Gut Ding will Weile haben: zur Zivildienstdebatte

Ange­sichts der aktu­el­len Debat­te um Wehr­pflicht, Zivil­dienst und (frei­wil­li­ge) sozia­le Diens­te ist mir ein­ge­fal­len, dass ich mich ja vor eini­ger Zeit auch schon mal poli­tisch damit aus­ein­an­der­ge­setzt hat­te. Und zwar in Form eines gemein­sam mit Alex Bonde – damals noch Grü­ne-Jugend-Vor­stand und nicht MdB – in der Zeit­schrift der Grün-Alter­na­ti­ven Jugend Baden-Würt­tem­berg (die ganz frü­her mal Bit­ter Lemon und – wohl erst ein paar Jah­re spä­ter – dann Zit­ro hieß). Lei­der kann ich gra­de nicht recher­chie­ren, wann und in wel­cher Form genau der Arti­kel erschie­nen ist – der Text mit der For­de­rung nach einem „frei­wil­li­gen Soli­da­ri­täts­jahr“ ist jeden­falls vom Juli 1996, also ziem­lich genau 14 Jah­re alt. (Neben­bei: das Gedächt­nis ist eine rät­sel­haf­te Sache – der Text ist von Alex und mir, bis gera­de eben war ich aber fest über­zeugt davon, dass wir das damals als Streit­ge­spräch gemacht hat­ten – und nicht in (sel­te­ner) Einig­keit. War aber wohl so.)

Wer also lesen will, und schau­en, ob die Argu­men­te von 1996 heu­te noch stim­men, kann hier klicken.

Licht aus, Pflichtdienst!

War­um wir lie­ber frei­wil­li­ge Soli­da­ri­tät beloh­nen soll­ten statt aus Angst vor der Berufs­ar­mee wei­ter­hin die typisch deut­schen Wör­ter Dienst, Zwang und Pflicht hoch­zu­ju­beln. Ein Plä­doy­er zur Zivi­li­sie­rung der Dienstpflichtdebatte.

In der bis­he­ri­gen Debat­te um die Fra­ge Dienst­pflicht bzw. Zivil­dienst und ande­re gesell­schaft­li­che Diens­te ist eine star­ke Fixie­rung auf die Fra­ge der mili­tä­ri­schen Grund­struk­tur zu erken­nen. Die Fra­ge nach dem Sinn von gesell­schaft­li­chen Diens­ten und den Aus­ge­stal­tun­gen wird zu Unrecht immer an der Fra­ge Wehr­pflicht­ar­mee oder Berufs­ar­mee gemes­sen. Exem­pla­risch wird dies an Hen­rik Beckers Arti­kel (Bit­ter Lemon Früh­jahr ’96) klar, der als ein­zi­ge Alter­na­ti­ve zur Dienst­pflicht eine „von Rech­ten über­lau­fe­nen Frei­wil­li­gen­ar­mee“ skiz­ziert. Die wich­ti­gen Fra­gen in die­ser Dis­kus­si­on haben mit die­sen Kate­go­rien nichts zu tun. Denn in der Rea­li­tät gibt es kei­nen Unter­schied zwi­schen einer Wehr­pflich­ti­gen­ar­mee und einer Frei­wil­li­gen­ar­mee. Das ursprüng­li­che Ziel der Wehr­pflicht, die brei­te Ver­an­ke­rung der Bun­des­wehr in der Bevöl­ke­rung und das Modell des soge­nann­ten „Bür­gers in Uni­form“ hät­te nur dann funk­tio­nie­ren kön­nen, wenn man auch aus­nahms­los alle gezwun­gen hät­te, zur Bun­des­wehr zu gehen. Durch die (selbst­ver­ständ­lich rich­ti­ge) Mög­lich­keit des Zivil­diensts ist die­ses Modell in der Rea­li­tät nicht mehr von einer Frei­wil­li­gen­ar­mee zu unter­schei­den, denn gro­ße Tei­le der Jugend­li­chen und ins­be­son­de­re der Jugend­li­chen in finan­zi­ell gut gestell­ten und gebil­de­ten Bevöl­ke­rungs­schich­ten ent­zie­hen sich bereits heu­te den Streit­kräf­ten. Die­je­ni­gen mög­li­chen Ent­wick­lun­gen der Streit­kräf­te, die die Ver­tei­di­ge­rIn­nen der Wehr­pflicht­ar­mee bei einer Frei­wil­li­gen­ar­mee befürch­ten, müß­ten durch die momen­ta­ne Zusam­men­set­zung der Bun­des­wehr bereits ein­ge­tre­ten seien. 

