti­ger Chef ger­ne an den Glanz der indus­tri­el­len Ver­gan­gen­heit den­ken, wenn sie vom Fort­schritt reden. Und zum ande­ren, weil sich bei rot­steh­tuns­gut nicht nur nach­le­sen lässt, dass die 43 Sei­ten Pro­gramm­ent­wurf eigent­lich recht harm­los sind, und weil sich dort auch gleich ein Link zum Ent­wurf selbst fin­det, der bei der Süd­deut­schen Zei­tung gele­akt wur­de (pdf). Und in dem sich noch­mal nach­le­sen lässt, was die SPD meint, wenn sie einen „neu­en Fort­schritt“ will.

Ach ja: dass es in dem Pro­gramm­ent­wurf nicht ums Inter­net geht, ist nur für SPD-nahe Bestand­tei­le der Netz­ge­mein­de über­ra­schend. Um es mal etwas böse aus­zu­drü­cken. Aber dar­um geht es mir nur am Rande.

Teil I. Die Abkehr der SPD vom alten Fortschrittsbegriff

Mich inter­es­siert mehr, was die SPD denn nun unter Fort­schritt ver­steht. Dazu zunächst ein­mal ein paar Sät­ze aus der Ein­lei­tung des gele­ak­ten Entwurfs:

Die Sozi­al­de­mo­kra­tie ist seit ihren Anfän­gen Par­tei des gesell­schaft­li­chen Fortschritts. […]

Aber im Gegen­satz zu den Libe­ra­len und den Kon­ser­va­ti­ven setz­ten sich Sozi­al­de­mo­kra­ten von Anfang an dafür ein, die­sen wis­sen­schaft­li­chen und tech­ni­schen Fort­schritt zu gestal­ten und die Früch­te des Fort­schritts gerecht zu ver­tei­len. Fort­schritt war für Sozi­al­de­mo­kra­tin­nen und Sozi­al­de­mo­kra­ten immer ein gesell­schaft­li­cher Fort­schritt: zu mehr Frei­heit, mehr Gerech­tig­keit und mehr Soli­da­ri­tät. Wirt­schaft­li­cher und tech­ni­scher Fort­schritt soll­ten allen zu Gute kom­men: als Befrei­ung von unzu­mut­ba­ren Arbeits­be­din­gun­gen eben­so wie für einen höhe­ren all­ge­mei­nen Lebens­stan­dard und wach­sen­de sozia­le Sicherheit. […]

Die­ses alte Fort­schritts­mo­dell ist brü­chig und wider­sprüch­lich gewor­den. Es bringt Ver­un­si­che­rung statt Hoff­nung, gera­de dort, wo es frü­her als Ver­spre­chen an gan­ze Gene­ra­tio­nen gewirkt hat. Der Fort­schritt, den wir erle­ben, ist ent­kop­pelt – von der Ver­bes­se­rung von Lebens­qua­li­tät und Ein­kom­men und der Siche­rung von Nach­hal­tig­keit und Mitsprache. […]

Seit Anfang der 70er Jah­re sind die Zwei­fel gewach­sen, ob das bis­he­ri­ge Fort­schritts­mo­dell auf Dau­er mit den natür­li­chen Lebens­be­din­gun­gen auf der Erde ver­ein­bar ist. Seit Mit­te der 80er Jah­re haben immer weni­ger Men­schen einen gerech­ten Anteil am Fort­schritt, wei­tet sich die Kluft zwi­schen Arm und Reich. 

Soweit sieht das erst­mal pri­ma aus: die SPD voll­zieht end­lich die Dis­kus­sio­nen der Neu­en Lin­ken und der Öko-Bewe­gung der 1980er Jah­re nach und sieht ein, dass das „bis­he­ri­ge Fort­schritts­mo­dell“, bei dem es nur dar­um ging, das tech­nisch-wirt­schaft­li­che Wachs­tum gerecht umzu­ver­tei­len, in Fra­ge gestellt wer­den muss. (Ich muss jetzt nicht dazu sagen, dass die­se – damals feh­len­den – Ein­sich­ten in den 1980er Jah­ren zur Grün­dung der grü­nen Par­tei geführt haben, oder?)

