Gestern hatte ich ja kurz auf Medienwandel kompakt 2011 – 2013 hingewiesen. Ein Punkt, den ich dabei nur in einem Nebensatz angesprochen habe, ist die arge Unterrepräsentanz von Frauen in diesem Sammelband. Genauer gesagt: sechs Beiträge sind von Autorinnen, 67 von Autoren, einer von einem Mann und einer Frau gemeinsam geschrieben. Wenn ich mich jetzt nicht verzählt habe, aber es kommt hier auf die Größenordnungen an, nicht auf die genauen Zahlen.
Das ist auch anderen aufgefallen, und seit gestern grummelt es ein bisschen in den sozialen Medien. Es grummelt so sehr, dass sich mit Christoph Kappes einer der Herausgeber genötigt sah, zu erklären, wie dieser Frauenanteil von unter zehn Prozent zustande gekommen ist.
Laut Kappes hatte sich die Redaktion des Buches eine Frauenquote von 30 Prozent zum Ziel gesetzt. Auch diese – recht niedrige – Quote wird jedoch im Buch nicht erreicht. Das hat vermutlich etwas damit zu tun, wie die Artikelauswahl zustande gekommen ist. Kappes beschreibt das Vorgehen der Herausgeber so:
Da wir das Buch als Spiegelung des relevanten Netzdiskurses in die Wissenschaft angelegt haben, haben wir nicht einfach das Internet nach „guten Texten“ durchforstet, sondern wir haben primär auf den reichweitenstärkeren Blogs nach Texten gesucht, die uns aus einer wissenschaftlichen Perspektive bemerkenswert erschienen.
Als Blogs, auf denen gesucht wurde, werden Carta, netzwertig, spreeblick, irights.info, vocer.org, telemedicus und journal21 genannt, prinzipiell würde auch netzpolitik.org in diese Reihe reinpassen. Ergänzt wurden die Texte, die von diesen Blogs übernommen wurden, durch Texte, die auf einen Call for Contributions hin eingereicht wurden.
Aus meiner Sicht sind es zwei kritische Argumente, die an dieser Stelle ansetzen können.
Das eine Argument betrifft die Auswahl der „reichweitenstärkeren Blogs“ zu Medienökonomie, Medienpolitik und Journalismus durch das Herausgeberteam. Bewusst oder unbewusst werden hier die Dominanzstrukturen des Netzdiskurses nachvollzogen. Im Ergebnis spiegelt das Buch den dominanten Diskursstrang im Netz zu diesen Themen wider – und reproduziert die damit verbundenen Ungleichheiten. Das Buch würde anders aussehen, wenn aus Sicht der Herausgeber Blogs wie „kleiner drei“ oder „Mädchenmannschaft“ als relevante Orte des Netzdiskurses wahrgenommen worden wären. Das Buch würde noch einmal ganz anders aussehen, wenn der Diskurs, der auf Youtube oder Tumblr reichweitenstark ist, berücksichtigt worden wäre (dann gäbe es vermutlich ein ganzes Kapitel zu „Let’s play“ und Computerspielen).
Was ich sagen will: Relevanz liegt im Auge des Betrachters (oder der Betrachterin), und auch „Reichweite“ ist ein relatives Argument (wer sich Rankings wie 10000 Flys anschaut, wird CARTA, Spreeblick usw. nicht unbedingt an allererster Stelle finden). Diskurs und die hegemonialen Strukturen in einem Diskurs lassen sich nur sehr bedingt quantitativ bestimmen.
Sich genau für die jetzt verwendeten Blogs als Quelle für die Buchbeiträge zu entscheiden, hat Konsequenzen. Eine dieser Konsequenzen ist eine geringe Heterogenität und Diversität.
Das zweite Argument betrifft die Relevanzsetzung innerhalb der „reichweitenstarken“ Blogs. Hier habe ich vor einiger Zeit ganz stupide bei CARTA durchgezählt – mit einem ziemlich klaren Ergebnis. Von hundert Artikeln waren in dem von mir betrachteten Zeitraum nur acht von Frauen verfasst. Ohne empirische Daten zu haben, deckt sich das ganz gut mit dem aktuellen Eindruck. Wie es bei Spreeblick, irights.info usw. aussieht, weiß ich nicht. Aber die Größenordnung der Autorinnen bei CARTA und in Medienwandel kompakt hat eine verblüffende Ähnlichkeit.
Der damalige Beitrag löste eine recht lange Debatte aus, in der es unter anderem darum ging, dass es halt weniger Frauen gäbe, die sich zu medienpolitischen und netzökonomischen Themen äußern. CARTA würde nur die herrschende Struktur des Netzdiskurses widerspiegeln; Bemühungen, bewusst Frauen anzusprechen, seien bisher wenig erfolgreich gewesen. (Nebenbei: Ganz ähnlich wurde bei den Krautreportern argumentiert).
In dem Blogbeitrag von Christoph Kappes ärgert er sich über den Vorwurf, dass (von mspro auf Twitter) der geringe Anteil von Beiträgen von Frauen als „schlechte Arbeit“ der Herausgeber bezeichnet wird.
Ich kann beides nachvollziehen. Ich teile den Ärger darüber, dass die strukturellen Ungleichgewichte im Netzdiskurs in Medienwandel kompakt 1:1 abgebildet werden. Gleichzeitig ist eine Redaktion, die es sich zum Ziel setzt, einen existierenden Diskurs für den Wissenschaftsdiskurs aufzuarbeiten und dazu Netz in Print zu gießen, ein Stück weit daran gebunden, diesen Diskurs zu reproduzieren. Sowohl was die deutlich sichtbaren Quellen als auch was die Selektionen innerhalb der Quellen angeht, existieren Ungleichheiten, die in der Reproduktion gnadenlos abgebildet werden. Dass dabei vorrangig der sichtbare Teil des Eisberges Aufnahme findet, ist ärgerlich, aber der verwendeten Methode geschuldet.