Die von ihrem Ide­al­bild ver­schie­de­nen Model­le der Wehr­pflicht­ar­mee und der Frei­wil­li­gen­ar­mee sind in ihrer rea­len Umset­zung prak­tisch gleich­wer­tig. Ihr Ein­fluß auf die Dis­kus­si­on um Zwangs­dienst­pflicht und Model­le wie das frei­wil­li­ge Soli­da­ri­täts­jahr – bzw. die kom­plet­te Fixie­rung die­ser Dis­kus­si­on dar­auf – ist nicht nachvollziehbar.

Hätte die Sklaverei nie abgeschafft werden dürfen?

Der Zivil­dienst, ein­ge­führt als Ersatz­dienst für all die­je­ni­gen, die aus Gewis­sens­grün­den den Mili­tär­dienst ver­wei­gen, ist inzwi­schen fes­ter Bestand­teil exis­tie­ren­der Struk­tu­ren vor allem im Sozi­al­be­reich. Die von den älte­ren Gene­ra­tio­nen ver­schul­de­te Mise­re des Sozi­al­be­reichs führt nun dazu, daß ins­be­son­de­re der Zivil­dienst als legi­ti­mes Mit­tel gese­hen wird, die­se Mise­re auf­zu­hal­ten, die Situa­ti­on nicht abglei­ten zu las­sen. Die Lösung ist ja auch bestechend: Man ver­pflich­tet die Jugend qua Gesetz dazu, sich ein Jahr lang als bil­li­ge Arbeits­kräf­te aus­nut­zen las­sen zu dür­fen. Daß die „Ent­schul­di­gung“ für den Zivil­dienst, die Wehr­pflicht, unnö­tig gewor­den ist und damit auch der Zivil­dienst sei­ne Legi­ti­ma­ti­on ver­lo­ren hat, wird ein­fach über­gan­gen. Eben­falls über­gan­gen wer­den Model­le, die auf Frei­wil­lig­keit auf­bau­en. Die Fra­ge nach dem Sinn von Zwang in die­ser Kon­stel­la­ti­on wird nicht gestellt.

Staat­li­ches Han­deln bedarf einer Begrün­dung, ins­be­son­de­re dann, wenn es um die Ein­schrän­kung per­sön­li­cher Rech­te oder wie hier gar um eine Zwangs­ver­fü­gung über Per­so­nen geht. Auch ein ver­pflich­ten­der Ein­zug bei Aus­wahl­mög­lich­keit des Ein­satz­ge­bie­tes ist ein Zwang. Aber mit wel­cher Begrün­dung kann man die­se staat­li­chen Zwangs­dienst­ver­pflich­tun­gen von jun­gen Men­schen legi­ti­mie­ren? Die Mise­re des Sozi­al­staats ist kein aus­rei­chen­des Argu­ment, da kei­ne Bemü­hun­gen zu erken­nen sind, die­se Mise­re zu been­den. Der Zwangs­ein­zug von jun­gen Män­nern (im Fall der all­ge­mei­nen Dienst­pflicht auch von jun­gen Frau­en) wird nicht als kurz­zei­ti­ge Über­brü­ckung, son­dern als dau­er­haf­te Bestands­si­che­rung gebraucht. Gleich­zei­tig zeigt der mas­si­ve Andrang auf die bei­den frei­wil­li­gen Diens­te, daß bei jun­gen Men­schen auch ohne Zwangs­ein­zug Bedarf da ist, ein frei­wil­li­ges Jahr ein­zu­le­gen, um sich per­sön­lich zu ori­en­tie­ren oder die Über­gangs­zeit in Beruf oder Stu­di­um sinn­voll zu überbrücken. 