Auf den fol­gen­den Sei­ten der Ein­lei­tung erklärt die SPD dann noch ein­mal aus­führ­li­cher, dass „Fort­schritt in Ver­ruf“ gera­ten sei, und dass es zwar aus diver­sen Kri­sen und Trans­for­ma­ti­ons­er­schei­nun­gen her­aus eine mas­si­ve Kri­tik am (kapi­ta­lis­ti­schen) Fort­schritt, aber kei­ne Wei­ter­ent­wick­lung des Fort­schritts­be­griffs selbst. Das sei Auf­ga­be der SPD.

Zugleich scheint es noch ein­mal so, als sei die alte sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei einsichtig:

Der Kern des tra­di­tio­nel­len sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Fort­schritts­ver­spre­chens – die Ver­bin­dung von tech­no­lo­gi­scher Erneue­rung und wirt­schaft­li­chem Erfolg mit stei­gen­dem indi­vi­du­el­lem und gesell­schaft­li­chem Wohl­stand, sozia­ler Sicher­heit und demo­kra­ti­scher Teil­ha­be für die gesam­te Gesell­schaft – erscheint gebrochen. 

Dann jedoch wird es selt­sam. Bür­ge­rIn­nen zei­gen in der Ana­ly­se der SPD drei Reak­ti­ons­mög­lich­kei­ten auf den frag­wür­dig gewor­de­nen Fort­schritt. Sie kön­nen (kon­ser­va­tiv) ihre Pri­vi­le­gi­en ver­tei­di­gen, (neo­li­be­ral) auf die indi­vi­du­el­le Fle­xi­bi­li­tät set­zen oder (kli­schee­haft grün) pes­si­mi­ti­sche Ängs­te äußern. Fin­det die SPD alles nicht gut, son­dern will end­lich mal wie­der eine posi­ti­ve Hal­tung zum Fort­schritt. (Anders gesagt: alles Fort­schritts­fein­de außer Mut­ti Tan­te SPD).

Das heißt dann so:

Die für eine dyna­mi­sche, wirt­schaft­lich und sozi­al erfolg­rei­che Gesell­schaft unver­zicht­ba­ren Pro­jek­te und Ver­än­de­run­gen wer­den immer sel­te­ner die Zustim­mung der Bevöl­ke­rung fin­den, wenn es bei die­ser skep­ti­schen Grund­hal­tung gegen­über der poli­ti­schen Gestal­tungs­kraft von Fort­schritts- und Ver­än­de­rungs­pro­zes­sen bleibt. 

Damit meint die SPD zum Bei­spiel die „skep­ti­sche Grund­hal­tung“ gegen­über Ver­kehrs­pro­jek­ten wie „S21“. Nur um das klar­zu­stel­len. Gleich­zei­tig klingt es so ein biß­chen nach dem alten Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­blem: Die Gesell­schaft soll doch bit­te end­lich ein­se­hen, dass unse­re Poli­tik rich­tig ist, und wenn sie das nicht ein­sieht, dann stimmt was an der Kom­mu­ni­ka­ti­on nicht, aber es kann nicht an der Poli­tik lie­gen. Nein, nein, nein.

Fast schon wie­der ver­nünf­tig dage­gen die Rela­ti­vie­rung, die dem Bekennt­nis zum Fort­schritt folgt. Erst heißt es:

Wir Sozi­al­de­mo­kra­ten tei­len einen sol­chen Pes­si­mis­mus nicht. Wir hal­ten auch wei­ter­hin gesell­schaft­li­chen Fort­schritt für not­wen­dig und mög­lich – natio­nal wie euro­pa­weit und inter­na­tio­nal. Unse­re Gesell­schaft bleibt gestalt­bar und nichts ist vor­her­be­stimmt. Die Zukunft ist offen. 

