In diesem Text versuche ich, in mehreren Blogeinträgen meine Ideen zum Zusammenhang von Praxistheorie und Umweltverhalten zu ordnen, ohne bereits ein glattes und geprüftes „Endprodukt“ vor Augen zu haben. Und weil’s dann doch schnell ziemlich lang wird, darf jetzt auf „weiterlesen“ klicken, wer in vermutlich recht soziologischem Deutsch zuerst einmal mehr über Praxistheorie erfahren will. Das Umweltverhalten kommt im zweiten Teil dran …
I. Über Praxistheorie
Praxistheorie meint eine Strömung der „social theory“, die davon ausgeht, dass „soziale Praktiken“ grundlegend für gesellschaftliche Strukturen, Strukturierungen und Wirklichkeiten sind – dabei umfasst Praxistheorie eine Vielzahl divergenter und aus ganz unterschiedlichen Problemen heraus entwickelter Ansätze (z.B. Bourdieu, Giddens); in neuerer Zeit gibt es nun Versuche, so etwas wie ein gemeinsames Vokabular der Praxistheorie(n) herauszufiltern (vgl. etwa Reckwitz 2003).
Soziale Praktiken sind in dieser Perspektive die Grundeinheit des Sozialen und meinen letztlich wiederholte, (teilweise) routinisierte und von individuellen Eigenheiten unabhängige Handlungsmuster menschlicher Körper, die sich zum einen auf „praktisches Wissen“ (Hörning 2001) – also Wissen über Handlungsabläufe, damit verbundene Kompetenzen, Erwartungen und Einschätzungen – beziehen, zum anderen in mehrfacher Hinsicht materiell verankert sind (über den Körper, aber auch über Artefakte und, so meine ich zumindest, räumliche Kontexte) und sich vielfach auch auf andere Personen beziehen. Der Unterschied zur Handlung ist die fehlende Annahme unbedingter Intentionalität (der Anteil an Routine und Wiederholung), zum anderen das Mithineinnehmen des materiellen und körperlichen Kontextes in die Theorie. Praktiken sind aber auch nicht behavioristisch (Reiz-Reaktions-Schema), sondern nehmen Wahrnehmungen, Interpretationsarbeiten und letzlich auch Diskurse als Teile der an die Praktiken gebundenen Wissensordnung ebenfalls mit in die Theorie hinein. Giddens begründet sowohl die Zentralität sozialer Praktiken für das Soziale (s.u.) als auch die Möglichkeit eines nur teilbewussten „Handelns“; er geht davon aus, dass Menschen, wenn sie tatsächlich, wie es etwa die Rational-Choice-TheoretikerInnen annehmen, jederzeit bewusste Entscheidungen treffen würden, nicht mehr zum Handeln kommen würden. Stattdessen findet der größte Teil des Handelns – nämlich der, der problemlos und in bekannten Bahnen verläuft – routinisiert statt und ist nur „halb-bewusst“; das Bewusstsein überwacht diese Handlungsvollzüge und wird erst dann aktiviert, wenn es zu tatsächlichem Entscheidungsbedarf kommt, etwa beim Lernen neuer Praktiken oder beim „Routinebruch“, wenn also die an das Ergebnis einer Routinehandlung gestellten Erwartungen nicht erfüllt werden. Schlichtes Beispiel: Wäsche wird in die Waschmaschine gefüllt, diese wird geschlossen, aber die Tür will nicht zugehen. Jetzt muss von Routine auf bewusstes Handeln umgeschaltet werden, um herauszufinden, was mit dieser Tür falsch ist.
Praktiken können sowohl als abstrakte Einheit (practice-as-coordinated-entity) betrachtet werden, als auch – ich nenne das dann Praxisvollzug – als die konkrete Umsetzung dieser abstrakten Einheit (practice-as-performance). Um eine abstrakte Praktik tatsächlich in konkreten Praxisvollzug umzusetzen, ist nicht nur ein menschlicher Akteur erforderlich, sondern – im Sinne von Latour, Michael oder Haraway – ein hybrides Netzwerk aus Mensch, Dingen, Meinungen, das erst im Zusammenwirken die Praktik tragen kann (Shove et al. 2007). Damit kommt auch Dingen in begrenztem Maße agency – also Handlungsträgerschaft – zu; auf die Implikationen davon möchte ich jetzt aber nicht weiter eingehen.
Relativ offen ist, wo die Grenzen der Praktiken liegen: wo endet eine Praktik, wo beginnt eine andere, wieso erkennen wir ähnliche, aber nicht-identische Praktiken (vgl. auch Warde 2005)? Zudem scheinen Praktiken verschiedener „Körnung“ ineinander verschachtelt zu sein. Das könnte als „fraktaler Charakter“ sozialer Praktiken bezeichnet werden, oder es kann unterschieden werden zwischen basalen Praktiken, die immer wieder eingesetzt werden können, und übergreifenden Praktiken, die sich aus basalen Praktiken zusammensetzen. Warde (2005: 135) führt dazu eine von Schatzki eingebrachte Unterscheidung an: „dispersed practices“ im Sinne eines Regelvollzugs oder im Sinne der basalen Praktiken, und „integrative practices“, die Sphären oder Domänen des Lebens konstitutieren (und sich aus anderen Praktiken zusammensetzen). Ein Beispiel für eine (sehr) basale Praktik wäre das praktische Wissen darum, wie eine Waschmaschinentür geöffnet wird, ein Beispiel für eine schon stärker integrierte Praktik das „Wäschewaschen“. Shove et al. sprechen quer dazu auch von „Projekten“, d.h. einen längeren Zeitraum übergreifen
Strittig ist, wie dynamisch Praktiken sind (vgl. Hörning 2004): ob sie eher dazu führen, dass Veränderungen unterbleiben (ich würde z.B. Bourdieus Habitus-Konzept eher so lesen), oder ob in ihnen bereits der Kern der Veränderung liegt, weil soziale Strukturen und Strukturierungen ihre Wirkung erst im Praxisvollzug entfalten (Hörning geht m.E. eher in diese Richtung), und weil sie immer wieder an neue Situationen angepasst werden müssen, um stabil zu bleiben (Warde 2005: 141). Hinzu kommen Generationenkämpfe (ebenfalls Warde), d.h. die etablierten Regeln werden von denen, die sie für sich neu entdecken und lernen müssen, in Frage gestellt.