Ange­sichts die­ser gro­ßen Bereit­schaft von Jugend­li­chen ist eine staat­li­che Zwangs­be­glü­ckung unnö­tig – gesamt­ge­sell­schaft­lich gese­hen ist ein enga­gier­ter jun­ger Berufs­an­fän­ger sogar sinn­vol­ler als ein frus­trier­ter unmo­ti­vier­ter Zwangs­dienst­leis­ten­der. Auch die Ten­denz bestimm­ter Gene­ra­tio­nen (Vie­le Grü­ße an Flak­hel­fer und 68er!) zu staat­li­chen Zwangs­be­glü­ckun­gen – „es hat noch kei­nem gescha­det …“ – zei­gen eher eine unver­ar­bei­te­te Staats­fi­xie­rung als sinn­vol­le Wege auf. Doch allei­ne um den Zwang auf­recht zu erhal­ten, wer­den für jeden Zivil­dienst­leis­ten­den Unmen­gen an Gel­dern aus­ge­ge­ben, die nichts gesell­schaft­lich Posi­ti­ves bewe­gen. Was für eine Ver­schwen­dung! Die unzäh­li­gen Ange­stell­ten und Beam­ten des Bun­des­am­tes für Zivil­dienst, die Regio­nal­stel­len, die Mus­te­rungs­be­hör­den der Mili­tär­ver­wal­tung, die Unmen­gen an Papier, um die Zivis immer und über­all zu kon­trol­lie­ren – all das wäre leicht ein­zu­spa­ren durch frei­wil­li­ge Model­le als Ange­bot des Staats an sei­ne Bür­ge­rIn­nen. Doch trotz finan­zi­el­ler Eng­päs­se sol­len wir uns den Zwang leisten?

Unverkrampft und ungezwungen: Das freiwillige Solidaritätsjahr

Wie könn­te so ein Ange­bot – nen­nen wir’s ein­fach mal frei­wil­li­ges Soli­da­ri­täts­jahr – aus­se­hen? Wer möch­te, kann sich für ein hal­bes Jahr, für ein Jahr oder auch für ein­ein­halb Jah­re zur Mit­ar­beit in den Berei­chen Sozia­les, Umwelt, Huma­ni­tät oder Mili­tär ver­pflich­ten. Das Soli­da­ri­täts­jahr ver­ein­heit­licht damit die bis­her in den Pro­gram­men für ein Frei­wil­li­ges Sozia­les oder Öko­lo­gi­sches Jahr (FSJ/FÖJ) ange­bo­te­nen Mög­lich­kei­ten und die Berei­che, die heu­te mit Pflicht­dienst­leis­ten­den besetzt wer­den. JedeR soll an die­sem Pro­gramm teil­neh­men kön­nen – aber nie­mand wird dazu gezwun­gen werden. 

Obwohl die­ses Sys­tem nicht mit Zwang arbei­ten soll, erwar­ten wir, daß ins­ge­samt ähn­lich vie­le Men­schen dar­an teil­neh­men wer­den, wie heu­te FSJ­le­rIn­nen, FÖJ­le­rIn­nen, Zivis und Wehr­dienst­leis­ten­de zusam­men. Die Zah­len­ver­hält­nis­se zwi­schen die­sen Grup­pen wer­den sich bei den zukünf­ti­gen Soli­dar­dienst­leis­ten­den (Solis) wahr­schein­lich stark ver­än­dern, sowohl was die Ver­tei­lung auf die ver­schie­de­nen Arbeits­be­rei­che betrifft als auch im Hin­blick auf eine aus­ge­gli­che­ne­re Geschlech­ter­ver­tei­lung. Die­se Ver­schie­bun­gen sind aber durch­aus vor­teil­haft zu sehen.