Schön dar­an zunächst mal, dass die SPD inzwi­schen die grü­ne Grund­ein­sicht einer gestalt­ba­ren (und gestal­tungs­not­wen­di­gen) Zukunft teilt. Ob das dann noch mit dem Begriff „Fort­schritt“ sinn­voll zu fas­sen ist, sei ein­mal dahingestellt. 

Auch der nächs­te Satz klingt rich­tig grün:

Aller­dings stel­len wir uns der Not­wen­dig­keit, das bis­he­ri­ge Fort­schritts­mo­dell zu ver­än­dern. Jeder Fort­schritt ist neu, aber nicht alles Neue ist Fort­schritt. Die unüber­seh­ba­ren öko­lo­gi­schen Gren­zen einer auf Natur- und Roh­stoff­ver­brauch aus­ge­rich­te­ten Indus­tria­li­sie­rung zwin­gen zur Moder­ni­sie­rung unse­res Fortschrittsverständnisses. 

Damit wären wir dann end­lich bei der Über­schrift des Pro­gramms ange­langt. Die SPD will einen „neu­en Fort­schritt“, der sich vom alten Fort­schritt, dem sie bis­her ange­han­gen hat, unter­schei­den soll. Dar­über, wie die­ser neue Fort­schritt aus­se­hen soll, will die SPD in einer brei­ten gesell­schaft­li­chen Debat­te reden. Gute Idee! (Aller­dings muss natür­lich, ein paar Sät­ze wei­ter, „sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Poli­tik“ die Rich­tung des neu­en Fort­schritts­pro­jekts bestim­men. Ach so war das mit dem „offen dar­über reden“ gemeint …)

Zwi­schen­fa­zit: Auch wenn nicht so ganz klar ist, war­um eine offe­ne Debat­te mit der Gesell­schaft not­wen­dig sein sol­len, wenn die Rich­tung des „neu­en Fort­schritts“ doch von der SPD vor­ge­ge­ben wird, gibt es zumin­dest mal ein paar Plus­punk­te dafür, dass das Grund­pro­blem des „alten Fort­schritts“ (nicht nur der SPD) benannt wird und vie­le grü­ne Ideen auf­ge­grif­fen wer­den. Ein gestalt­ba­rer Fort­schritt ist bes­ser als ein grö­ßer-bes­ser-neu­er-Wachs­tum-um-jeden-Preis-Fort­schritt, auch wenn bei mir ein seman­ti­sches Unbe­ha­gen ver­bleibt: War­um soll die­ses Zukunfts­pro­jekt, Poli­tik zu stär­ken und über gesell­schaft­li­che Ent­wick­lungs­zie­le zu reden, mit dem „Fort­schritts­be­griff“ (Fort­schritt weg von was?) und sei­ner inhä­ren­ten Ein­di­men­sio­na­li­tät ver­knüpft werden? 

Umso mehr inter­es­siert jetzt natür­lich, wie die SPD die­se gro­ße Ges­te inhalt­lich aus­fül­len möchte. 

Teil II. Worauf überall das Etikett „neuer Fortschritt“ geklebt werden kann

Zunächst ein­mal wer­den sie­ben Adjek­ti­ve mit dem „neu­en Fort­schritt“ ver­knüpft. Dazu gehört eine län­ge­re Aus­füh­rung zum The­ma „qua­li­ta­ti­ves Wachs­tum ist viel­leicht doch bes­ser als nur wirt­schaft­li­ches Wachs­tum, aber wir tun uns schwer damit, auch wenn wir’s wol­len“, ein klei­nes Bekennt­nis zur Nach­hal­tig­keit, ein kla­res Bekennt­nis zur tech­ni­schen Lös­bar­keit gesell­schaft­li­cher Pro­ble­me („Nach­hal­tig­keit braucht eine drit­te indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on“ – das Adjek­tiv heißt „inno­va­tiv“), zum sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Fort­schritt gehört natür­lich auch „gute Arbeit“ (und „gutes Leben“, wobei das in den Aus­füh­run­gen auf S. 10 des Ent­wurfs eigent­lich nur in der Über­schrift vor­kommt, und sonst dann doch wie­der auf Teil­ha­be an Arbeit redu­ziert wird), dann soll auch der neue Fort­schritt unbe­dingt allen zu Gute kom­men („sozi­al und gerecht“), ein biß­chen Euro­pa und „grü­ne Revo­lu­ti­on“ kommt auch noch dazu („Fort­schritts­skep­sis ist gefähr­lich ange­sichts der Mil­li­ar­den von Men­schen, die ihren lan­gen Marsch zu Wohl­stand eben erst ange­tre­ten haben.“) und schließ­lich soll das gan­ze „demo­kra­tisch“ ablau­fen – gemeint ist damit, Par­la­men­te statt Märk­te sol­len Ent­schei­dun­gen tref­fen, zu wei­ter­ge­hen­den indi­vi­du­el­len Par­ti­zi­pa­ti­ons­mög­lich­kei­ten kei­ne Ideen auf S. 11.