Die soziale Welt besteht in der praxistheoretischen Perspektive aus einer Vielzahl ineinandergreifender Praktiken, die sowohl als „Praxisfluß“ betrachtet werden können, d.h. zeitlich betrachtet das Leben eines Menschen in eine Vielzahl nachfolgender, teilweise paralleler Praktiken aufspaltet, als auch als immer wieder kehrende Kreisläufe von Praktiken, an denen jeweils unterschiedliche Menschen partizipieren, und so zur Reproduktion, zum Erhalt und möglicherweise auch zur Veränderung sozialer Strukturierungen beitragen. Aus dem ersten Blickwinkel heraus finden sich Verknüpfungen zwischen Praktiken und individuellen Lebensstilen (wobei Praxistheorie durchaus offen für Konzepte ist, die einem Individuum eine Vielzahl unterschiedlicher, situationsabhängiger „Stile“ zuschreibt, vgl. Hörning 2001 oder Warde 2005; andererseits können auch die menschlichen Träger ähnlicher Praktiken zu alltagsästhetisch differenzierten Milieus zusammengefasst werden, vgl. neben Bourdieu auch Flaig et al. 1993). Aus der zweiten Perspektive heraus interessieren eher die Unterschiede innerhalb der Praktiken (vgl. Warde 2005), d.h. die Frage, in welcher Form (insider, regular, tourist, stranger) und abhängig von welchen (mit sozialem Status gekoppelten) Ressourcen Individuen an Praktiken teilhaben.
Zuletzt noch einmal der Hinweis auf den Status der Dinge in der Praxistheorie (Hörning 2001; Shove et al. 2007; Wieser 2004): der entscheidende Mehrwert von Praxistheorie gegenüber anderen kulturalistischen Ansätzen liegt m.E. darin, dass hier Materialität – sowohl temporal moderiert im Blick auf den Praxisvollzug als auch bezogen auf die Rolle, die Dinge für den Praxisvollzug spielen – ernst genommen wird. Wie ich unten zeigen möchte, liegt hier der entscheidende Punkt für ihre umweltsoziologische Anschlussfähigkeit. Auch in Bezug auf die Dinge – darauf machen Shove et al. (2007) aufmerksam – geht es bei Praxistheorie eben nicht in erster Linie um symbolische Bedeutungen, sondern um tatsächliche Funktionen. Hörning (2001) unterscheidet ebenfalls verschiedene Aspekte des Umgangs mit den Dingen – neben der ästhetisch-expressiven Ebene gibt es eben auch kommunikative und „praktische“, instrumentelle Ebenen des Dinggebrauchs. Manchmal ist ein Auto auch nur ein Fahrzeug, um von A nach B zu kommen. Das schöne an Praxistheorie ist, das beides mit hineingenommen wird: es bleibt bewusst, dass Dinge, technische Artefakte, mehr als nur Funktion und technische Rationalität sind (hier steht eine klare Abgrenzung zu älteren techniksoziologischen Auffassungen), es wird aber auch nicht konsum- oder kultursoziologisch der praktische Nutzen mit dem Kinde aus dem Bad ausgeschüttet, sondern dies bleibt konstitutiver Teil der Praktiken. Sowohl bei Hörning wie auch bei Shove et al. finden sich einige Beispiele, die diese (auch methodologische) Balance zwischen Kulturbedeutung der Dinge und Instrumentalität schön illustrieren.
Literatur
Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Flaig, Berthold Bodo / Meyer, Thomas / Ueltzhöffer, Jörg (1993): Alltagsästhetik und politische Kultur. Zur ästhetischen Dimension politischer Bildung und politischer Kommunikation. Bonn: Dietz.
Giddens, Anthony (1992): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt/New York: Campus.
Hörning, Karl H. (2001): Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Hörning, Karl H. (2004): »Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung. Ein Erkenntnis- und Theorieproblem«, in ders. / Reuter, Julia (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: Transcript, S. 19–39.
Michael, Mike (2000): Reconnecting Culture, Technology and Nature: From Society to Heterogeneity. London: Routledge.
Reckwitz, Andreas (2003): »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive«, in Zeitschrift für Soziologie, 32. Jg., H. 4, S. 282–301.
Shove, Elizabeth / Watson, Matthew / Hand, Martin / Ingram, Jack (2007): The Design of Everyday Life. Oxford/New York: Berg.
Warde, Alan (2005): »Consumption and Theories of Practice«, in Journal of Consumer Culture, vol. 5, no. 2, pp. 131–153.
Wieser, Matthias (2004): »Inmitten der Dinge. Zum Verhältnis von sozialen Praktiken und Artefakten«, in Hörning, Karl H. / Reuter, Julia (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: Transcript, S. 92–107.
2 Antworten auf „Notizen zu Praxistheorie und Umweltverhalten, Teil I“