Es soll sich lohnen teilzunehmen

Die Annah­me, daß ein dras­ti­scher Rück­gang aus­blei­ben wird, beruht auf zwei Säu­len. Zum einen bewer­ben sich auch heu­te schon mehr Men­schen für die FSJ-/FÖJ-Stel­len, als über­haupt Plät­ze vor­han­den sind. Dar­aus und aus den Erfah­run­gen vie­ler Zivis läßt sich schluß­fol­gern, daß ein Inter­es­se für ein sol­ches gesell­schaft­li­ches Pro­be­jahr durch­aus da ist, selbst bei der heu­te mie­sen Bezah­lung die­ser Stel­len. Aller­dings ist auch uns klar, daß das frei­wil­li­ge Soli­da­ri­täts­jahr nur dann ein Erfolg wer­den kann, wenn der Staat mas­si­ve Anrei­ze zur Teil­nah­me schafft. 

Vie­le jun­ge Men­schen wür­den sich nach dem Abschluß der schu­li­schen Aus­bil­dung ger­ne erst ein­mal umse­hen: Das Soli­da­ri­täts­jahr schafft die­se Ori­en­tie­rungs­mög­lich­keit in den gesell­schaft­lich wich­ti­gen Berei­chen Sozi­al­sys­tem und Umwelt­schutz. Die Teil­nah­me am Soli­da­ri­täts­jahr soll aber nicht nur zu einer bes­se­ren Infor­ma­ti­on über mög­li­che zukünf­ti­ge Arbeits­be­rei­che bei­tra­gen, son­dern auch ganz hand­fes­te Vor­tei­le bie­ten. So könn­te die der Gesell­schaft geschenk­te Zeit durch eine Anrech­nung als War­te­se­mes­ter beim Stu­di­um zurück­ge­ge­ben wer­den. Und für eine Aus­bil­dung in einem ähn­li­chen Bereich könn­te das Soli­da­ri­täts­jahr als Prak­ti­kum gewer­tet wer­den und dadurch die Aus­bil­dungs­zeit ent­spre­chend ver­kür­zen. „Haben Sie gedient?“ Bei einer Bewer­bung nach der Aus­bil­dung wer­den Solis im Vor­teil sein. Und nicht zuletzt gibt es noch den finan­zi­el­len Anreiz.

Wir stel­len uns vor, daß die Ent­loh­nung etwa in der Höhe des der­zei­ti­gen Solds von Zivis und Wehr­dienst­leis­ten­den liegt. Das ist nicht viel, aber für vie­le bes­ser als nichts. Und nicht jedeR hat Lust, sein ers­tes eige­nes Geld mit stu­pi­den McJobs in der Ham­bur­ger­schmie­de zu ver­die­nen. Dage­gen wür­de das Soli­da­ri­täts­jahr die Mög­lich­keit bie­ten, gesell­schaft­lich sinn­vol­le Tätig­kei­ten aus­zu­füh­ren und dafür auch bezahlt zu werden.

Ausblick: Carlos, Rita und Co.

Katha­ri­na ist für ein­ein­halb Jah­re bei den Ökos aktiv und zählt Jung­vö­gel. Car­los hat ’ne sozia­le Ader und geht für ein hal­bes Jahr ins Alten­heim. Sein Bru­der wur­de nach der Leh­re direkt vom Betrieb über­nom­men. Marc freut sich dar­über, daß der Staat ihm das Jahr Job­ben im sozio­kul­tu­rel­len Zen­trum auch noch ver­gü­tet. Seli­na will Medi­zin stu­die­ren. Ein Jahr prak­ti­sche Erfah­run­gen im Kran­ken­haus ist dafür die bes­te Vor­be­rei­tung. Hel­mut ist in der Jun­gen Uni­on und will mög­lichst bald Bun­des­kanz­ler wer­den. Des­we­gen geht’s nach dem Abi ohne Pau­se gleich wei­ter mit dem Stu­di­um. Was fehlt? Da war doch noch was? Ach ja, Rita. Rita hat sich öffent­lich ver­pflich­tet: Ein­ein­halb Jah­re bei der Bundeswehr!

Alex­an­der Bonde und Till Westermayer

War­um blog­ge ich das? Weil die Welt schnel­ler bes­ser wer­den wür­de, wenn Ideen wie die­se nicht immer erst ein Haus­halts­loch und einen Gene­ra­tio­nen­wech­sel bei den Kon­ser­va­ti­ven bräuchten.

2 Antworten auf „Gut Ding will Weile haben: zur Zivildienstdebatte“

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