Upps, lan­ger Satz. Inter­es­san­ter als die ange­kleb­ten Eti­ket­ten an den neu­en Fort­schritts­be­griff der SPD ist das, was nicht dabei steht. Um das noch­mal zu beto­nen: Nach­hal­tig­keit wird zwar groß geschrie­ben, aber unter den Vor­be­halt gestellt, dass wirt­schaft­li­ches Wachs­tum nur ein biß­chen in Fra­ge gestellt wer­den darf. Eine Debat­te über neue Lebens­sti­le oder Suf­fi­zi­enz taucht nicht auf (weder beim „guten Leben“, das eben doch nicht vor­kommt, noch bei der Fra­ge, wie glo­ba­ler Wohl­stand eigent­lich sinn­voll aus­se­hen kann, wenn er denn nach­hal­tig sein soll). Leben wird auf Arbeit redu­ziert, ent­spre­chend Demo­kra­tie auf die Fra­ge „Markt oder Par­la­ment“. Hier jeden­falls noch kei­ne Umset­zung des oben noch gefor­der­ten gesell­schaft­li­chen Dia­logs. Und bei den Inno­va­tio­nen bleibt trotz aller ein­gangs beschwo­re­nen Ideen eines sozia­len Fort­schritts­be­griffs letzt­lich doch vor allem die tech­ni­sche Inno­va­ti­on übrig.

Also, viel rich­ti­ges, aber noch viel mehr, was auch rich­tig und wich­tig wäre, wenn es dar­um gin­ge, einen grund­le­gend an Nach­hal­tig­keit und der Begren­zung der Res­sour­cen „Fort­schritts­be­griff“ (oder irgend­ein Zukunfts­bild) zu for­mu­lie­ren, das zugleich den Anspruch auf gesell­schaft­li­che Teil­ha­be für alle ein­lö­sen soll. Da springt die SPD mir zu kurz (was ja auch gut ist, weil sich damit schon eine ers­te Unter­schei­dung zum Ori­gi­nal vie­ler die­ser Ideen ergibt).

Die rest­li­chen 30 Sei­ten des Pro­gramm­ent­wurfs füllt die SPD dann mit einer Kon­kre­ti­sie­rung die­ser Ideen. Auch da ist es min­des­tens so inter­es­sant, zu sehen, was nicht unter dem Eti­kett des „neu­en Fort­schritts“ auf­ge­führt wird wie das, was laut SPD dazu­ge­hört. Die mit dem „neu­en Fort­schritt“ ver­bun­de­nen „neu­en Wege für Deutsch­land“ der SPD sind – und hier han­ge­le ich mich ein­fach mal an den Über­schrif­ten lang – auf sechs gro­ße Punk­te ver­teilt. Und da macht schon ein Blick auf die Rei­hen­fol­ge und den Umfang deut­lich, wo die SPD ihre Kern­kom­pe­ten­zen ger­ne sehen würde.