Wäre es auch anders möglich gewesen? Das ist eine schwierige Frage, und einfach zu beantworten, so lange mensch nicht selbst derjenige ist, der Beiträge aussucht. Vermutlich – und ich weiß nicht, ob das von den Herausgebern diskutiert wurde – hätte der Arbeitsauftrag verändert werden müssen in dem Sinne, dass neben dem Mainstream des Netzdiskurses bewusst auch dessen Subversivitäten abgebildet werden sollten. Anders gesagt: die aktive Suche nach Standpunkten von im bisherigen Sample unterrepräsentierten Gruppen. Fündig geworden wären die Herausgeber, da bin ich fest überzeugt von. Allerdings hätte sich der Charakter des Buches verändert, hätte sich einlassen müssen auf Dinge, die im hegemonialen Diskurs als Nischen, als Randständigkeiten, als Subversion erscheinen. Es hätte Dinge enthalten, die erst auf den zweiten Blick als Teil des medienpolitischen Diskurses zu identifizieren gewesen wären.
Ich hätte mich gefreut, wenn ein solcher Weg eingeschlagen worden wäre. Auch deswegen, weil dann der Medienwandel kompakt nicht nur ein Versuch gewesen wäre, den hegemonialen Netzdiskurs abzubilden, sondern auch die gesellschaftlichen Ungleichheiten offen zu legen, die sich in den Strukturen dieses Diskurses mehrfach reproduzieren. Vielleicht beim nächsten Mal?
Warum blogge ich das? Weil mich als Autoren des Buches das Geschlechterverhältnis in der Tat irritiert hat, weil ich aber auch sehe, dass es nicht nur guten Willen bedarfs, sondern sich eben auch der Charakter des Buches verändern würde, wenn es für Standpunkte außerhalb des dominierenden Diskurses geöffnet würde. Und für mich selbst stellt sich die Frage, ob ich bei ähnlichen Anfragen in Zukunft nach dem Umgang der Redaktion mit Diversität fragen soll.
P.S.: Und ja, aus gegebenem Anlass: Diskurs ist kein level playing field.
Ist es seriös, die Macher des Buches für das Übersehen von Texten zum Thema zu kritisieren, ohne nicht mindestens zwei oder drei Texte zu benennen, die sie übersehen haben?
Insbesondere interessieren würden mich Beiträge zum von dir benannten Thema youtube/Tumblr.
Youtube/Tumblr war der Hinweis darauf, dass ein großer Teil des Diskurses nicht das Format pseudo-akademischer/pseudo-journalistischer Texte hat, der viele der für das Buch ausgewählten Blogtexte auszeichnet (meinen auch). Medienökonomie wird auch auf Youtube verhandelt, da bin ich mir sicher – ob „wir“ das als solches erkennen würden, ist eine andere Frage. Und wie ein Video in eine Buchdokumentation gepresst werden kann – tja, äh, Medienbruch.
Zu den Texten, die sie übersehen haben: Finde ich jetzt etwas anmassend, diese Frage. Ich behaupte nicht, dass ich einen Überblick über den medienpolitischen Diskurs der letzten Jahre haben würde, der es mir jetzt erlaubt, aus dem Hemdsärmel die fünf bis sieben relevanten Blogbeiträge zu benennen, die im Buch fehlen. (Auch jenseits von der ganzen Gender/Diversity-Frage ist die Auswahl der Beiträge eine Auswahl, und meine Auswahl wäre vermutlich auch da anders ausgefallen).
Um der Debatte willen habe ich mal ein paar Texte aus dem Zeitraum 2011–2013 rausgesucht (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit):
Warum zum Beispiel fehlt ihdls Text zu Open in public? (Oder der zu Drosselkom?).
Oder dieser lange Text zu Online-Journalismus von Anne Roth?
Auf kleiner 3 finde ich zum Beispiel eine Anleitung Wikipedia samt Erfahrungsbericht. Oder (2014, passt aber thematisch so gut) ein schönes Text zu Tumblr und Internetoptimismus.
Bei der Mädchenmannschaft steht – willkürlich rausgepickt – zum Beispiel ein Eintrag über Facebooks Feminismusproblem.
Die Liste ließe sich fortsetzen, aber ich sehe nicht, warum diese Artikel schlechter oder besser als „Ich bin kein Mitglied der Netzgemeinde“, „Gretchenfrage Big Data“, „Bei Facebook wohnen wir nur zur Miete“, „Die Befürworter der Bildtelefonie hatten doch Recht“ oder „Programmier-Crashkurs für Journalisten“ oder „Fünf entscheidende Fragen zum Leistungsschutzrecht“ in das Buch reingepasst hätten.
Komme erst jetzt dazu, hier die Kommentare zu lesen.
Der Beitrag von Anne Roth http://annalist.noblogs.org/post/2012/10/28/online-tristesse/ hätte gut ins Buch gepasst, der wäre auf jeden Fall in unsere Shortlist gekommen.
Interessant ist auch dieser Text von “Lucie”: http://kleinerdrei.org/2014/02/reblog-warum-tumblr-mich-internetoptimistisch-macht/, wobei der wohl wegen der notwendigen Bilder ausgeschieden wäre.