1. „Neu­er Fort­schritt“ wird mit „Wirt­schaft, Arbeit und Beschäf­ti­gung“ in Ver­bin­dung gebracht, auf sie­ben Sei­ten geht es um „nach­hal­ti­ge Inves­ti­ti­ons­kon­junk­tur“ (hieß frü­her „Wachs­tum“), um die Struk­tur des euro­päi­schen Bin­nen­markts, um die Wäh­rungs­kri­se und die Finanz­märk­te und um etwas, was die SPD „intel­li­gen­te Indus­trie­po­li­tik“ nennt. Gemeint ist mit letz­te­rem: Voll­be­schäf­ti­gung, ein Ver­bleib der gesam­ten indus­tri­el­len Pro­duk­ti­ons­ket­te in Deutsch­land, die För­de­rung von Nach­hal­tig­keits­tech­no­lo­gien als Wirt­schafts­fak­tor. Ja, sogar „Roh­stoff­pipe­lines“ (und als Gegen­stück dazu „qua­li­fi­zier­te Fach­kräf­te“ und eien „For­schungs­land­schaft“) wer­den erwähnt – kurz: der for­dis­ti­sche Traum mit einem grü­nen Män­tel­chen. (Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaft, war da mal was?) Ach ja, noch ein Punkt: das gan­ze, die euro­päi­sche und deut­sche Wirt­schafts­po­li­tik als Indus­trie­po­li­tik soll natür­lich gewerk­schaft­lich-kor­po­ra­tis­tisch aus­ge­dealt wer­den. Bei der SPD: „Ein Fort­schritts­kon­sens braucht Wirt­schafts­de­mo­kra­tie.“ Da geht’s zwar auch um die För­de­rung von Genos­sen­schaf­ten, vor allem aber um gewerk­schaft­li­che und betriebs­rät­li­che Mit­be­stim­mungs­rech­te. (Sag­te da jemand was von Schrö­ders Deutsch­land-AG? Und seit wann ist die für ihre Abtei­lung „gesell­schaft­li­cher Fort­schritt“ bekannt?)

2. Das zwei­te SPD-The­ma ist „Gerech­tig­keit“. Dafür wer­den 10 von 43 Sei­ten ver­wen­det. Auch hier viel rich­ti­ges, aber nichts, was ich als gro­ßen Wurf in Rich­tung „neu­er Fort­schritt“ sehen wür­de. Bil­dung und Teil­ha­be, die Fra­ge, wie das Steu­er­sys­tem auf­ge­baut sein muss, um gerecht zu sein (Kern­satz: „Eine gerech­te Steu­er­po­li­tik muss durch Umver­tei­lung der staat­li­chen Belas­tun­gen auch finan­zi­el­le Spiel­räu­me für eine spür­ba­re Ent­las­tung der mitt­le­ren und unte­ren Ein­kom­mens­grup­pen der Arbeit­neh­me­rin­nen und Arbeit­neh­mer eröff­nen.“), Abbau der Lohn­ne­ben­kos­ten, zumin­dest eine Reform des Ehe­gat­ten­split­tings, ein paar Sät­ze zum Lohn­ab­stand zwi­schen Nor­mal­ver­die­n­er­haus­hal­ten mit meh­re­ren Kin­dern und dem Sozi­al­hil­fe­ni­veau. Aber es geht nicht nur um Steu­ern, son­dern auch um den zu erhal­ten­den Sozi­al­staat (Bür­ger­ver­si­che­rung, Ver­bes­e­r­un­gen im Gesund­heits­we­sen, hier zumin­dest kein Wort zu Hatz-IV und was damit wei­ter gesche­hen soll). Und dann: Bil­dung, Bil­dung und Inte­gra­ti­on, Integration. 

3. Fort­schritt für die SPD ist immer noch (auch wenn „neu“ dran klebt) „gute Arbeit und guter Lohn“. Das „gute Leben“ ist hier schon gar nicht mehr genannt (na gut, ganz am Schluss wird die 35-Stun­den-Woche gelobt). Die Arbeits­ge­sell­schaft lebt dafür wei­ter. Acht Sei­ten gibt es dafür. Die Inhal­te sind erwart­bar: gute Arbeits­be­din­gun­gen, eine neue Huma­ni­sie­rungs­de­bat­te – sicher sinn­voll. „Wir müs­sen Recht und Ord­nung auf dem Arbeits­markt wie­der her­stel­len.“ (damit ist der Kampf gegen Fle­xi­bi­li­sie­run­gen, neue Arbeits­for­men und Grau­be­rei­che zwi­schen Leben, Selbst­stän­dig­keit und ange­stell­ter Beschäf­ti­gung gemeint). Aus­bil­dung und Qua­li­fi­zie­rung, denn mit guten Fach­kräf­ten macht man nichts falsch. An die Stel­le der 35-Stun­den-Woche rücken Arbeits­zeit­kon­ten, und ganz gro­ße Neue­rung für das alte for­dis­ti­sche Modell: auch Mut­ti soll arbei­ten kön­nen (na gut, Ver­ein­bar­keit für Väter und Müt­ter, fin­de ich ja auch wichtig).

Nach den drei wich­ti­gen The­men (Wachs­tumIndus­trie­kon­junk­tur, Arbeit und Steu­er­po­li­tik) kommt dann der Teil mit dem Gedöns, äh, den zen­tra­len Grund­la­gen für „neu­en Fort­schritt“. Als da wären:

4. Nach­hal­tig­keit. Huh, Über­ra­schung! Dafür gibt’s immer­hin fünf Sei­ten. Auf denen steht: „Ohne Öko­lo­gie und Nach­hal­tig­keit kann es kei­nen öko­no­mi­schen Fort­schritt geben.“ (aber: Ener­gie für Wachs­tum wird wei­ter gebraucht). Also, wei­ter Wachs­tum, aber „Umbau der Indus­trie­ge­sell­schaft“ (der Begriff ist übri­gens ein Zitat aus einem grü­nen Pro­gramm von, wenn mich nicht als täuscht, 1986 (pdf) – schön, dass die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Freun­dIn­nen inzwi­schen auch so weit sind – ich muss aller­dings zuge­ben, dass die Debat­te bei uns inzwi­schen ein biß­chen vor­an­ge­schrit­ten ist). Also: „Umbau der Indus­trie­ge­sell­schaft“, grü­ne Jobs usw. Kon­kret: statt BIP einen ande­ren Indi­ka­tor für wirt­schaft­li­che Leis­tungs­fä­hig­keit wäh­len (sinn­voll), Ener­gie­wen­de (prin­zi­pi­ell sinn­voll, aber bei den Sozi­al­de­mo­kra­tIn­nen gehört – wegen dem Strom­preis – auch der Bau von moder­nen Koh­le­kraft­wer­ken dazu!), und schließ­lich „öko­lo­gi­sche Indus­trie­po­li­tik“ (Sam­mel­su­ri­um, zusam­men­fass­bar viel­leicht unter „indus­trie­ge­sell­schaft­li­che Struk­tu­ren sol­len jetzt mal Öko machen“, oder: für die Deutsch­land AG soll’s jetzt auch ein Geschäfts­feld „green tech­no­lo­gies“ geben). Und das war’s dann auch schon mit der Nach­hal­tig­keit. Und der Umwelt. Ver­kehr? Natur­schutz? Bio­di­ver­si­tät? Agrar­po­li­tik? Nicht so wich­tig, wenn nur der indus­tri­el­le Kern grün ange­malt wird.

5. Am Schluss dann schnell noch zwei­ein­halb Sei­ten zu Euro­pa und glo­ba­ler Gerech­tig­keit und …

6. … zwei Sei­ten zum The­ma „Kri­se der reprä­sen­ta­ti­ven Demo­kra­tie“. Die gelöst wer­den soll durch …

Was wir brau­chen, ist eine neue Ver­trau­ens­bil­dung zwi­schen den Men­schen in unse­rem Land und den poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen. Wir brau­chen mehr Betei­li­gungs- und Sach­ori­en­tie­rung. Wir brau­chen geleb­te Demokratie. 

Aller­dings: „Wir sind uns bewusst, dass der hier beschrie­be­ne Weg der Reform unse­rer Gesell­schaft die akti­ve Betei­li­gung der Bür­ger vor­aus­setzt.“ Mist aber auch. Des­we­gen sol­len „Bür­ger“ „stär­ker und recht­zei­ti­ger“ betei­ligt wer­den. Auf allen Ebe­nen. Aber: „Zur par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie gibt es kei­ne Alter­na­ti­ve.“ Sprich: wir hören mal zu, ent­schei­den sol­len aber letzt­lich die gro­ßen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Frak­tio­nen in den Par­la­men­ten. Eben, wie in der Glanz­zeit der deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie. Ent­spricht gibt es recht hohe Hür­den für Volks­ent­schei­de, die begrüßt wer­den. Und auch die Jugend, die Gewerk­schaf­ten und die SPD-Orts­ver­ei­ne sol­len in die Debat­te ein­be­zo­gen werden.

Fazit

Damit endet der (zuerst den Medi­en und dann den demo­kra­tisch gewähl­ten SPD-Gre­mi­en zuge­spiel­te) Ent­wurf, und, weil ich jetzt schnell zum Kin­der­gar­ten muss, auch die­se Exege­se. Noch eine Minu­te zum SPD-Fort­schritts­be­griff. Mein Ein­druck: der Text fängt damit an, gro­ße Erwar­tun­gen zu schü­ren („Moder­ni­sie­rung unse­res Fort­schritts­ver­ständ­nis­ses“), baut auf der inzwi­schen gesell­schaft­lich tief ver­an­ker­ten Fort­schritts­kri­tik der neu­en sozia­len Bewe­gun­gen der 1970er und 1980er Jah­re auf, nennt wich­ti­ge Ansprü­che dar­an, wie Gesell­schaf­ten mit Zukunft umge­hen soll­ten – und ver­liert dann auf hal­ber Stre­cke die Lust, was ande­res zu machen als eine Auf­zäh­lung der alten und wenig fort­schritt­li­chen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Pro­gram­ma­tik. Mag sein, dass in der einen oder ande­ren Zei­len­lü­cke noch von mir über­se­he­ne sozia­le Inno­va­tio­nen ste­cken – aber der gro­ße Wurf ist das nicht. Oder glaubt die SPD ernst­haft, mit der grün getünch­ten Deutsch­land-AG, dem Fest­hal­ten am schon lan­ge nicht mehr exis­ten­ten Bild der Nor­mal­ar­beit und ein paar Pflicht-Sei­ten am Schluss zu Nach­hal­tig­keit und Demo­kra­tie „neu­en Fort­schritt“ defi­nie­ren zu können?

War­um ich das blog­ge? Na, für die offe­ne Debat­te, die sich die SPD so wünscht.

15 Antworten auf „Der Fortschritt der SPD. Eine Exegese“

  1. Pingback: F!XMBR
  2. Scha­de um die Mühe. Wer rei­tet ein totes Pferd wie die SPD? Die ist genau­so tot wie die Links­par­tei. Es fehlt jeg­li­ches The­ma für eine Wech­sel­stim­mung jen­seits des klei­ne­ren Übels, geschwei­ge denn über­haupt eine Stra­te­gie für die Zukunft. 

    Die Über­nah­me in den „Vor­wärts“ spricht übri­gens Bän­de, wenn ein Albrecht Mül­ler dort raus­fliegt. Prä­di­kat: harm­lo­ses Papier, die Kri­tik hät­te schär­fer aus­fal­len dür­fen, ohne dabei über­zie­hen zu können.

    Als Ver­trieb­ler (Indus­trie) muß ich sagen: was mir auf 1 Sei­te nicht erklärt wer­den kann, ist auf 40 Sei­ten auch nicht zu schaf­fen. Wer von der inner- und über­par­tei­li­chen Wäh­ler­schaft tut sich 43 Sei­ten an???

    Ich will nicht immer nur das klei­ne­re Übel! ;)

  3. @Karsten: die Zah­len oben stim­men (auch wenn jedes Sta­tis­tik­tool ande­re aus­spuckt) – aller­dings muss ich die Hoff­nung, dass es vorwaerts.de war, ent­täu­schen: der größ­te Teil der zusätz­li­chen Zugrif­fe kam über fixmbr und dadurch, dass ich im Blog der baden-würt­tem­ber­gi­schen Grü­nen auf den Text hier ver­linkt habe. Die laut Refer­rer über vorwaerts.de kom­men­de Zahl der Zugrif­fe liegt deut­lich hin­ter Twit­ter, Faxe­book, fixmbr, dem grü­nen BaWü-Blog und riv­va – wun­dert mich etwas, ist aber so.

    1. Dan­ke für die Kom­men­tie­rung – die dar­in ent­hal­te­ne Idee einer gewis­sen Auf­ga­ben­tei­lung für eine, hm, durch­setz­ba­re öko­lo­gi­sche Moder­ni­sie­rung fin­de ich ja durch­aus rich­tig. Nur wird’s dann schwie­rig, wenn aus „ein biß­chen lang­sa­mer und mit Wachs­tum für alle“ und „schnell, weit­ge­hend und durch­aus auch mit Suf­fi­zi­enz-För­de­rung ver­bun­den“ ein gemein­sa­mes Regie­rungs­pro­gramm gestrickt wer­den soll. Aber das ist wohl das Brot von Koalitionsregierungen.

      Neben­bei: kann­te dein Blog bis­her eben­falls noch nicht, sieht aber span­nend aus – ich schaue mich mal drin um.

      (Track­backs funk­tio­nie­ren bei mir tat­säch­lich nur manch­mal – wüss­te ger­ne, warum …)

  4. Naja, aber das impli­ziert ja, dass die Grü­nen, wenn sie eine abso­lu­te Mehr­heit hät­ten (mal ange­nom­men) von null auf 100 die Wirt­schaft umkrem­peln könn­ten oder wür­den. Das ist ja dann auch nicht wirk­lich anzu­neh­men. Auch die Grü­nen haben doch mitt­ler­wei­le ein beacht­li­ches Maß an kon­ser­va­ti­ven Idee inter­na­li­siert und sind längst nicht mehr so radi­kal. Eine „schnel­le und weit­ge­hen­de“ Anpas­sung an die Per­spek­ti­ven von Roh­stoff­knapp­heit und Kli­ma­wan­del soll­te man auf jeden Fall anstre­ben. Wenn aber hin­ter­her nicht alles gleich klappt, muss man sich auch nicht wun­dern, denn eine gewis­se Träg­heit ist unse­rem Sys­tem eben zu eigen. Das ist nicht immer nur alles die Schuld der SPD ;)

  5. @TillIch mein­te damit, dass die Anzahl der Leser, die auf vorwaerts.de Dei­nen Kom­men­tar gele­sen hat, die Leser­an­zahl hier über­trifft und dazu geführt hat, dass Dein Arti­kel noch wei­ter ver­brei­tet wur­de. Ich hof­fe Dich freut das!

    @Jan – willst Du der Voll­stän­dig­keit hal­ber dei­nen Blog­bei­trag auch bei vorwaerts.de ver­öf­fent­li­chen? Fän­de ich sehr gut!

    Vie­le Grüße
    Karsten

  6. @Jan: Klar, auch das grü­ne Pro­gramm ist nach 30++ Jah­ren eines, das auf Umsetz­bar­keit gepolt ist, und das ist auch gut so. Rela­tiv zu dem gese­hen, wozu die SPD sich gra­de durch­ringt (wenn aus dem Ent­wurf dann Ende des Jah­res ein Pro­gramm wer­den soll­te, gibt ja auch noch einen Gegen­ent­wurf eines der lin­ken SPD-Flü­gel – habe ich noch nicht gele­sen – und viel­leicht auch Reak­tio­nen auf die Reak­tio­nen), stimmt mei­ne Beschrei­bung aber schon. Oder? ;-)

    @Karsten: Ah, so macht das Sinn – und freut mich natür­lich (auch wenn offen­sicht­lich nur weni­ge vorwaerts.de-LeserInnen dann den Weg in mein Blog finden ;-))

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